Die hässlichste Fabrik Serbiens: Das letzte Bisschen Grenze zu Ungarn

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Die hässlichste Fabrik Serbiens: Das letzte Bisschen Grenze zu Ungarn

Wir waren in Nordserbien, wo Flüchtlinge in einer aufgelassenen und zugemüllten Backsteinfabrik leben. Es ist die letzte, traurige Station vor Europa.

Fotos von Maarten Boswijk

Ibrahim wurde vor wenigen Stunden ausgeraubt, als er sich das erste Mal wieder an einem müden Lächeln versucht. Es sieht gequält aus und wird nicht sehr lange anhalten. Die Augen des 20-Jährigen sind gerötet und geschwollen. Er sagt, dass das vom Shampoo kommt, mit dem er sich gerade geduscht hat. Es ist ein grünes „Kopriva ph-neutral" Gel der Marke Novo und wurde gestern von Mitarbeitern des Roten Kreuzes verteilt. Die Dusche liegt auf der anderen Straßenseite und besteht aus einem alten Schlauch und Holzpaletten, die im Schlamm versinken.

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Ibrahim blickt nach rechts, wo die Hauptstadt Belgrad liegt und er hergekommen ist und nach links, wo Ungarn und Europa auf ihn warten. Dann überquert er die Straße und betritt ein letztes Mal vor seiner Abreise das Areal der Backsteinfabrik.

Subotica ist die fünftgrößte Stadt Serbiens. Sie liegt zehn Kilometer vor der ungarischen Grenze und hat knapp 96.500 Einwohner. Keine andere Stadt in Serbien ist so multiethnisch geprägt wie Subotica, weswegen sie in den 80er-Jahren auch als „Stadt der Toleranz" bekannt war. Wer mit Ibrahim spricht, weiß, dass das nicht mehr stimmt. Denn würde Europas Asylpolitik an den Außengrenzen funktionieren, dann müsste es so einen Ort wie die Backsteinfabrik nicht geben.

Tausende Flüchtlinge aus Syrien, Pakistan und Afghanistan stranden täglich in kleinen Bauerndörfern namens Horgoš, Palić, Kanjiža oder Kelebija am nördlichsten Zipfel Serbiens. Sie wissen, dass sie fast am Ziel sind und nehmen deswegen alle Strapazen auf sich: Bei Wind und Wetter entlang der Autobahnen nach Budapest gehen, vor überfüllten Auffanglagern schlafen, in der Dunkelheit über Bahngleise stolpern und von korrupten Grenzpolizisten und skrupellosen Schlepperbanden bedroht und bestohlen werden.

Sie alle wissen, dass jetzt die entscheidenden 24 Stunden kommen werden. Das erste Mal stolpern sie nicht einfach nur blind weiter, sondern legen sich einen Plan zurecht, wie in der letzten Halbzeit eines Fußballmatches. Alles ist entscheidend: Was nehmen wir mit? Wem vertrauen wir uns an? Gehen wir in der Nacht oder bei Tag los? Nirgendwo ist man Europa so nahe und doch so fern wie hier.

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Zurück zu Ibrahim in der Fabrik. Er ist mit seinem besten Freund Abbas über die Balkan-Route bis hierher geflüchtet. Sie möchten nach Deutschland, um dort fertig zu studieren. Am Bahnhof von Subotica sind sie aus einem Zug von Belgrad kommend gestiegen.

Bevor sie überhaupt den Mund aufmachen konnten, mussten sie auch schon weiter. Es waren keine Sozialarbeiter oder freiwilligen Helfer, die sie empfingen, sondern die genervten Taxi-Fahrer der Stadt . „Raus aus dem Zentrum, denn hier könnt ihr nicht bleiben", sind Sätze, die sie hier als erstes gehört haben.

Das Wort, das am Vorplatz des Bahnhofes von Subotica jedoch mit Abstand am Öftesten fällt, ist „Cigla". Beide Seiten verstehen es: Die Taxi-Fahrer und die Flüchtlinge. Es ist der Ort, wo Ibrahim und Abbas heute ihre letzte Nacht verbringen werden. „Cigla" bedeutet auf Serbisch so viel wie Backstein.

Der Turm, in dem man früher die Ziegel verbrannt hat und die Baracken, wo sie gelagert wurden, sind dreckig und verwahrlost. „Seit Jahren ist diese Fabrik nicht mehr in Betrieb", sagt ein serbischer Obdachloser, der früher hier gearbeitet und seither mit Hunderten Flüchtlingen hier gelebt hat. Im Inneren ist es so dreckig, dass man die Campingzelte lieber im Freien aufstellt.

Einige ruhen sich in Schlafsäcken zwischen rostigen Gerätschaften aus. Sie wollen noch heute los und sammeln ihre Kräfte. Es gibt weder Mistkübel noch fließendes Wasser. Die grünen Shampoo-Flaschen, die auch Ibrahim benutzt hat, liegen überall am Boden verstreut. Daneben stapelt sich der Dreck, den Tausende Menschen auf der Durchreise zurückgelassen haben. Es ist ein Ort, um den sich niemand wirklich zu kümmern scheint. Dabei trudeln hier täglich bis zu 300 neue Menschen ein.

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„Wer ist zuständig für diesen Ort?", fragen wir Milimir Vujadinović. Er ist Stadtrat für Soziales in Subotica und sagt, dass er weiß, wie es sich anfühlt, ein Getriebener zu sein. Während der Jugoslawienkriege kam er in den 90er-Jahren als bosnischer Flüchtling nach Serbien.

Er hat die Fabrik mehr als einmal mit eigenen Augen gesehen und muss doch wegschauen: „Der private Besitzer müsste das Gelände verkaufen. Dann könnte die Regierung in Belgrad darüber entscheiden, ob dort ein offizielles Flüchtlingsheim entstehen kann", sagt er. Das ist auch der Grund, warum es an diesem Ort noch immer kein fließendes Wasser gibt. Die Stadtregierung ist nicht befugt, dort Wasserleitungen zu legen.

„Wer kümmert sich um diesen Ort?", fragen wir Milimir Vujadinović. Die Antwort führt uns zum Chefsanitäter des Roten Kreuzes in Subotica, der im Hinterhof eine Zigarette raucht. Er zeigt auf einen Rot-Kreuz Wagen der dort parkt und sagt: „Das ist das einzige Auto, das meine Sanitäter für Subotica zur Verfügung haben." Von hier sind es nur drei Kilometer bis zur Backsteinfabrik, aber die Sanitäter sind heillos überfordert.

Der Chefsanitäter erzählt von der Situation im Winter: „Unsere Suppenküchen haben nicht einmal für die eigene Bevölkerung gereicht. Und dann kamen noch die Flüchtlingsströme dazu." Trotzdem versucht man täglich mit Wasserflaschen und Essenspaketen in der Fabrik auszuhelfen. Aber die traurige Wahrheit ist: Wenn die Zahl der Ankömmlinge steigt, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie ohne ausländische Hilfe nicht in der Lage sein werden, eine humanitäre Katastrophe in der Fabrik zu vermeiden.

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Die Zahlen sprechen dafür: Noch nie sind so viele Flüchtlinge über den Balkan in die EU geströmt wie heute. In den letzten fünf Jahren haben sich die Zahlen von 2370 auf 60.602 erhöht. Täglich kommen bis zu 3.000 Menschen über Mazedonien nach Serbien. Allein im August haben 50.000 Fliehende vom Osten die ungarische Grenze passiert. Im September sind mehrere Tausend täglich, die von Serbien nach Röszke und von hier weiter in den Westen wollen. Ungarn ist das neue Tor zur EU. Und Serbien ist so etwas wie der illegale, dreckige Hinterhof: Niemand will lange dort bleiben und jeder schaut weg.

Ibrahim ist inzwischen im Vorhof der Fabrik angekommen und stellt uns seinen Freunden vor: Ein Grüppchen aus vielleicht zehn bis zwölf jungen Männern, die sich die Zeit mit Kricket vertreiben. Sie spielen mit einem Holzbrett, dass sie aus dem Verschlag gerissen haben und einem kleinen Plastikball. Einige schleppen einen großen Topf heran, wo Gemüse gekocht werden soll.

Die Stimmung ist friedlich aber angespannt: Eine Horde Einzelgänger, die versucht sich im Rudel gemeinsam abzulenken. Ibrahim schläft weit hinten im Gebüsch: Überall liegt der Müll, den seine Vorgänger zurückgelassen haben. Hinter der Fabrik erstreckt sich ein etwa zwei Kilometer langer Streifen aus Gräsern, Trampelpfaden und Schilf, den die Flüchtlinge „Dschungel" nennen.

Er wird auf der einen Seite von einer Müllhalde und der anderen von offenen Feldern eingegrenzt. „In der Nacht möchtest du nicht alleine im Dschungel unterwegs sein", sagt Sabi. Er ist ein Schauspieler aus Subotica und kommt hier gelegentlich vorbei, um Wasser, Decken und Zelte zu spenden.

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„Was macht diesen Ort gefährlicher als andere vor der Grenze?", fragen wir ihn. Es ist ein wolkenverhangener Nachmittag und wir stapfen durch den „Dschungel". Sabi hat viele Antworten. Er deutet auf einen verkohlten Baumstumpf und verschrumpelte Plastikplanen zu seiner Rechten:

„Hier hat die Polizei im Winter bewusst Zelte niedergebrannt, um die Flüchtlinge vom Areal der Fabrik zu vertreiben", sagt er. Zusätzlich kommt es zu hitzigen Gefechten zwischen Afghanen und Syrer. Oder serbische Landstreicher, „Gypsys" genannt, überfallen die Lager für ihre Zwecke.

Genau das ist Ibrahim letzte Nacht zugestoßen. Er sitzt vor seinem Zelt und ist erneut den Tränen nahe. All sein Erspartes und sein Smartphone haben die „Gypsys" mitgehen lassen. „Sie waren bewaffnet und haben sich als Polizisten ausgegeben", erzählt Freund Abbas.

MOTHERBOARD: Deshalb sind Smartphones für Fliehende so wichtig

Wer auf sich alleine gestellt ist und in der Nacht nach Ungarn flüchten will, braucht entweder eine große Summe Geld für die Schlepper oder ein Handy mit GPS und Zusatz-Akku.

Man stelle sich vor, man möchte einen Berg besteigen und ist dabei, die letzte Wand vor dem Gipfelkreuz zu erklimmen. Und dann fällt einem auf, dass man das Seil vergessen hat. So ging es Ibrahim in dieser Nacht.

„Wie geht es jetzt weiter?", fragen wir ihn. Er zuckt die Schultern. „Weißt du, dass an der Grenze ein Stacheldrahtzaun steht?" Das erste Mal bricht er unerwartet in lautes Lachen aus. Belustigt zeigt er seinen Freunden die rasiermesserscharfen Klingen am Foto, das wir Tage zuvor unter Aufsicht des ungarischen Militärs geschossen hatten. Und erst dann verstehen wir: Jemanden der seit Monaten auf der Flucht ist, werden drei Rollen Nato-Draht nicht aufhalten.

Franziska auf Twitter: @Franziska_Tsch

Mehr Fotos von Maarten Boswijk findet ihr auf seiner Website.