Drogen

Das MDMA-Hausboot, auf dem Ex-Soldaten gegen ihr Kriegstrauma kämpften

Mitte der 2000er Jahre wurde das Zuhause des britischen Soldaten Ben Timberlake zum psychedelischen Zufluchtsort vieler traumatisierter Kameraden.
Vier Soldaten stehen in voller Montur in der irakischen Wüste und blicken in die Kamera; einer von ihnen ist Ben Timberlake, der zu Hause in London auf seinem Hausboot traumatisierten Kameraden mit MDMA gegen posttraumatische Belastungsstörungen half
Alle Fotos: bereitgestellt von Ben Timberlake

Zwischen 2003 und 2008 gab es für Ben Timberlake nur zwei Welten: Wenn der britische Soldat nicht gerade in verschiedenen Kriegsgebieten an der Front kämpfte, öffnete er sein Hausboot auf der Themse für seine Kameradinnen und Kameraden. So wurde Timberlakes Zuhause zum Treffpunkt einer inoffiziellen Therapiegruppe, in der man vor allem auf MDMA setzte.

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Dutzende Soldaten, die gerade aus dem Irak oder Afghanistan zurückgekehrt waren, schauten auf dem Hausboot vorbei und verbrachten dort den Tag mit Köchen, Kellnerinnen, Doku-Produzenten und anderen Menschen, die gerade in der Gegend waren und Langeweile hatten. Alle Anwesenden schmissen ihr Geld in einen Topf, damit man eine ausreichende Menge Drogen besorgen konnte. "Der Stoff wurde dann in Schüsseln verteilt, jeder durfte sich bedienen", sagt Timberlake heute. "Wir waren komplett drauf."

Es habe aber eine Regel gegeben: "Die Dosen mussten am besten bis neun Uhr, aber auf jeden Fall vor zwölf Uhr mittags drin sein", sagt Timberlake. Das war eine Vorsichtsmaßnahme: Wenn die Drogen wirkten, begannen die Soldaten oft, von ihren Erfahrungen zu erzählen – und einige der Geschichten seien so "nervenzerfetzend schlimm" gewesen, dass es den Anwesenden ganz anders wurde. Timberlake habe einfach nicht gewollt, dass solche Geschichten nachts erzählt werden.  

Auf einer Holzlatte im Irak ist der Satz "This is the worst vacation ever!" zu lesen

Dieses Foto hat Timberlake im Irak geschossen

Der inzwischen 47-jährige Timberlake sagt, dass er anfangs noch geglaubt habe, dass die düsteren Geschichten aus den Kriegsgebieten die Stimmung auf dem Boot ruinieren würden. Er habe ja nicht noch mal das durchleben wollen, was er und seine Kameraden an der Front durchmachen mussten. Irgendwann habe er aber verstanden, wie erleichternd das Ganze war.

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"Posttraumatische Belastungsstörungen bringen eine ganze Menge an schrecklichen Symptomen mit sich, die sich alle um eine oder mehrere traumatische Erfahrungen drehen. Jede noch so kleine Erinnerung kann eine heftige Kampf-oder-Flucht-Reaktion auslösen", sagt Timberlake. "MDMA ist da eine wunderbare Hilfe. Wenn du auf genug MDMA bist, fürchtest du dich vor nichts mehr. Dann kannst du locker über solche Sachen reden." 

Soldaten, die von ihren Kriegserlebnissen schwer traumatisiert und von ihren Regierungen enttäuscht waren, hätten auf dem Hausboot einen befreienden Zufluchtsort gefunden. Das deckt sich mit aktuellen Forschungsergebnissen: Die MDMA-gestützte Therapie für posttraumatische Belastungsstörungen kommt immer mehr im Mainstream an, in den USA könnte das Ganze beispielsweise Ende 2023 von der Arzneimittel-Zulassungsbehörde freigegeben werden.

Von der Nahtoderfahrung an die Front

Drogen – sowohl während als auch abseits des Kriegs – sind ein wichtiger Bestandteil von Timberlakes kürzlich erschienenen Memoiren High Risk, in denen er von einem Leben voller Extreme erzählt: 

An Heiligabend 2006 verteilte Timberlake im irakischen Ramadi demnach mehrere Tabletten Ecstasy an US-amerikanische Soldaten, die wegen ihrer misslichen Lage total niedergeschlagen waren. Schon bald standen sie alle ganz aufgedreht zusammen auf einem Hausdach und feuerten mit ihren Waffen auf die umliegenden leerstehenden Häuser. Und als die Nacht langsam endete, umarmten sie sich, wünschten sich frohe Weihnachten und hörten zu, wie ein Soldat "Stille Nacht" sang.

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Timberlake ist auch heute noch in Kriegsgebieten unterwegs, inzwischen aber als Sicherheitsberater und Sanitäter. Aufgewachsen ist der Sohn eines US-amerikanischen Journalisten in London, mit 18 Jahren reiste er nach Jugoslawien, um über den Balkankrieg zu berichten. Dort wurde Timberlake in einer Bar fast vom Anführer einer rechtsradikalen paramilitärischen Kampftruppe aus Kroatien umgebracht. Nachdem besagter Anführer den Mann neben Timberlake erschossen hatte, entschied er sich allerdings dazu, mit dem jungen Briten lieber zu feiern und "Don't worry, be happy" zu singen.

Der durch diese Nahtoderfahrung verursachte Adrenalinrausch prägte Timberlake. Nach seinem Uniabschluss und mehreren Gelegenheitsjobs ging er direkt zu Beginn des Kriegs in den Irak, um dort die Geschichte eines britischen Soldaten zu recherchieren, der mehrere irakische Zivilisten getötet haben soll. Inspiriert von den Fähigkeiten der Spezialeinheiten der britischen Armee stellte sich Timberlake mit Ende 20 dann dem Test der "Special Air Service"-Einheit (SAS) und bestand diesen entgegen seiner Erwartungen.

Ein britischer Soldat steht in der irakischen Stadt Ramadi auf einem matschigen Feld und wünscht per Zettelbotschaft frohe Weihnachten

Timberlake im irakischen Ramadi

Als Soldat im Irak bekam Timberlake dann direkt mit, wie Drogen an der Front eingesetzt werden, damit die Soldaten immer weiterarbeiten: "Bei den US-Soldaten gab es Provigil, Adderall und viele andere hochwertige Aufputschmittel, die die Ärzte wie Süßigkeiten verteilten. Wir Briten mussten uns mit Pro Plus abgeben", sagt er.

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"Sie taten alles, damit die Leute auf Zack blieben. Die US-Amerikaner hatten echt krasse Arbeitszeiten, in jedem Raum roch es nach Kaffee", sagt Timberlake. Die Frage sei nun, ob Ex-Soldaten bald vor Gericht ziehen werden. Er könne sich nämlich vorstellen, dass man eher an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet, wenn man ein traumatisches Ereignis auf Stimulanzien mitbekommt. 

"Was im Irak ebenfalls häufig die Runde machte, waren Steroide – wenn auch eher in den größeren Militärbasen und bei den Angestellten privater Militärfirmen, die den ganzen Tag nur Hanteln stemmten und gut aussehen wollten", sagt Timberlake. Steroide machten einen aber nur verdammt aggressiv, wenn man eigentlich nicht aggressiv sein sollte. Wenn irgendjemand das Auto einer irakischen Familie mit Kugeln durchsiebte, seien häufig Steroide im Spiel gewesen, sagt Timberlake. 

Die ambivalente Rolle von Drogen im Krieg

Egal ob Wikinger, die auf Pilzen in die Schlacht zogen, oder die Nazis auf Meth, Drogen haben im Krieg schon immer eine Rolle gespielt. Timberlakes Buch basiert dabei auf der Vorstellung des "posttraumatischen Wachstum" – also dass man sich nach dem Durchleben traumatischer Ereignisse erholt, daran wächst und so neue Kraftreserven und Stabilität findet.

Dieses Konzept scheint Timberlake dazu motiviert zu haben, sich bewusst in Situationen zu begeben, die viele andere Leute meiden würden. So geht es in High Risk um mehr als nur die Kriegsgeschichten. Inspiriert von einem SAS-Kameraden, dessen Vater dreißig Jahre lang drogenabhängig war, habe sich Timberlake absichtlich in die Heroinsucht abgleiten lassen, um "den Boden des Abgrunds zu berühren". Und obwohl er Heroin laut eigener Aussage "eher langweilig" gefunden habe, reiste Timberlake dennoch in den Nahen Osten, um die Sucht zu besiegen. Dort habe er dann laut seinem Buch eine Menge Crystal Meth geraucht und sei fast von der islamischen Religionspolizei getötet worden, weil er Pornos verkauft habe.

Für die Soldaten vom Hausboot und für Timberlake selbst haben Drogen zuerst die Tür zu einem schrecklichen Krieg geöffnet. Aber dann boten sie ihnen auch einen Ausweg und die Möglichkeit, den Horror des Schlachtfelds richtig zu verarbeiten und hinter sich zu lassen.

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