Willkommen zur Photo Issue 2015

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The Photo Issue 2015

Willkommen zur Photo Issue 2015

Die Künstlerinnen und Künstler dieser Ausgabe arbeiten am Schnittpunkt von Fotojournalismus und Kunst. Ihre Ansätze sind vielfältig, doch sie alle schießen Fotos, die der Beliebigkeit etwas entgegenzusetzen haben.

Natürlich sind Fotografen von Natur aus häufig besorgt. Das ist Berufsrisiko, wenn man sein Leben einer Kunstform widmet, die im Großen und Ganzen relativ jung und unsicher ist. Doch die aktuelle Unruhe rührt nicht von der prekären Stellung des Mediums. Die heutige Anspannung ist durchsetzt mit Zweifeln. Sie ist unmittelbarer, weil sie existenzieller ist.

Warum diese Angst? Weil wir uns plötzlich in einer Welt befinden, die in der Zeit, die du gebraucht hast, um diesen Satz zu lesen, Millionen Bilder produziert hat, und wir machen uns Sorgen, dass das schlecht für die Fotografie sein könnte.

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Diese Haltung klingt vielleicht wie typischer Widerstand gegenüber Veränderungen, doch sie ist zu verbreitet, um nur eine mürrische Überreaktion auf den Siegeszug von Instagram, die Allgegenwärtigkeit der Kamera und die Erfindung des Selfie-Sticks zu sein. Ob du dich in einer akademischen Umgebung der Analyse eines kanonischen Bildes widmest oder mit Freunden den besten Filter für einen Social-Media-Post auswählst, die drängende Frage ist dieselbe: „Was passiert mit der Fotografie?" Wir meinen die Antwort zu kennen, und sie ist schlimmer als jede Ungewissheit.

Der Pessimismus ist nachvollziehbar. Es ist irgendwie logisch anzunehmen, dass mehr Bilder—Milliarden über Milliarden mehr—die einzelne Aufnahme weniger besonders oder wertvoll machen. So sind die Gesetze der Wirtschaft: Ein übersättigter Markt drückt den Stückpreis. Und es ist auch logisch zu vermuten, dass die Qualität nicht überall so hoch sein kann, wenn einfach jeder heutzutage Bilder macht und verbreitet. Wenn es keine Kriterien für die Veröffentlichung gibt—außer genug Geld für ein Smartphone—dann ist klar, dass wir eine Flut von Katzenbildern und Sonnenuntergängen sehen. Die fortschreitende Demokratisierung und Verbreitung des Mediums hat offensichtlich ihre Nachteile für alle, die regelmäßig Fotografie betreiben oder betrachten.

Doch wenn wir befürchten, diese Sättigung könne „schlecht für die Fotografie" sein, dann vergessen wir dabei eine der grundlegendsten Funktionen des Mediums. Wenn wir Angst vor mehr Bildern haben, dann vergessen wir, warum großartige Bilder so mächtig und nützlich sein können.

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Stell dir Fotografie—oder genauer gesagt Fotografie als Dokumentationspraktik—mehr als kuratives und nicht so sehr als kreatives Medium vor. Stell es dir vor als eine Reaktion auf etwas, das bereits existiert, und nicht als die Aktion, die etwas Neues erschafft. Dieser Gedanke wurde vielleicht von dem legendären MOMA-Kurator John Szarkowksi am Besten ausgedrückt, als er die Fotografie als „Akt des Deutens" bezeichnete. Stell dir Fotografen und Fotografinnen als Deuter vor.

In dieser visuell überwältigenden Welt sind es die Deuter, die uns helfen, die vielen Bilder zu verstehen, indem sie unsere Aufmerksamkeit steuern. Es ist die Fotografie, ein stilles und unbewegtes Medium des Weniger, die einen unserer großen Bewältigungsmechanismen gegen das chaotische Zuviel der Realität darstellt. Angesichts der unbeschreiblichen visuellen Datenmengen, die jeden Tag erschaffen werden, brauchen wir geübte Deuter mehr denn je. In anderen Worten, je mehr Menschen fotografieren, desto mehr benötigen wir Menschen, die gut fotografieren. Je mehr Fotos es gibt, desto dringender brauchen wir gute Fotos.

Die genossenschaftlich organisierte Fotografen- und Fotoagentur Magnum Photos wurde 1947 gegründet. Die vier Gründungsmitglieder—Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, George Rodger und David „Chim" Seymour—waren traumatisiert von den Gräueltaten des Krieges, aber motiviert von einer Neugier auf alles, das ihn überlebt hatte. Sie gründeten Magnum als eine Gemeinschaft fotografischer Autoren und Autorinnen, vereint in einer Firma, die diese Urheberschaft anerkennen und schützen würde.

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Im Laufe der letzten 68 Jahre hat sich zugleich alles und nichts geändert. Natürlich hat sich Magnum wie die Medienlandschaft im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Keiner der Gründer ist heute noch am Leben. Doch in ihrem Kern war und ist die Genossenschaft nichts als eine Gruppe geübter Deuter. Noch immer ist Magnum ein loser Zusammenschluss von Fotografen und Fotografinnen, vereint von dem gemeinsamen Instinkt, ihr Leben dem Kuratieren der Realität zu widmen und still „SEHT MAL!" zu rufen. Natürlich hat jedes Mitglied seine eigenen Schwerpunkte, Ansichten und Methoden, doch sie teilen sich die Fähigkeit, die Bilder einzufangen, die auf resonanten Frequenzen durch das visuelle Rauschen unserer Welt dringen.

Diese Fotoausgabe, entstanden in Kollaboration mit Magnum, beinhaltet sowohl neue Arbeiten der Magnum-Mitglieder Bruce Gilden, Alec Soth, Bieke Depoorter, Peter van Agtmael und Mikhael Subotzky als auch Fotos von Stipendiaten der Magnum Foundation und von einer Handvoll unserer jungen Lieblingsfotografen und -fotografinnen, die in ihrer Arbeit Fotojournalismus mit Kunst vereinen. Man könnte diese Ausgabe auch „The Documentary Photography Issue" nennen, doch die fotografische Tradition, von der wir sprechen, lässt sich nicht so leicht in klassische Kategorien einordnen, weil sie mehr von ihrer Wirkung als ihrer Absicht definiert wird—du erkennst es, wenn du es siehst.

Vielleicht kann man nach dem Durchblättern dieser Ausgabe etwas weniger besorgt in die Zukunft der Fotografie blicken. Wir müssen nicht händeringend dabei zusehen, wie Milliarden Bilder über unsere Bildschirme flimmern und Angst vor dem kommenden Abgrund haben. Die Welt und unsere Erfahrung dieser Welt werden immer komplexer, und daraus resultiert ein Verlangen nach Einfachheit. Was ist einfacher als ein Foto: eine dünne Scheibe eines Augenblicks, eingefroren in einer Welt, die niemals stillsteht.

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