Warum diese Künstlerin mit ihrem Umschnalldildo in Berliner Clubs geht
Alle Fotos: Rebecca Rütten

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Warum diese Künstlerin mit ihrem Umschnalldildo in Berliner Clubs geht

Selin liebt schwule Männer und Schwänze so sehr, dass sie selbst einen trägt. Mit ihren Performances will sie Penisautokraten wie Trump und Putin stürzen.

Wenn du in Berlin zur Party CockTail d'Amore gehen willst, musst du zwei bis drei Stunden anstehen, bevor du an der Tür bist. Dann sitzt da Selin, mustert dich und fragt: "Kennst du die Party? Weißt du, wer spielt? Wer sind deine Freunde?" Dann reißt sie vielleicht noch einen kleinen Witz. Schließlich fällt sie ihre Entscheidung. "Ein Typ, den ich abgewiesen habe, hat mich mal 'schwanzlos' genannt. Da habe ich meinen Schwanz auf den Tisch gehauen und plötzlich war er ruhig."

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Selbst zwischen all den schrägen Vögeln des Berliner Nachtlebens zieht Selin die Blicke auf sich. Sie trägt ihren Strap-on so selbstverständlich im Club wie andere ihre Glitzerleggins oder den schwarzen Sport-BH. Doch der Umschnalldildo ist mehr als nur das Zepter in ihrem Nebenjob als Selektorin an der Clubtür: Wenn Selin als Performance-Künstlerin "Miss Nipple" auf die Bühne tritt, schwingt sie den künstlichen Phallus, um damit die Autokraten, Demagogen und Ideologen lächerlich zu machen, um Klischees zu penetrieren und Geschlechterrollen aufzubrechen.

Für den Schwanz braucht Selin keinen Mann

Selin hat sich schon früh als queere Frau beziehungsweise Mädchen begriffen. Sie ist in der Türkei aufgewachsen, pendelte zwischen Mutter und Vater, zwischen Ankara und Istanbul. In ihrer Kindheit stand sie auf kitschige Filme, Musicals und Typen wie David Bowie, in der Schule verteidigte sie Mitschüler, die als "schwul" beleidigt und gemobbt wurden. Als sie später begann auszugehen, hat sie es sogar in einen Istanbuler Schwulenclub geschafft, in den sonst nur Männer Zutritt haben. Das Personal hatte gemerkt, dass Selin immer heiße Typen im Schlepptau hat.


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Nach Berlin ist Selin vor zwei Jahren gezogen. Auch hier ist sie meist umgeben von schwulen Männern: Die haben sie und ihren Schwanz in ihrer Mitte akzeptiert. Sie sagt, mit den meisten Männern, die auf Frauen stehen, könne sie nichts anfangen, zu antifeministisch, zu ichbezogen seien die. "Ich habe den Schwanz begehrt, aber den Mann abgelehnt. Ich musste also den Phallus selbst tragen." Heute besitzt sie ein breites Dildo-Arsenal, das zu ausgewählten Anlässen zum Einsatz kommt: von anatomischen Penisnachbildungen mit fetten Venen bis hin zu einer roten Silikonhand.

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Selin als "Dildogan" bei der "Miss Nipple Show" im Juni

Für mehr Sex sorgt ihr Anhängsel allerdings nur bedingt. "Ich habe 15 boyfriends, aber keiner davon fickt mich", lacht Selin. Schwule Männer schlafen eben vorrangig mit schwulen Männern. Trotzdem liebt sie ihre Freunde abgöttisch, ist fasziniert von ihrer Hingabe, ihrer Selbstdisziplin und ihrer Fähigkeit, sich fallenzulassen. "Fag Hags" werden solche Frauen oft abwertend genannt. Selin hat sich den Begriff angeeignet und neu besetzt, auf Instagram heißt sie @radicalized_faghag.

Die erste queere PoC-Diktatorin der Welt

Selins zweite große Liebe sind die Worte. In der "Miss Nipple Show" nimmt sie das Vokabular der Trumps und Putins dieser Welt und münzt es um auf die Begrifflichkeiten von Grindr-Chemsex-Partys, aktueller Gendertheorie und der Fake-Glamourwelt des Reality TV. "Dildogan" heißt eine ihrer Figuren: Die "weltweit erste queere PoC-Diktatorin" kämpft ohne Gnade gegen die selfiegeile "Douchebag Elite Terror örganisation", kurz: DETö. Als Schlachtfelder benennt sie dabei nicht Kobane, nicht Charlottesville, sondern H&M, Starbucks und McFit. Auch hier immer mit dabei: ihr Strap-on.

Es ist ein Dienstagabend im Juni, Dildogan tritt beim Finale der zweiten Show-Staffel des Südblocks auf die Bühne. Das queere Kulturzentrum am Kottbusser Tor platzt aus allen Nähten. Die Diktatorin glitzert. Ihre Perücke, die Sternchenaufkleber auf ihren entblößten Brüsten und ihr Kleid sind aus Goldfasern. Das Kleid ist oben heruntergerollt, unten lugt ein beige-farbener Dildo hervor. Vier Typen sitzen schwitzend neben ihr, einer hat sein Shirt schon ausgezogen und zeigt uns seine behaarte Brust. In seinem Schoß ruht ein Gewehr, auf seinem Kopf thront eine kleine Armeekappe. Wirklich gefährlich sieht er nicht aus.

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Dildogan sei nicht nur gekommen, um die Gäste über die Wahrheit hinter dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei aufzuklären, sondern um sie die Tyrannei lieben zu lehren. Als ersten Vertrauensbeweis sollen einige Anwesende Selins Phallus küssen. Einer der vier Co-Darsteller stürmt plötzlich die Szenerie. Im Anzug und mit erhobener Waffe spielt er den adrett gekleideten, jungen Attentäter, der im Dezember 2016 den russischen Botschafter in der Türkei, Andrej Karlow, erschossen hat. Selin und ihr Dildo können ihn schließlich stoppen. Später doziert sie: "Toxic masculinity is chemical warfare."

"Mir geht es darum, autoritäre Rhetorik queer umzuschreiben, das ist eine emanzipative Strategie für mich", sagt Selin über die Performance. Ihr gefielen der Humor und der Kitsch, den sie in Drag nutzen könne, während sie gleichzeitig extrem feminin bleibe. Sie sagt aber auch: "Wer bei mir nicht lacht, der wird in die letzte Reihe versetzt." Da ist sie ganz Diktatorin.

"Der Anus ist der Ort, an dem das Licht in jeden von uns eindringt"

Am Anfang von "Miss Nipple" stand allerdings nicht die Politik, sondern Gott. Selins erster Charakter ist "Houri" gewesen – die erste weibliche Prophetin nur für schwule Männer, "the last prophet to cum". Es handelte sich um eine Parodie auf den türkischen Prediger Adnan Oktar und seine "feministische" Sekte. In deren eigener TV-Show sieht man Oktar umgeben von mehrfach schönheitsoperierten Frauen, die alle gleich aussehen, ihm aufmerksam lauschen und Tänze aufführen. Als Selin die Sendung einmal mit einer Freundin schaute, meinte diese: "Babe, das ist wie bei dir und deinen Schwulen."

Ganz die Di(c)ktatorin: Selin bei der "TRRRNNY"-Party im Mai

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In den heiligen Büchern aller monolithischen Religionen hat Selin dann den "Sündenpfuhl" des schwulen Party-Lifestyle Berlins wiedererkannt: "Schwule haben gewissermaßen ihre eigene Religion – das Berghain als Kirche, das Abstimmen ihrer ganzen Wochenendpersönlichkeit auf eine einzelne Berliner Party wie die Herrensauna oder eben CockTail, die harte Disziplin, mit der sie sich selbst optimieren." Also lässt sie Houri predigen, Satan erscheine in Gestalt der "Heteronormativität", der Anus sei "der Ort, an dem das Licht in jeden von uns eindringt", und der Schwanz das höchste Gut dieser Religion. Doch damit nicht genug: "Schwule Männer beweisen die Existenz Gottes. Wie könnten sie sonst so schön sein?"

Die Clubtür als queerer Studienplatz

Tagsüber, wenn Selin nur Selin ist, studiert sie Kunst, liest aktuelle Gendertheorie und diskutiert mit den Mitbewohnern ihrer kommunistischen Kommune im Osten Berlins. Sie sagt, feministische Schriften hätten sie inspiriert, Donna Haraways Cyborg Manifesto, aber auch die Arbeiten anderer Künstlerinnen wie der österreichischen Aktivistin Valie Export.

Einmal im Monat macht Selin den Einlass bei der CockTail, eine Schicht samstagnachts, eine zweite am frühen Sonntagabend. Am Tag der August-Ausgabe der Party begrüßt sie die Gäste als römische Liebesgöttin Venus – mit einer Plüschschlange als "Meta-Phallus" vor dem Schritt. Gekuschelt wird aber nicht an der Tür, im Gegenteil: Selin muss dafür sorgen, dass sich drinnen alle wohl und sicher fühlen, während sie sich schweißnass auf die überfüllte Tanzfläche drängen oder im Clubgarten am Ufer des Neuköllner Schifffahrtskanal herumlümmeln.

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Schlange vor der Schlange: Selin an der CockTail-Tür

Immer wieder kommt es dabei vor, dass sich ein Gast beschwert, es gäbe zu viele Frauen auf der Party. Aber Selin sagt, es hätte die mehrere hundert Meter lange Schlange an der CockTail-Tür nie gegeben, wäre das Stammpublikum – die Schwulen, die Bären, aber eben auch die queeren Frauen – nicht immer wiedergekommen. Sie haben die Party populär gemacht.

Einige vorrangig muskelgestählte weiße Schwule wollen dennoch unter sich bleiben – Frauen, Trans*, Intersexuelle, Nichtbinäre und feminine Männer schließt das gleichermaßen aus. Auf ihren Grindr-Profilen suchen diese Männer nach "real men only", im Club lassen sie bisweilen den nötigen Respekt vermissen: Selin sagt, sie fühle sich von manchen Typen wie ein Objekt behandelt, wenn die sie und ihren Strap-on, der direkt über ihrem Schritt sitzt, ungefragt berühren.

Doch an der CockTail-Tür fällt sie ihre Entscheidung nicht nach Gender oder Geschlecht: "Es gibt kein richtig oder falsch. Ich gehe nach Gefühl." Und wer sich nicht benehmen kann, fliegt notfalls raus.

Selin nutzt die Zeit an der Tür als Recherche für ihre nächsten Performances. Wenn die "Miss Nipple Show" im Oktober aus der Sommerpause zurückkehrt, wird es vielleicht einen neuen Charakter geben: "Angela", die "Führerin der freien Welt". Selin hat auch schon eine Idee für deren Wahlprogramm: Sie will, dass wir uns von unseren Identitäten trennen, uns nicht mehr über unsere Herkünfte, Orientierungen, Religionen und dergleichen selbst definieren, sondern über unsere Vorlieben. "Ich bin das, was ich mag. Du bist das, was du magst." Sollte die Figur "Angela" diese Forderung teilen, dürfte aus Selin die Bundeskanzlerin der Herzen und Ärsche werden.

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