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Popkultur

Wie die Türkei fast ihr Internet verlor

Die türkische Regulationsbehörde für Informationstechnik und Kommunikation will Wörter wie „Atem", „Geschichte" und „heiratsfähig" aus dem Internet verbannen.

Die türkische Regulationsbehörde für Informationstechnik und Kommunikation (BTK) versucht seit Jahren, die Bevölkerung davon abzuhalten, sich Drake-Videos auf YouTube anzuschauen. Dieses Jahr haben sie das Ganze noch mal verschärft, indem sie ein Gesetz entwarfen, das eine strengere Filterung der Internetinhalte vorschreibt und die jungen kreativen Schichten der türkischen Bevölkerung zu Protesten inspiriert hat, bei denen sie Banner schwenkten, auf denen Dinge über „sich Modems in den Arsch schieben“ zu lesen waren. Die Demo fand am 15. Mai statt und lockte ca. 50.000 Türken auf die Straße. Es war einer von vielen Kämpfen in dem schier endlosen Krieg, der in der Türkei um die Internetzensur entbrannt ist. Im März 2007 wurde YouTube wegen ein paar Videos, in denen Kemal Atatürk, der Gründungsvater der türkischen Republik, attackiert wurde, gesperrt (und wird seitdem in regelmäßigen Abständen immer wieder mal gesperrt). Unter den 15.000 Websites, die von der wankelmütigen türkischen Regierung gelegentlich ge- und dann wieder entsperrt werden, finden sich: die Website des britischen Atheisten Richard Dawkins, Blogspot, Last.fm und Myspace. Anscheinend gingen die Vorschriften, die die BTK neulich einführen wollten, dann aber doch ein bisschen zu weit. Die Gesetzesvorlage, die am 22. August in Kraft treten sollte, verlangte von Internetanbietern, eine Auswahl von vier obligatorischen Filtern anzubieten: „Familie“, „Kind“, „Heim“ und „Standard“. Die BTK würde dann anhand ihrer elas­tischen Moralvorstellungen entscheiden, welche Seiten unter welchen Filter fallen. Außerdem stellte die BTK eine Liste mit 138 Wörtern zusammen, die nicht mehr in Domainnamen verwendet werden dürfen, und die ein echter Lacher war, weil sich darunter Wörter befanden wie „baldiz“ (was „Schwägerin“ heißt), Adrianne, was wahrscheinlich stellvertretend für „sexy Frau“ stehen soll, ein Wort das natürlich ebenfalls verboten war, ebenso wie „dicklich“, „Atem“, „Geschichte“ und „heiratsfähig“. Das Albernste war allerdings das Verbot des Namens Haydar, ein beliebter Vorname, der in anatolischem Slang aber auch so viel wie „Penis“ bedeutet. Es ist in ungefähr so, als würde eine englische Seite Namen wie Dick, Fanny oder Willie nicht mehr gebrauchen dürfen, oder eine deutsche eben „Eier“, „Latte“ oder „Sack“. Die Leute zogen zu Tausenden mit Transparenten auf die Straßen, auf denen Slogans standen wie „Yes we Ban“, „Finger weg von meinen Links“, „Fass lieber meinen Penis an, statt mein Internet“ und „Anna Nicole Smith wäre traurig, wenn sie das mit ansehen müsste“. Viele von ihnen trugen natürlich Guy-Fawkes-Masken. Die Proteste blieben gewaltfrei, aber Tausende riefen den türkischen Behörden kreative Beschimpfungen zu. Die Demo zog die Aufmerksamkeit der örtlichen und internationalen Medien auf sich, sodass die BTK gezwungen war, die Einführung des Gesetzes auf den 22. November 2011 zu verschieben. Mittlerweile scheint aber niemand mehr im ganzen Land, inklusive der Internetprovider, zu wissen, was die BTK eigentlich will und was man sich in der Türkei noch anschauen darf und was nicht.

Illustration von Sam Taylor