Links der Podcaster und Psychologe Lukas Klaschinski in einem blauen Hemd. Rechts die Psychologin Stefanie Stahl in rot gekleidet
Lukas Klaschinski und Stefanie Stahl | Foto mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt
Menschen

Genervt von deiner Situationship? Du bist nicht allein

Die beiden Psychologieprofis Stefanie Stahl und Lukas Klaschinski wissen Rat und erklären uns eine der vielleicht anstrengendsten Beziehungsformen.

Stefanie Stahl und Lukas Klaschinski sind gut darin, sich in Menschen und deren Beziehungen hineinzuversetzen. Die Psychotherapeutin Stefanie Stahl hat mehrere Bestseller über psychologische Alltagsthemen geschrieben, der Psychologe Lukas Klaschinski klärt seit acht Jahren Beziehungsfragen im Podcast Beste Freundinnen. Und miteinander besprechen sie im Podcast So bin ich eben die Probleme von "Normalgestörten". Deshalb schienen die beiden uns ideal, um eine Beziehungsform zu erklären, die meistens nicht mal die Menschen erklären können, die sie selbst führen: Situationships.

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VICE: Wie würdet ihr eine Situationship definieren?
Lukas Klaschinski:
Eine Situationship liegt genau zwischen einer romantischen Beziehung und einer Freundschaft Plus. Der genaue Beziehungsstatus ist unklar, aber es sind Gefühle im Spiel. Dieser Zustand ist ganz schön viel für das menschliche Gehirn, weil man sich immer fragt, was eigentlich Sache ist. Die Situationship kann die Vorstufe von einer Beziehung sein, aber oft geht sie in die Brüche, weil sich einer von beiden nach einigen Wochen zurückzieht und denkt: "Ach, die andere Person ist ja total involviert. Da schalte ich mal lieber einen Gang zurück und ziehe mich aus der Nummer raus."

Sind Situationships nur ein Großstadt-Ding?
Lukas Klaschinski:
Das kommt überall vor, aber Großstädte bieten die größere Auswahl an Menschen. Das nennt man Choice Overload. Bei einer prall gefüllten Käsetheke fällt die Wahl schwer. Auf dem Dorf ist es vielleicht so, dass es nur drei Käsesorten gibt. Wenn man einen gefunden hat, der schmeckt, kauft man eben den. In Berlin gibt es aber diese riesige Fülle an Käse – also Menschen – und es entsteht die Illusion, dass man immer jemand Besseres findet. 

Stefanie Stahl: Ich glaube aber, dass sich besonders Menschen mit Bindungsängsten dieser Illusion hingeben. Menschen mit einem gesunden Bindungsverhältnis verlieben sich auch bei einem großen Angebot irgendwann und legen sich dann fest. Oder sie kaufen einen Käse, wie du sagen würdest. 

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Also haben Menschen, die sich von Situationship zu Situationship hangeln, wahrscheinlich Bindungsängste?
Stefanie Stahl:
Ja. 

Wie entstehen Bindungsängste? 
Stefanie Stahl:
Menschen mit Bindungsängsten haben in ihrer Kindheit keine sicheren Bindungen zu ihren Eltern erfahren. Für Kinder sind Bindungen aber überlebenswichtig. Sie können schließlich nicht für sich selbst sorgen. Wenn ein Kind keine sichere Bindung erfährt, fühlt sich das deswegen wie Todesangst an. Bindungsängstliche Menschen wollen um jeden Preis vermeiden, dieses Gefühl noch einmal zu erfahren. Sie verlassen sich deshalb lieber nur noch auf sich selbst.

Weil ihnen diese Bindung fehlt, haben diese Menschen oft kein gutes Selbstwertgefühl und denken, dass sie nicht liebenswert sind. Wenn dann jemand eine Beziehung mit ihnen möchte, denken sie: "Wenn ich will, dass du mich wirklich liebst, muss ich all deine Erwartungen erfüllen, sonst trennst du dich von mir." 

Also haben Menschen mit Bindungsängsten eigentlich Verlustängste? 
Stefanie Stahl:
Viele. Aber viele spüren diese Verlustangst gar nicht so, im Gegenteil. Die spüren an der Oberfläche die Druckgefühle und erst wenn ich richtig tief mit denen in ihre Psyche eintauche, tritt die Verlustangst zutage. Im tiefsten Inneren denken diese Menschen, dass sie, so wie sie sind, nicht geliebt werden können, und ziehen sich lieber zurück. 

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Wie konnte sich diese Art von Beziehung so etablieren?
Stefanie Stahl:
Etwa 40 Prozent der deutschen Bevölkerung sind nicht bindungssicher. Das ist eine relativ hohe Zahl. Dazu kommt, dass wir heutzutage viel weniger gesellschaftliche Normen haben. Das gesellschaftliche Korsett, das es noch vor 30 Jahren gab – Heiraten, Familie gründen, Haus bauen – wird immer lockerer oder ist eigentlich gar nicht mehr vorhanden. Es war früher gesellschaftlich eher nicht möglich, solche Situationships zu führen. Heute aber schon.

Für bindungsängstliche Menschen ist das natürlich schön einfach. Aber hinter der festen Beziehung steckt ein Millionen Jahre altes evolutionäres Programm. Das können auch der gesellschaftliche und kulturelle Umschwung nicht so einfach aushebeln. Diese ganze Unverbindlichkeit ist eigentlich ganz schön nervig, finde ich.

Warum lassen sich Menschen, die sich eigentlich nach festen Beziehungen sehnen, überhaupt auf Situationships ein?
Lukas Klaschinski:
Menschen gehen da nicht mit logischem Verstand heran, sondern mit Emotionen. Und dann gibt es immer noch die Hoffnung, die zuletzt stirbt. Unsichere Beziehungen lösen hormonell außerdem die größten Reize aus. Bei diesen Ups and Downs wird sehr viel Dopamin ausgeschüttet und davon wollen Menschen so viel wie möglich. 

Und warum lassen sich Menschen, die gar nicht an einer Bindung interessiert sind, auf Situationships ein?
Stefanie Stahl:
Auch Menschen mit Bindungsängsten haben ein generelles Bindungsbedürfnis. Es zählt zu unseren vier psychischen Grundbedürfnissen, die genetisch tief in uns verankert sind. Das ist auch bei Menschen mit Bindungsangst nicht abgestorben. Also bei den wenigsten. Es gibt auch Menschen, die so traumatisiert sind, dass sie kein Bindungsbedürfnis mehr haben. Oder sie haben nie eins entwickelt, weil sie darin schon in den ersten zwei Lebensjahren schwer verstört worden sind und sich gewisse Gehirnstrukturen gar nicht ausbilden konnten. Der durchschnittliche Bindungsängstliche sehnt sich aber trotz seiner Ängste auch nach Bindung.

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Das klingt total anstrengend. 
Lukas Klaschinski:
Mega anstrengend. Steffi, warum guckst du mich so an?

Stefanie Stahl: Ja, dann plauder mal los, Lukas. Wie ist es, Bindungsängste zu haben?

Da knüpfe ich direkt mal an. Lukas, du erzählst in deinem Podcast Beste Freundinnen oft selbst von deinen Situationships und Bindungsängsten. Warum therapierst du dich nicht einfach selbst?
Lukas Klaschinski:
Ich bin auf dem Weg. Das ist ein Prozess, der Ängste in mir auslöst. Deshalb zieht er sich und ist nicht einfach. Mein Problem in der Vergangenheit war – und das klingt vielleicht ein bisschen merkwürdig –, dass ich mich zu Frauen hingezogen fühlte, die mich im Verhalten an meine Mutter erinnern. Und das geht ganz vielen Menschen so. Mein Verstand weiß, dass diese Frauen gar nicht zu mir passen, aber sie fühlen sich für mich vertraut an.

Du erkennst rational direkt, dass sie eigentlich nicht zu dir passen?
Lukas Klaschinski:
Ich erkenne es, aber es fällt mir schwer, danach zu handeln. Ich muss quasi mein ganzes inneres System umprogrammieren. Ich muss mir ganz klar machen, dass die Frau, die wirklich mit mir zusammen sein möchte, besser für mich ist, als die Frau, die immer fünf Minuten vor unserem Date das Treffen absagt und mich denken lässt: "OK, jetzt muss ich ihr beweisen, dass ich toll bin, damit sie das nächste Treffen nicht auch wieder absagt."

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Warum will man überhaupt mit den eigenen Eltern zusammen sein? 
Lukas Klaschinski:
Menschen suchen immer nach einem Zuhausegefühl. Auch wenn wir zu Hause etwas kennengelernt haben, das gar nicht gesund ist, bleibt es trotzdem unser Zuhause. Wenn wir als Kind eine unsichere Bindung zu unserer Mutter hatten, suchen wir diese Bindung auch als Erwachsener. Solche Bindungen kennen wir. Außerdem können wir dann im zweiten Anlauf doch noch beweisen, dass wir liebenswert sind. So nach dem Motto: Das, was ich bei meinen Eltern nicht geschafft habe, hole ich jetzt nach. Dann bekomme ich doch noch mein Happy End. 

Stefanie Stahl: Dieses Verhalten nennen wir in der Psychologie Wiederholungszwang. 

Und suchen Töchter immer nach ihren Vätern und Söhne immer nach ihren Müttern?
Stefanie Stahl:
Nein, nicht unbedingt. Viele Frauen arbeiten sich an ihrer Mutter ab und viele Männer an ihren Vätern.

Lukas Klaschinski: Bei mir sind es eigentlich Mutter und Vater. In meinem Zuhause habe ich nur Zuneigung bekommen, wenn ich etwas gut gemacht habe. Ich musste also immer etwas leisten. Und solange es besser möglich war, war gut nicht gut genug. Wenn ich meinem Vater heute erzähle: "Papa, ich habe jetzt 20 Mitarbeiter in der Firma, ist das nicht toll?", sagt er: "Ja, aber 30 wären noch besser." Ich versuche mir heute einzutrichtern, dass ich gut bin, wie ich bin. Egal, was meine Eltern sagen. Mein Wert als Mensch hängt nicht vom Urteil meines Vaters ab. Wenn das nach und nach in mich einsickert, kann ich das auch in Beziehungen zu anderen Menschen anwenden. Ich weiß, dass ich wertvoll bin, wenn ich etwas gut mache, wenn ich verkacke, wenn ich gute Laune habe oder wenn ich schlechte Laune habe. 

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Gehst du beim Dating von Anfang an offen damit um, dass du Bindungsängste hast?
Lukas Klaschinski:
Wenn ich von Anfang an weiß, dass ich mit der Frau keine Beziehung eingehen möchte, sage ich das auch von Anfang an. 

Stefanie Stahl: Und wenn du eine Frau wirklich gut findest?

Lukas Klaschinski: Dann sage ich nicht direkt zu Beginn, dass ich Bindungsängste habe. Da verbaue ich mir ja eine ernsthafte Chance bei ihr. Ich bilde mir ja heimlich ein, die Bindungsängste mit der richtigen Frau beheben zu können. Wenn ich dann in eine Beziehung komme, stellt sich diese Annahme manchmal als falsch heraus.

"Es liegt nicht an dir, es liegt an mir"?
Lukas Klaschinski:
Der Spruch ist tatsächlich sehr typisch für bindungsängstliche Menschen. Sie wollen unter keinen Umständen ein unangenehmes Gefühl in ihrem Gegenüber auslösen und fühlen sich komplett verantwortlich für die Stimmung des Anderen. Wie bei Mama und Papa früher. Aber mit ihrem Vermeidungsverhalten lösen sie eben genau diese schlechten Gefühle in anderen Menschen aus. 

Warum arbeitest du dann nicht erst einmal an dir und startest erst dann etwas mit Frauen?
Lukas Klaschinski:
Ich arbeite ja an mir und ich bin mir sicher, dass ich heute schon viel weniger Schmerz kreiere als früher. Ich gebe mein Bestes, aber das ist eben ein langer Weg.

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Stefanie, wie gehst du in der Therapie mit bindungsängstlichen Menschen um?
Stefanie Stahl:
Ich versuche, die Person dahin zu führen, dass sie ihr eigentliches Problem erkennt. Nämlich ihren mangelnden Selbstwert. Sie muss annehmen, dass sie bedingungslos gut ist, wie sie ist. Wenn das gelingt, kann sie sich auch in romantischen Beziehungen behaupten. Ohne diese Voraussetzungen hat ein bindungsängstlicher Mensch immer das Gefühl, dass nur er allein wirklich seine Bedürfnisse erfüllen kann. 

Wie wird man selbstbewusster?
Stefanie Stahl: Auch wenn die Eltern nichts Böses beabsichtigt haben: Man muss sich von ihren ungesunden Botschaften distanzieren. Lukas hatte zum Beispiel immer das Gefühl, dass er etwas leisten muss. Die Liebe seiner Eltern war an diese Bedingung geknüpft. 

Dieses Gefühl, dass man für die fehlende Bindung verantwortlich ist, muss man eigentlich innerlich an seine Eltern zurückgeben und ihnen sagen: Ihr wart daran schuld, ihr hattet Defizite und ich war total OK, genau so wie ich war. 

Also müssen Menschen zuerst die Beziehung zu ihren Eltern reparieren, bevor sie funktionierende Beziehung führen können?
Stefanie Stahl:
Den Umkehrschluss würde ich so direkt nicht ziehen. Es gibt auch viele Menschen, die kein gesundes Selbstwertgefühl haben und trotzdem gute Beziehungen führen können. Aber die Menschen, die aufgrund von Erlebnissen aus ihrer Kindheit entweder klammern oder sich schnell distanzieren, müssen schon zuerst an ihrem Selbstwert arbeiten.  Grundsätzlich ist das nicht nur gut für sie selbst, sondern auch für ihre Umwelt. 

Lukas Klaschinski: Dann wäre so mancher Diktator vielleicht nicht in den Krieg gegen ein anderes Land gezogen.

Hat Putin nicht genug Liebe von seinen Eltern bekommen?
Stefanie Stahl:
Der ist tatsächlich psychisch verwahrlost aufgewachsen und wurde in seiner Kindheit komplett traumatisiert. 

Da kann er einem ja fast leidtun. Für welchen Typ Mensch sind Situationships ideal?
Lukas Klaschinski:
Für den unsicheren Typ Mensch. 

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