Politik

Warum ich mich als Weißer für andere Weiße schäme

In Sierra Leone werde ich von den Leuten auf der Straße mit "Yessah" angesprochen. Ein über Jahrhunderte glatt geschliffenes "Yes Sir".
Als Weißer lebt man in Westafrika hinter Stacheldraht
Foto: Benjamin Moscovici

Der Kolonialismus mag zwar vorbei sein, die Kolonialherrn aber sind immer noch da. Afrika ist voll von ihnen. Man könnte sagen: Ich bin einer davon.

In den Nachtclubs von Bamako, Bissau oder Banjul werfen sich mir die Frauen an den Hals. Nicht weil ich so gut aussehe, sondern weil ich Weiß bin. Sie hoffen auf ein Ticket nach Europa. Und Prostituierte wissen, dass Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ein vielfaches der lokalen Preise zahlen. 30 Euro die Nacht. Manche sogar mehr.

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Seit anderthalb Jahren lebe ich als freier Reporter in Westafrika. Ich bin weder reich, noch kutschiert mich ein Chauffeur von A nach B. Trotzdem werde ich in Sierra Leone von den Leuten auf der Straße mit "Yessah" angesprochen. Ein über Jahrhunderte glatt geschliffenes "Yes Sir".

Oder in Guinea. Da kam ich eines Tages nach einem Interview mit dem ersten schwarzen CEO der wichtigsten Firma des Landes aus dem Sheraton Hotel. Auf dem Weg zu seinem nagelneuen schwarzen Mercedes Geländewagen spricht uns ein Bettler an. Wie selbstverständlich wendet er sich an mich, den jungen Journalisten, der mit gebügeltem Hemd über die abgeranzten Schuhe und die leicht fleckige Hose hinwegzutäuschen versucht.

Neben mir Kemoko Touré in einem sehr edel bestickten afrikanischen Oberteil und einer eleganten Hose. Im Auto spreche ich ihn auf die Szene an. "Ja", sagt er. Es sei verletzend, wenn man sein ganzes Leben in hohen Funktionen in der Wirtschaft in Europa gearbeitet habe, zum Karriereende als CEO einer Bergbaufirma zurück in die Heimat komme und die Leute auf der Straße immer noch einen beliebigen Weißen automatisch für reicher halten.


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Sklaverei und Kolonialismus haben die Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen tief in den Köpfen der Menschen verankert. Aber das Bild vom unendlich überlegenen Weißen wird auch heute noch gepflegt. In Liberia oder Mali weiß man nicht, was Hartz IV ist, hat nie mit obdachlosen Rumänen am Kölner Hauptbahnhof gesprochen oder im Winter in Berlin den Kältebus angerufen, weil ein Junkie barfuß in irgendeinem Hauseingang pennt. Das Bild vom Weißen hier ist geprägt von Scarlett Johansson, Eminem und Messi. Und: von Entwicklungshelferinnen und Helfern.

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Wir Weißen bilden uns vielleicht nicht mehr ein, eine Herrenrasse zu sein, dafür stellen wir jetzt eine Herrenklasse.

Es ist ein tragisches Dilemma: In internationalen Hilfsorganisationen arbeiten junge Menschen, die sich für die Ärmsten der Armen einsetzen, die für Gerechtigkeit kämpfen, und die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen. Menschen, die mit den besten Absichten nach Afrika kommen – und die dann, ob sie das nun wollen oder nicht, in denselben antiquierten Machtverhältnissen landen, die es im Kolonialismus schon gab. Die Tropenhelme mögen in der Mottenkiste verschwunden sein. Der Stil mag sich verändert haben, die Machtverhältnisse zwischen Schwarzen und Weißen dagegen kaum. Wir Weißen bilden uns vielleicht nicht mehr ein, eine Herrenrasse zu sein, dafür stellen wir jetzt eine Herrenklasse.

Die Wahrheit ist: In weiten Teilen Afrikas leben Weiße und Schwarze auch 2019 noch in völlig getrennten Welten. Ein Grund sind Sicherheitsbedenken. Wer will schon fürs Welternährungsprogramm oder das Rote Kreuz nach Mali oder in den Tschad, wenn dort im letzten halben Jahr drei Mitarbeiter entführt oder getötet wurden? Deshalb entwickeln die Organisationen Sicherheitsrichtlinien und Verhaltensvorschriften, die die Mitarbeitenden schützen sollen. Diese Regeln sind auch ein Goldener Käfig. Je gefährlicher die Situation vor Ort, umso kleiner der Käfig.

Einige NGO-Mitarbeitende sind verpflichtet auf gesicherten Compounds zu leben, andere dürfen privat wohnen, müssen aber rund um die Uhr bewaffnetes Sicherheitspersonal vor der Tür stehen haben. Manche dürfen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zu Fuß unterwegs sein, anderen ist es verboten, einen bestimmten Radius um ihren Compound zu verlassen. Öffentliche Transportmittel, möglicherweise sogar die in vielen Ländern omnipräsenten Motorradtaxis, dürfen die Wenigsten benutzen. Wie soll man da in Kontakt mit den Menschen kommen, deretwegen man da ist?

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Wer als Praktikant nach Westafrika kommt, verdient immer noch mehr als ein durchschnittlicher Westafrikaner.

Eine Rosa Parks-Situation könnte in vielen Ländern Afrikas nie entstehen. Parks weigerte sich 1955 in den USA im Bus aufzustehen, um einem Weißen Platz zu machen. Weiße fahren hier aber nicht Bus. Sie haben weiße Geländewagen und Schwarze Fahrer. Die Hilfsorganisation zahlt.

Ein anderer Grund für die scharfe Trennung der Welten von Weißen und Schwarzen sind die enormen ökonomischen Unterschiede. Wer beispielsweise als Praktikant nach Westafrika kommt und eine Aufwandsentschädigung von 500 Euro erhält, verdient immer noch etwa fünfmal mehr als ein durchschnittlicher Westafrikaner. Wer, und das ist bei einigen Organisationen gar nicht so ganz unüblich, bis zu 10.000 Euro im Monat verdient, bekommt hundertmal mehr als die Menschen um ihn herum.

Das schafft unsichtbare Grenzen. Expats und Locals – früher hätte man Kolonialherren und "Eingeborene" gesagt – wohnen nicht in den gleichen Häusern, essen nicht in den gleichen Restaurants, trinken nicht in den gleichen Bars. Die Segregation ist nach wie vor da.

In der Menschenrechtserklärung heißt es, alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Aber das stimmt natürlich nicht.

In der Menschenrechtserklärung heißt es, alle Menschen seien frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Aber das stimmt natürlich nicht. Es ist das edle Ziel, aber sicher nicht die Realität. Nicht mal vor dem Sensenmann sind wir gleich. Als ich kürzlich in Sierra Leone Malaria hatte, bin ich ins beste Krankenhaus des Landes gegangen. Die Klinik ist auf europäischem Standard, hat aber nur acht Betten. Die Preise sind so hoch, dass kein normaler Mensch sich die Behandlung leisten könnte. Für mich war das egal. Ich hab eine Auslandskrankenversicherung. Wäre es schlimmer geworden, hätte man mich ausgeflogen.

Laut Weltgesundheitsorganisation sterben jedes Jahr fast eine halben Million Menschen an Malaria. Die meisten, weil sie keinen Zugang zu einer vernünftigen medizinischen Versorgung haben. Fast alle Malaria-Toten sind Afrikaner.

Natürlich liegt all das heute nicht mehr ausschließlich an der Hautfarbe. Nicht jeder in dieser Herrenklasse ist Weiß. Es gibt Libanesen, Chinesen und Inder. Und inzwischen gibt es auch eine wachsende Gruppe innerafrikanischer Expats. Menschen aus besser entwickelten Ländern, wie dem Senegal oder der Elfenbeinküste, aus Kenia oder Ruanda, die in den Nachbarländern gut bezahlte Posten in der Wirtschaft übernehmen. Aber als Weißer gehört man bis zum Beweis des Gegenteils automatisch dieser "Herrenklasse" an.

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