Martin Kok war dem Tod an diesem Tag schon einmal entronnen. Als der 49-jährige Niederländer, ein verurteilter Verbrecher und erfolgreicher Crime-Blogger, im Dezember 2016 nach einem späten Mittagessen ein Amsterdamer Hotel verließ, lief ein Mann von hinten an ihn heran und richtete aus nächster Nähe eine Pistole auf Koks Kopf.Aber entweder hatte der Attentäter in letzter Sekunde die Nerven verloren oder die Waffe klemmte. Jedenfalls rannte er, ohne einen Schuss abgefeuert zu haben, vom Bürgersteig auf die Straße, stieß dabei fast mit einem Radfahrer zusammen und verschwand in den Straßen Amsterdams. Kok bekam von alledem offenbar nichts mit und ging unbeirrt weiter. Eine Überwachungskamera filmte den Vorfall.
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VICE-Video: Ein verdeckter Ermittler erzählt von seiner Vergangenheit
Keine Frage: Kok hatte Feinde. Auf seiner Website Vlinders Crime schrieb Kok über Bikergangs, marokkanische Drogenbosse und andere Gruppen der Organisierten Kriminalität. Kok war selbst ein Killer. Nach einer Karriere als Koksdealer und zwei Haftstrafen – fünf Jahre für Totschlag, 14 Jahre für Mord – verließ er die kriminelle Laufbahn und begann, selbst über Verbrechen und Gangs zu schreiben. Offenbar ohne Rücksicht auf Konsequenzen.Vor dem Attentat auf der Straße hatte schon jemand auf sein Haus und sein Auto geschossen und eine Bombe unter seinem Auto angebracht. Einem Video der niederländischen Polizei zufolge hatte sie die Sprengkraft von 40 Handgranaten. Passanten entdeckten die Bombe, bevor sie detonieren konnte.Nach dem Essen im Hotel traf sich Kok mit dem Schotten Christopher Hughes. Hughes arbeitete für das Unternehmen MPC, das verschlüsselte Smartphones herstellte. MPC schaltete Anzeigen auf Vlinders Crime und deckte Kok mit Merchandise ein – MPC-Tassen, MPC-T-Shirts. Die Geschäftspartner verbrachten den Abend im Boccaccio, einem Sexclub vor den Toren Amsterdams.Als der Blogger gefolgt von Hughes den Club wieder verließ und auf dem Parkplatz des Boccaccio in seinen weißen Volkswagen Polo stieg, sprang eine Person mit hochgezogener Kapuze aus dem Gebüsch und feuerte in das Auto. Kok wurde mehrfach getroffen und war sofort tot. Hughes soll anschließend einfach vom Tatort weggegangen sein.
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MPC, wie sich herausstellte, war keine normale Handyfirma.
Smartphones mit Geheimtür
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Die verschlüsselten Geräte stellte MPC recht einfach her. Man nahm ein Google Nexus 5 oder 5X Android-Smartphone und spielte hauseigene Sicherheitsfeatures und ein eigenes Betriebssystem drauf, wie das Unternehmen selbst in Werbeanzeigen angab. MPC kreierte anschließend Messenger-Accounts für den Kunden, baute eine Daten-SIM ein, für die MPC etwa 20 Britische Pfund im Monat zahlte, und verkaufte das fertig verschlüsselte Smartphone für 1.200 Pfund. Nach sechs Monaten konnte man das Gerät für 700 Pfund noch einmal auf den neuesten Stand bringen, wusste eine Quelle zu berichten, die mit MPC-Produkten vertraut ist, aber anonym bleiben wollte.MPC verkaufte zwar nur etwa 5.000 Geräte, sagte die Quelle weiter, was dem Unternehmen allerdings um die 6 Millionen Pfund eingebracht haben soll. Auf ihrer Website bot die Firma außerdem sichere Laptops, Tablets und GPS-Tracker an.
Eines Tages im März 2016 erhielt ich per Twitter eine Nachricht von einem MPC-Mitarbeiter. Er fragte, ob ich gegen Bezahlung eines ihrer Geräte reviewen könne. Man würde mir auch eins bereitstellen.Ich lehnte die Bezahlung ab, aber wenn ich mir ihre Produkte anschauen soll, könnten sie mir gerne eins schicken. MPC hat mir zwar nie eins der Smartphones geschickt, aber wir blieben sporadisch in Kontakt. Irgendwann beschwerte sich der Mitarbeiter aus blauem Himmel heraus, dass ein angeblicher Informant versuche, Firmen wie MPC zu infiltrieren.
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"Pass auf bei dem Typ. Wir glauben, dass er ein herumgeisternder Regierungsagent ist, der versucht, sich mit Firmen wie unserer einen guten Ruf zu machen", schrieb der MPC-Mitarbeiter.Selbst in einer Industrie, die sich gerne bedeckt hält, kommt es nicht besonders häufig vor, dass eine PR-Person dich kontaktiert, um dich von einem möglichen Spion zu warnen. Das führt natürlich zu der Frage: Wer zur Hölle steckte hinter MPC?2018 meldete sich eine mysteriöse Quelle bei mir über einen verschlüsselten Messenger. Die Person kam gleich zur Sache und schickte mir Links zu Nachrichtenartikeln über Gangs, die im großen Stil Kokain schmuggeln."Nur als Hinweis, die Leute hinter MPC werden hier genannt", schrieb die Quelle.In keinem der Artikel wurde MPC explizit erwähnt. Dafür ging es um zwei große Drogen- und Waffenschmuggler aus Glasgow, die sich in Portugal versteckten, um einem eskalierenden Bandenkrieg zu entkommen. Von der Algarve aus leiteten sie weiter die Geschäfte."Fürs Erste werden die Gangsterbosse einfach 'Die Brüder' genannt", heißt es in einem portugiesischen Bericht, der zum Teil auf der Arbeit der schottischen Nachrichtenseite The Daily Record basierte.Meine Quelle sagte, dass es sich bei den Brüdern um James und Barry Gillespie handele.Und tatsächlich, diesen Februar stellte die schottische Polizei einen europaweiten Haftbefehl gegen die Gillespie-Brüder, zwei weitere Männer und Christopher Hughes aus, den MPC-Mitarbeiter, der bei Koks Ermordung anwesend war.
Weltweit vernetzt und extrem gewalttätig
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Zwei Quellen zufolge stecken die Brüder hinter MPC. Die Ermittlungen gegen sie laufen inzwischen auch jenseits des Ozeans. 200 Beamte aus Kolumbien, vom FBI und anderen Behörden versuchen, sie ausfindig zu machen. Die schottische Polizei hält regelmäßige Briefings mit FBI und DEA ab."Sei dir bitte darüber im Klaren: Die Verbindungen der Brüder reichen um die ganze Welt und sie sind extrem gewalttätig", sagte eine Person, die mit MPC vertraut ist. VICE kam in Besitz von Firmenunterlagen und sprach mit mehreren Personen, die in dem Bereich tätig sind. Einige von ihnen hatten direkten Kontakt zu MPC. Um die Quellen zu schützen, hat VICE ihnen ihre Anonymität zugesichert.
Escalade – Schottlands gefährlichste Mafia
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Escalades Einsatz von High-End-Anti-Überwachungs-Technologie unterscheidet sie von anderen kriminellen Gruppen. Sie bauten hydraulische Geheimfächer in Autos, in denen sie halbautomatische Waffen aufbewahrten. Wenn sie von der Polizei verfolgt wurden, verwendeten sie offenbar Stör-Equipment gegen Handysignale. Die Gruppe verfügte sogar über ihren eigenen Technologie-Spezialisten.Aber die Gillespie-Brüder benutzten nicht nur ausgefallene Gadgets, sondern erschufen auch die technologische Infrastruktur, die ihre kriminellen Geschäfte erst möglich machte. Dazu gehören auch die verschlüsselten Handys von MPC."Es ist Teil ihres Geschäfts, ein recht cleverer Teil ihres Geschäfts, der sie wahrscheinlich von anderen kriminellen Organisationen unterscheidet", sagte ein Ermittler.Ursprünglich seien die Brüder selbst Kunden gewesen und hätten ihre modifizierten BlackBerry-Smartphones von der Firma Ennetcom gekauft, sagt eine Quelle. Die niederländische Polizei sagt, dass sie Ennetcom mit Morden, bewaffneten Überfällen und Drogenschmuggel in Verbindung bringen konnte.Da die Brüder offenbar ihre Sicherheit nicht in die Hände anderer legen wollten, begannen sie, ihre eigenen verschlüsselten Geräte herzustellen. Sie engagierten Entwickler, die ihnen ein eigenes Betriebssystem bauten. Motherboard konnte anhand von drei Quellen den Namen eines beteiligten Entwicklers erfahren. Die Person reagierte allerdings nicht auf mehrere Kontaktversuche.
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Die Brüder gaben die Geräte anschließend an Gruppen und Einzelpersonen aus, mit denen sie Drogen schmuggelten, berichteten zwei Quellen.Aber es sollte nicht beim Eigengebrauch bleiben. Der Verkauf der Geräte an andere Kriminelle wurde zum eigenen Geschäftszweig.
"Ursprünglich waren sie nur für den internen Gebrauch gedacht, aber dann haben sie eine Marktlücke gesehen und sie gefüllt", sagte eine der Quellen zu VICE.MPC war dabei auch außerhalb Europas aktiv. Eine Quelle spielte VICE das Foto einer MPC-Visitenkarte zu, auf der eine Geschäftsadresse in Dubai und Telefonnummern in den Vereinigten Arabischen Emiraten angegeben waren. Eine andere Quelle, die mit MPC zu tun hatte, gab an, dass die Organisation regelmäßig neue Unternehmen eröffnete, nur um sie kurz darauf wieder aufzulösen. VICE fand mehrere Firmen mit Verbindungen zu MPC im britischen Handelsregister. Einige verwendeten leichte abgeänderte Varianten des Firmennamens, aber alle hatten die gleiche Registrierungsadresse. Andere waren in Amsterdam registriert.Aufgrund dieser Informationen konnte VICE einen MPC-Mitarbeiter identifizieren. Zwei Quellen bestätigten die Rolle der Person bei MPC als eine Art "Gesicht" für die Brüder. Auf eine E-Mail-Anfrage antwortete die Person an VICE nur "Wo habt ihr von MPC erfahren?". Auf weitere E-Mails und Nachrichten kam nichts mehr. VICE hat sich dagegen entschieden, die Person namentlich zu nennen, um ihre Sicherheit nicht zu gefährden.
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Um auf dem Markt für verschlüsselte Handys Fuß zu fassen, brauchte es allerdings anscheinend mehr als ein überzeugendes Produkt. Die Brüder und ihre Organisation griffen zu Einschüchterungstaktiken und manchmal auch Gewalt, um den Marktanteil von MPC zu vergrößern.Zwei Quellen gaben an, dass Gangmitglieder anderen Personen das Gesicht mit einem Messer zerschnitten hatten. Einer dieser Angriffe richtete sich gegen einen Verkäufer verschlüsselter Smartphones. Eine andere Quelle gab an, das besagte MPC-"Gesicht" habe gedroht, ihn zu töten. Der Fall wurde bei der Polizei zur Anzeige gebracht. VICE konnte eine Kopie der Anzeige einsehen.