Dženan in den Niederlanden, sein Vater kam beim Genozid von Srebrenica ums Leben
Menschen

Dženans Vater starb beim Genozid von Srebrenica

Er war noch ein Baby, als seine Familie aus Bosnien-Herzegowina floh. Dank YouTube weiß Dženan endlich, wie sein Vater aussah.
KJ
Fotos von Karim Jobe
NS
aufgeschrieben von Nina Stefanovski

Dženan Halilović kam 1992 in einem Dorf in der Gemeinde Srebrenica im Osten Bosnien-Herzegowinas zur Welt. Im gleichen Jahr erklärte Bosnien seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Seit dem Tod des autoritären Herrschers Tito 1980 war die Region von ethnischen Spannungen geprägt. Schließlich brach ein Bürgerkrieg aus. Dženans Familie musste fliehen und alles zurücklassen. Auch sein Vater Mirza blieb zurück. "Ich habe keine Erinnerungen an meinen Vater", sagt Dženan, heute 28. "Ich war noch ein Baby, als er starb."

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Bosniens Bevölkerung setzt sich vor allem aus drei ethnischen Gruppen zusammen: den katholischen Kroaten, den muslimischen Bosniaken und den orthodoxen Serben. Als das Land seine Unabhängigkeit erklärte, griffen die in Bosnien lebenden Serben zu den Waffen und riefen ihren eigenen Staat aus, die Republika Srpska. Mithilfe serbischer Truppen vertrieben die Rebellen alle anderen ethnischen Gruppen aus dem Gebiet. Gleichzeitig versuchten bosnische Kroaten mit Unterstützung Kroatiens, das Gebiet im Süden des Landes zu erobern. Während des drei Jahre andauernden Konflikts wurde die Hauptstadt Sarajevo belagert und Zehntausende wurden vertrieben.

Ein verfallenes Haus an einem steilen, grünen Hang

Das Haus von Dženans Familie nach dem Krieg in Potočari, Srebrenica | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Vor 25 Jahren, im Juli 1995, wurden die Stadt Srebrenica und die umliegende Gegend zum Schauplatz des schlimmsten Massakers seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Region war von der UN als Schutzzone erklärt worden, damit die dort lebenden Zivilisten vor einer Offensive der serbischen Armee fliehen konnten. Ein Bataillon niederländischer Blauhelmsoldaten war in Srebrenica stationiert, beschützte die Menschen aber nicht. Innerhalb weniger Tage übernahmen serbische Soldaten die Stadt und befahlen bosnischen Muslimen, ihre Waffen abzugeben. Im Gegenzug würde ihnen nichts passieren.

Dann griffen sie alle Männer zwischen 12 und 77 auf. Innerhalb von fünf Tagen wurden mehr als 8.300 Männer getötet und 23.000 Frauen und Kinder deportiert. Es gibt zahlreiche Berichte über Folterungen und Vergewaltigungen. Auch wenn Serbien die Bezeichnung weiterhin ablehnt, nennen die Vereinten Nationen das Geschehene einen Genozid.

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Zwei ältere Frauen mit Kopftuch, eine jüngere Frau und drei Kinder posieren in einem Zimmer für ein Gruppenfoto

Baby Dženan und seine Familie in einem Flüchtlingsheim in Slowenien | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Eine junge Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm

Dženan und seine Mutter in Slowenien | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Als die Gefechte immer näher kamen, fing Dženans Familie an, sich bei den Nachbarn im Keller zu verstecken. Drei, vier Wochen später hatte der Krieg ihr Dorf erreicht. Dženans Vater war ein Kommandeur der Militärpolizei in Srebrenica. Er hörte von Gräueltaten und entschied sich dazu, seine Frau und seinen neugeborenen Sohn in einem Bus des Roten Kreuzes nach Slowenien zu schicken. Er selbst blieb zurück, um das Dorf zu verteidigen. Außerdem kursierten Gerüchte, dass bosnische Serben an den Checkpoints bosnisch-muslimische Männer exekutierten.

Dženans Familie gelangte schließlich in die Niederlande, wo sie Asyl beantragte. "Wir konnten nicht viel aus Srebrenica mitbringen", sagt Dženan. "Wir haben also nicht viel, was meinem Vater gehörte." Das einzige, was sie von ihm mitbringen konnten, waren Mirzas Gürtel und seine Taschenuhr. Dženan bewahrt sie jetzt in seinem Zimmer auf. Er hat sich immer gefragt, wie sein Vater war. Als Kind suchte er im Internet nach Bildern und Videos von ihm.

Die Hofeinfahrt zu einem großen Bauernhaus

Das Bauernhaus in Brabant im Süden der Niederlande, wo seine Familie lebte | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Fähnchen und ein Willkommensschild an einer Hausfassade

Das Haus verziert mit Willkommensdekoration | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

"Leute, die meinen Vater kannten, sagen mir immer, dass ich sein Ebenbild sei", sagt Dženan. "Das macht sie emotional." Aber es war schwer, Informationen zu finden – es gab so viele widersprüchliche Schilderungen über die Ereignisse. Alles war durcheinander. Schließlich fand er Überlebende, die den Tod seines Vaters mitangesehen hatten. Mit den Informationen, die sie ihm gaben, konnte er seine Suche eingrenzen und fand seinen Vater schließlich in einem YouTube-Video.

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"Als ich das Video anschaute, sah ich mit eigenen Augen, wie ähnlich ich ihm bin", sagt Dženan. In dem Video wird Mirza von einem Journalisten interviewt. Man sieht ihn auch mit anderen Soldaten marschieren. Auch wenn es nicht lang ist, bedeutet das Video Dženan viel. "Ich habe einen Screenshot davon gemacht und ihn in ein Gemälde verwandelt", sagt er. "Wenn ich ins Wohnzimmer gehe, ist das Porträt das erste, was ich sehe."

Über die Jahre hat Dženan viele Menschen getroffen, die seinen Vater kannten und Geschichten von ihm erzählen. "Manchmal schickt mir jemand auf Facebook eine Freundschaftsanfrage und fragt, ob ich Mirzas Sohn bin", sagt er. Leider sind auch andere Familienmitglieder und Freunde im Krieg umgekommen. Darunter auch Dženans Onkel, sein Neffe und die Nachbarn. Das hatte einen großen Einfluss auf die Familie. "Von klein auf siehst du Leute um dich herum, die traurig sind", sagt er. "Alles, worüber sie reden, ist der Krieg." Dženan hat ein sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter. Er ist dankbar, dass sie ihn in Sicherheit gebracht hat. "Ich bin definitiv ein Mamakind", sagt Dženan.

Eine alte Gürtelschnalle mit einem bewaffneten Reiter und einem Bären

Der Gürtel von Dženans Vater | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Eine alte Taschenuhr mit silberner Kette

Die Taschenuhr von Dženans Vater | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Jedes Jahr gedenkt Dženan dem Massaker von Srebrenica, indem er das Denkmal in Den Haag besucht und an dem elf Kilometer langen Friedensmarsch teilnimmt. "Als ich zehn war, habe ich angefangen, Raptexte über meine Kindheit zu schreiben", sagt er. Inzwischen hat er unter dem Namen Mastah D Singles und EPs aufgenommen. Darauf finden sich auch Songs über Srebrenica und seinen Vater.

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Oft reist er nach Srebrenica, um das Grab seines Vaters und die Massengräber zu besuchen. Die schmerzhaften Erinnerungen, die der Krieg hinterlassen hat, seien in Bosnien heute immer noch sichtbar. "Man bemerkt subtile Provokationen", sagt Dženan. Jemand hängt zum Beispiel eine bosnische Flagge aus dem Fenster, und ein anderer hängt eine serbische raus. Manche Leute haben riesige religiöse Tattoos auf dem Rücken und tragen Ketten mit Kreuzen oder Halbmonden. Er glaubt, dass die Ex-Jugoslawinnen und Ex-Jugoslawen, die im Ausland leben, nicht das Bedürfnis haben, ihre Identität derartig zur Schau zu stellen, da sie nicht täglich damit konfrontiert werden.

Ein Bild in Schwarz und Grautönen eines Mannes mit Sonnenbrille

Das Porträt von Dženans Vater | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dženan

Dženan liebt die Erzählungen seine Großmutter über die Zeit vor dem Krieg, als niemand sich wirklich für Religion interessierte. Er findet, dass Kinder die Einzelheiten über den Konflikt lernen sollten, aber auch, dass der Frieden und die Harmonie zwischen den Gemeinschaften ebenso echt waren. "Der größte europäische Genozid seit dem Zweiten Weltkrieg passierte in Srebrenica", sagt Dženan. "Aber junge Menschen in den Niederlanden haben keine Ahnung, was Srebrenica ist – auch wenn es nicht weit von uns entfernt ist."

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