Leipziger Ultras wurden – schon wieder – von der Polizei abgehört, weil sie eine kriminelle Vereinigung sein sollen
Fans der BSG Chemie Leipzig || Foto: imago | Picture Point

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Leipziger Ultras wurden – schon wieder – von der Polizei abgehört, weil sie eine kriminelle Vereinigung sein sollen

Bei 921 Telefonanschlüssen wurde mitgehört, darunter auch Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Anwälte und Journalisten. Einige hatten das Gleiche schon vor zwei Jahren erlebt.

Um ein Gesamtbild der Geschichte zu bekommen, muss man im Herbst 2016 anfangen: Stell dir vor, du machst morgens deinen Briefkasten auf und findest einen Brief der Generalstaatsanwaltschaft Dresden. In sachlichem Behördentonfall wird dir mitgeteilt, dass das gegen dich gerichtete Ermittlungsverfahren wegen "Bildung krimineller Vereinigungen" mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurde.

Während du dich noch fragst, was das bedeuten soll, ruft bereits deine Tante an. Auch sie hat Post aus Dresden bekommen. Als Betreff steht auch bei ihr in fetten Buchstaben "Ermittlungsverfahren gegen (dein Name) wegen des Tatvorwurfs der Bildung krimineller Vereinigungen". Man möchte sie in Kenntnis setzen, dass sie in besagtem Verfahren gegen dich "Drittbetroffene" der Telekommunikationsüberwachung sei – also eure gemeinsamen Telefonate abgehört wurden. Wegen ähnlicher Schreiben wirst du am folgenden Montag von Vorgesetzten und Arbeitskolleginnen mit der Geschichte konfrontiert. Auch deine Hausärztin, weitere Familienmitglieder und zahlreiche Bekannte haben Post bekommen, die dafür sorgt, dass du auf einmal erklären sollst, was du selbst noch gar nicht richtig einordnen kannst.

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So schildern Betroffene eines Ermittlungsverfahrens, das sich zwischen 2013 und 2016 ausführlich auf Leipziger Subkulturen konzentriert hat, die ersten Tage nach Bekanntwerden der sächsischen Polizeiarbeit. Und fast genauso hat es sich vor wenigen Wochen wiederholt.

Es dauert damals noch einige Tage, bis das gesamte Ausmaß ersichtlich wird. Gegen insgesamt 14 Personen wurde wegen des Tatvorwurfs der Bildung krimineller Vereinigungen ermittelt. Über mehrere Monate hinweg hat die sächsische Justiz insgesamt 31 Telefonanschlüsse überwacht und Hunderte Gespräche mitgehört, ebensoviele SMS mitgelesen und alles genauestens archiviert. Mehr als 200 weitere Personen waren sogenannte "Drittbetroffene" des Verfahrens – also Personen, gegen die nicht einmal ein Anfangsverdacht bestand, deren Kommunikation aber im Rahmen des Verfahrens erfasst wurde. Viele von ihnen wurden von der Staatsanwaltschaft darüber in Kenntnis gesetzt, als diese den Fall zu den Akten legte.

Der Fall wurde damals zu einem lokalen Skandal, denn unter den abgehörten Drittbetroffenen waren mehrere Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Anwälte oder Journalisten. Und auch Sebastian K., der Fan-Sozialarbeiter des Regionalligisten BSG Chemie Leipzig, gehörte zum Kreis der Verdächtigen. Laut Akten rückte ihn wohl ausgerechnet sein "Arbeitsschwerpunkt auf sozialpädagogischer Betreuung jugendlicher Fußballfans" in den Fokus der Ermittlungen. Selbst eine von ihm organisierte Bildungsfahrt der Fans in den sächsischen Landtag soll sich in den Ermittlungsakten finden. Die Ermittlungen wurden im Nachgang vor allem mit Fans des Regionallisten assoziiert, auch wenn die damaligen Beschuldigten, abgesehen von der Tatsache, im Leipziger Süden zu leben, der traditionell als links gilt, keineswegs eindeutig auf einen Nenner zu bringen waren und sich bei einem Betroffenentreffen erstmals gleichzeitig in einem Raum befanden. Hier hätte die Geschichte eigentlich mit einem begründeten Kopfschütteln enden können, auch wenn die parlamentarische Aufarbeitung keineswegs abgeschlossen ist. Der sächsische Landtag hat sich bisher mehrfach mit den Ermittlungen auseinandersetzen müssen.

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Nun haben im Juni 2018 allerdings erneut zahlreiche Leipziger Post von der Generalstaatsanwaltschaft bekommen. Diesmal wurden sogar 25 Personen, die diesmal tatsächlich eindeutig der Fanszene um die BSG Chemie Leipzig zuzurechnen sind, in Kenntnis gesetzt, dass ein Ermittlungsverfahren nach Paragraph 129 gegen sie eingestellt wurde. Und auch die Zahl der Drittbetroffenen ist diesmal deutlich höher: Bei 921 Telefonanschlüssen wurde im Zuge dessen mitgehört, aktuell wurden 355 der Betroffenen bereits per Brief informiert, dass Gespräche mit ihnen keineswegs privat blieben. Auch diesmal finden sich erneut Berufsgeheimnisträger unter den Abgehörten.

"Wirklich? Schon wieder!" überschreibt angesichts solcher Parallelen das Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig seine Pressemitteilung zu den aktuellen Vorfällen. Auch für mindestens drei Beschuldigte aus dem ersten Verfahren scheint dies die passende Reaktion zu sein. Schließlich haben sie nun im Abstand von knapp zwei Jahren zweimal ein identisches Schreiben erhalten, nur das Datum und der Namen des unterzeichnenden Staatsanwaltes sind anders. Nach Einstellung des ersten Verfahrens haben die Ermittlungsbehörden, wie nun bekannt geworden ist, sie in den darauffolgenden Monaten in einem zweiten Verfahren weiterhin beobachtet.

Brief der Generalstaatsanwaltschaft Dresden aus dem Jahr 2016

Brief der Generalstaatsanwaltschaft Dresden aus dem Jahr 2018

Hat die Staatsanwaltschaft also mangels Ergebnissen die ursprünglichen Ermittlungen einfach ausgeweitet? Und welche Straftaten wirft man der gesuchten kriminellen Vereinigung eigentlich vor? Nachfrage bei Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein in Dresden. Ursächlich für den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung sind laut ihm verschiedene Körperverletzungsdelikte im Jahr 2014, die immer nach "sehr ähnlichem Muster" begangen worden seien. Dabei haben "mehrere schwarz gekleidete und vermummte Personen, in immer gleicher Weise, vermeintlich politisch rechts stehende Personen angegriffen". Da diese Vorfälle in einer zeitlichen Nähe zu Spielen der BSG Chemie stattgefunden hätten, habe man die "Täter im Umfeld der Fanszene" vermutet.

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Inwiefern es bei der Aufklärung von Straftaten hilfreich ist, wenn Jahre später Telefone abgehört werden oder warum man dann erst 2016 das Augenmerk auf die Ultras legte, bleibt ebenso unklar wie die Frage, ob es denn auch aktuellere Straftaten gibt, die darauf hindeuten, dass eine kriminelle Vereinigung weiterhin aktiv ist. Aus diesen Gründen werden beide Verfahren von der Leipziger Fanszene vor allem als "Strukturermittlung" gesehen, die Einblicke in Abläufe und Prozesse des "organisierten Fan-Daseins" liefern soll. In einem offiziellen Statement äußert die Vereinsführung von BSG Chemie den Verdacht, "hier würden strafrechtliche Ermittlungen vorgeschoben, um sich ein genaues Bild über Strukturen und Kontakte prinzipiell friedlicher Fußballfans und einer vermuteten 'alternativen Szene' generell machen zu können".


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Wie gründlich die Ermittlungsbehörden vorgingen, zeigte sich bereits im ersten Verfahren, als die Betroffenen Akteneinsicht erhielten. "In meinem Fall waren das 18.000 Seiten Protokolle, voll mit allem, was im Alltag kommuniziert wird. Organisatorisches, private Gespräche mit der Freundin, einfach jede bedeutungslose Kleinigkeit", berichtet Alfred*, der auch im aktuellen Verfahren abgehört wurde und bereits Akteneinsicht beantragt hat, auch wenn er davon nicht viel erwartet. "2016 ging mir das noch mehr an die Substanz. Mittlerweile war ich fast nicht überrascht und kann nur noch mit den Schultern zucken." Auch Jonas*, der Auswärtsfahrten organisiert und anscheinend deshalb nun ins Visier der Ermittler gerückt ist, schüttelt nur den Kopf, wenn es darum geht, was alles aufgezeichnet wurde und als Hinweis für kriminelle Machenschaften dienen sollte. "Wir wurden für unsere Flüchtlingsprojekte mit verschiedenen Demokratiepreisen ausgezeichnet. Die Arbeit für ebendiese Projekte dient nun anscheinend als Beleg für kriminelle Strukturen. Das ist doch absurd", sagt er.

Vor allem die Art, in der Drittbetroffene über das Verfahren in Kenntnis gesetzt wurden, sehen beide Betroffene als "bewusste Schikane" der Behörden. "Die werden schon gezielt an die Stellen versendet, an denen es Konsequenzen haben kann. Arbeitgeber und so weiter. Meine Freundin hat hingegen keine Info bekommen. Meine Eltern im ersten Verfahren auch nicht, diesmal dann schon", berichtet Alfred. Tatsächlich findet sich erst im letzten Absatz der Hinweis, dass "das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten […] mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurde". Und bis zu dem lesen viele Empfänger vielleicht nicht mal. "Welcher Eindruck bei einem solchen Schreiben auf den ersten Blick hängenbleibt, ist doch klar. Ich muss dann immer erklären, was da tatsächlich passiert ist", erzählt Jonas.

Aufklärungsarbeit betreiben die betroffenen Fans auch im größeren Rahmen. Mit der Kampagne "129 Freunde" will die Leipziger Ultra-Gruppierung Diablos aufklären, "was hinter den Ermittlungen steckt, wer aus welchem Grund und wie überwacht wurde und warum die Vorwürfe falsch waren und sind". Im ersten Beitrag werden als mögliche Gründe für die Überwachung Treffen angeführt, "bei denen wir Choreografien und Auswärtsfahrten genauso besprechen wie Hilfe für den Verein", oder die Kommunikation per Rund-SMS, die "als Beleg für unsere geheime und kriminelle Vorgehensweise gewertet wird".

Dass dies nicht die letzte Episode der Geschichte ist, davon ist Alfred überzeugt: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass da im Hintergrund schon das nächste Verfahren läuft. Anscheinend hat Dresden etwas gegen Freiräume, die wir uns in Leipzig erarbeitet haben." Die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Die Linke) hat bereits eine Anfrage an die Staatsregierung gestellt, um herauszufinden, wie weit die Überwachungsmaßnahmen im aktuellen Fall tatsächlich gingen. Eine Antwort steht aktuell noch aus. Bereits 2016, nachdem das erste Verfahren öffentlich wurde, antwortete Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow auf eine parlamentarische Anfrage der Linken, dass zum damaligen Zeitpunkt noch sechs weitere Ermittlungsverfahren wegen Bildung krimineller Vereinigungen im Freistaat Sachsen liefen. Nähere Angaben zu den einzelnen Untersuchungen machte er dabei nicht. Es scheint also nicht ganz unwahrscheinlich, dass demnächst noch mehr Menschen in Leipzig Post von der Staatsanwaltschaft Dresden bekommen.

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