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Das steckt wirklich hinter den ausgeblendeten Likes auf Instagram

Soziale Medien sind ein gigantischer Psycho-Test. Willkommen zum nächsten Kapitel.
Nutzerin mit Smartphone, umgeben von Instagram-Herzchen
Foto: imago images | Westend61 || Bearbeitung: VICE 

Instagram hat sich verändert: Für viele Menschen sind seit Donnerstag testweise keine Likes mehr sichtbar. Der kleine Counter mit der Anzahl vergebener Likes ist aus dem Newsfeed verschwunden. Nachrichtenmedien titeln: Instagram schaffe die Likes ab. Aber das stimmt nicht. Die Likes sind immer noch da. Ebenso wie die Psychotricks der Online-Plattform. Sie haben sich nur verändert.

Likes sind die weltweite Währung für digitalen Fame. Viele Menschen können davon nicht genug kriegen. Für ein Like auf Instagram oder einen Daumen nach oben auf YouTube opfern viele ihre Freizeit – und manchmal auch ihre Gesundheit. Ja, soziale Medien können krank machen und eine Verhaltenssucht auslösen, das sagen inzwischen auch Forschende. Gefährdet ist aber nur ein kleiner Prozentanteil der Nutzerinnen – die überwiegende Mehrheit der Menschen kann mit der Verführungskraft von Likes genauso gut umgehen wie mit der Verführungskraft von Limonade.

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Instagram jedenfalls inszeniert sich jetzt als Heldin fürs digitale Wohlbefinden. "Wir wollen, dass Instagram ein Ort ist, an dem sich Menschen wohlfühlen", schreibt die Firma in einer Pressemitteilung. Ich halte das nicht für eine Lüge.

Seit dem Skandal um missbrauchte Nutzerdaten durch die Firma Cambridge Analytica hat die Instagram-Mutter Facebook eine Image-Krise. In der Familie der Tech-Konzerne ist Facebook wie der nervige Cousin, der immer das Geschirr fallen lässt. Alle paar Wochen werden neue Datenschutz-Pannen und strukturelle Privatsphäre-Verletzungen bekannt. Mehrfach schon wurde ein sichtlich bedrückter Mark Zuckerberg öffentlich vom US-Kongress gegrillt. Ich glaube, dass viele Menschen bei Facebook wirklich ein Interesse daran haben, Dinge besser zu machen und positiv aufzufallen. Die mentale Gesundheit auf Instagram stärken zu wollen, das ist etwas Gutes.

Der Datenschatz wächst weiter

Die Sache mit dem "Wohlfühlen" halte ich aber nur für eine Seite der Medaille. Der Konzern würde niemals ein neues Feature einführen, das finanziellen Schaden anrichtet. Das Geschäftsmodell ist und bleibt der Verkauf von optimierten Werbeplätzen mithilfe gigantischer Datenmengen, und diese Daten möchte der Konzern weiterhin aus uns herauskitzeln. Die Likes sind ja nicht einmal wirklich verschwunden: Instagram erfährt natürlich weiterhin, welche Beiträge wir liken. Und wer Instagram ohne Login am Desktop nutzt, kann alle Likes immer noch betrachten. Auch die eigenen Likes bleiben für jeden weiterhin sichtbar. Influencer können Werbepartnern immer noch Reichweiten-Statistiken vorlegen, um ihren Wert am Werbemarkt auszuhandeln. Und es gibt weiterhin Updates und Push-Notifications in der App, die unser Bedürfnis nach Online-Fame kitzeln.

Hirnforscher beschreiben, wie dieser Zuspruch auf sozialen Medien unser Belohnungszentrum stimuliert. Besonders verführerisch ist es, wenn das gute Gefühl immer wieder eintritt. Das heißt, 100 Likes innerhalb einer Sekunde sind zum Beispiel weniger stimulierend als 100 Likes, die sich großzügig über den Tag verteilen. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, dass wir nie wissen, wann genau die nächste Belohnung kommt. Deshalb öffnen wir häufig die App, um zu schauen, ob es vielleicht schon neue Likes, Follower und Kommentare gibt. Für soziale Medien wie Instagram ist das Gold wert. Es bindet die Nutzer an die Plattform und sichert den kontinuierlichen Strom an werberelevanten Daten. An diesem System hat sich nichts geändert, und daran wird sich wohl auch nie etwas ändern.

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Von außen betrachtet sieht Instagrams Like-Experiment vielleicht mutig aus. Aber ein Daten-Konzern wäre kein Daten-Konzern, wenn er das Risiko nicht längst bis ins Detail durchgerechnet hätte. Facebook und Instagram kennen nicht nur unsere Likes. Sie dürfen jede Maus- und Wischbewegung auf der Plattform erfassen und analysieren, unser soziales Netzwerk an Kontakten, und vieles mehr. Dieser Datenschatz wird multipliziert mit der Anzahl von Milliarden Nutzerinnen, mit den Stunden, die wir täglich auf den Plattformen verbringen – und mit den Erkenntnissen, die entstehen, wenn weitere Datensätze damit verknüpft werden. Kurzum: Der Facebook-Konzern besitzt einen der größten Datenschätze der Menschheitsgeschichte. Diesen Datenschatz kann auch kein Meinungsforschungsinstitut toppen, das mit steinzeitlichen Mitteln wie Telefonbefragungen sein Wissen zusammenkratzt.

Der Dauer-Psychotest namens Social Media

Jedes neue Feature auf Facebook oder Instagram wird dadurch automatisch zum breit angelegten Verhaltenstest: Innerhalb kurzer Zeit kann der Konzern sehen, wie ganze Bevölkerungen ihr Verhalten an neue Bedingungen anpassen. In der Pressemitteilung schreibt Instagram, der Test mit den ausgeblendeten Likes in Australien, Brasilien, Kanada, Irland, Italien und Neuseeland sei "positiv" gewesen. Was im Detail hinter "positiv" steckt, wird Instagram wohl nie verraten. Auf jeden Fall bedeutet "positiv", dass Nutzer nicht massenhaft ausgeflippt sind und ihren Account gelöscht haben.


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Wahrscheinlich bedeutet "positiv" aber auch, dass der Datenstrom, den Nutzerinnen auf Instagram generieren, weiterhin wertvoll für den Konzern ist. Vielleicht geben Nutzende nach der Änderung sogar mehr von sich preis, weil sich der Wettbewerb um Likes weniger heftig anfühlt. Falls das eigene Foto mal nur zwei müde Likes abbekommt, ist es nicht mehr peinlich. Gut möglich, dass Instagram dadurch sogar mehr Geld damit verdient als vorher. Das Ausblenden der Likes könnte ein neues Kapitel im weltweiten Dauer-Psychotest namens Social Media sein – und zum Vorbild für andere Plattformen werden.

Ein fieser Geheimplan ist all das natürlich nicht. Dass Firmen gerne Geld verdienen, sollte niemanden überraschen. Aber manchmal bedeutet es auch, dass offensive Wohlfühl-Aktionen von Konzernen nur ein Teil der Wahrheit sind.

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