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Machen Firmen in der Schweiz dicke Geschäfte auf dem Rücken von Asylsuchenden?

Die Firma ORS betreut Asylsuchende. Bei diesen warb sie für Gratis-Deutschkurse in der über Spenden finanzierten Autonomen Schule – und handelte damit anscheinend nicht edel, sondern vor allem eigennützig.
Foto von Evan Ruetsch

Vergangene Woche stattete ich der Autonomen Schule Zürich einen Besuch ab. Für einen Artikel wollte ich mir einen Überblick über die Situation vor Ort verschaffen, nachdem ich erfahren hatte, dass die Autonome Schule wegen Platzmangel und einem Ansturm von Schülern eine grosse Last zu stemmen hat. Dem war dann auch so: 60 Menschen besuchen dort dieselbe Deutschkurs-Lektion. Stühle gibt es zu wenige, Menschen stehen, versuchen dem Unterricht zu folgen und sich nicht ablenken zu lassen. Einige dieser Schüler sind Asylsuchende, die von der ORS Service AG betreut werden.

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Die ORS ist ein profitorientiertes Unternehmen, das sein Geld mit der Betreuung und Unterbringung von Asylsuchenden verdient. Das Geld für die Flüchtlingsbetreuung stammt vom Bund. Rund 1.5 Milliarden Franken hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) letztes Jahr dafür ausgegeben. Allein auf dem Schweizer Markt hat die ORS gemeinsam mit ihrer Tochterfirma ABS Betreuungsservice im Jahr 2015 einen Gesamtumsatz von 100 Millionen gemacht—den Gewinn hält die Firma streng geheim.

In einem internen Schreiben vom 20. November 2015 informierte die ORS Asylsuchende über die Deutschkurse der Autonomen Schule Zürich und nutzte hierfür auch das Logo des selbstverwalteten und unabhängigen Bildungsprojekts—ohne das Wissen der Autonomen Schule. Auf den ersten Blick wirkt die proaktive Werbung der ORS für die Gratis-Deutschkurse wie eine gute Sache, denn wer Asylsuchende dazu ermutigt, Deutsch zu lernen, scheint ein Interesse an deren Integration zu haben. Auf den zweiten Blick aber bleibt ein bitterer Nachgeschmack und die Frage nach der wahren Motivation der Firma, die ihr Geld mit Asylbewerbern verdient.

Foto von der Autorin

Schon grundsätzlich ist fraglich, ob ein gewinnbringendes Geschäftsmodell im Asylwesen ethisch vertretbar ist. Ich frage Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, was er über das Geschäftsmodell der ORS denkt: "Die Schweizerische Flüchtlingshilfe ist seit jeher kritisch gegenüber einem Business-Modell Asyl. Die völlig unnötige gewinnorientierte Unterbringung und Betreuung birgt das Risiko, dass zugunsten des Profits die gute Betreuungsarbeit leidet."

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Als ich mich bei Amnesty Schweiz umhöre, wird der Ton gegen die ORS noch schärfer: "Es ist immer problematisch, wenn Bund und Gemeinden den Auftrag für die Betreibung von Asylunterkünften an private Unternehmen wie ORS vergeben. Diese arbeiten gewinnorientiert und fühlen sich weniger den zu betreuenden Flüchtlingen und Asylsuchenden als vielmehr den Aktionären verpflichtet", so Sprecherin Alexandra Karle.

Die ORS weist auf ihrer Internetseite die Vorwürfe von sich, wonach sie auf dem Rücken von Asylsuchenden Profit machen würde: "Das wäre erstens moralisch absolut unhaltbar—und zweitens kann ein solcher gar nicht erzielt werden: Der Betrag, den die ORS treuhänderisch innerhalb des öffentlichen Kostenrahmens als Unterstützungsbeitrag an die Asylsuchenden weitergibt, ist vom Gesetzgeber festgelegt. Es gibt keinen Spielraum, den irgendjemand ausnutzen könnte."

Dass es diesen Spielraum eben doch gibt, wird offensichtlich, wenn man sich eine interne Abrechnung anschaut, die den Obersee Nachrichten vorliegt. "Da wo die ABS/ORS am Drücker ist, erhalten die Asylbewerber nicht mehr 450 Franken, sondern 382 Franken. Dies geht aus der vorliegenden Abrechnung hervor. Die ABS/ORS zieht stattliche Beträge für Putzmittel und Kommunikationskosten ab und steckt sie in den eigenen Sack", schreibt die Zeitung.

Screenshot mit freundlicher Genehmigung der Obersee Nachrichten

Jedem Asylsuchenden ziehe die ORS demnach 30 Franken für Putzmittel pro Monat oder 360 Franken pro Jahr ab. Wenn man davon ausgeht, dass sich der Asylsuchende seine Unterkunft mit 15 anderen Menschen teilen muss, dann macht das im Jahr 5.400 Franken, die lediglich für Allzweckreiniger und WC-Mittel abgezogen werden. Ich kaufe mein Putzmittel nicht im Lidl, aber in der Migros und gebe für Allzweckreiniger, Glasreiniger und WC-Ente jährlich weniger als 30 Franken aus. Ich frage mich ernsthaft, wie diese horrend hohen Abzüge zustande kommen.

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Von Amnesty Schweiz erfahre ich, dass weitere Mängel festgestellt wurden. "Hauptprobleme waren teilweise eine schlechte Personalrekrutierung, keine Supervision, starker Druck auf das Personal, mangelnde Transparenz und damit verbundene Ablehnung von Präsenz der Zivilgesellschaft." In der Asylunterkunft Eigenthal beispielsweise sei es laut Amnesty Schweiz immer wieder zu Beschwerden gekommen, weil es keine externen Kontrollen gab. "In anderen Zentren haben wir bei unangemeldeten Besuchen abschätzige Bemerkungen über die Asylsuchenden gehört. Kinder waren teilweise nicht eingeschult, Gesundheitspersonal wurde erst nach Abänderung der Rahmenbedingungen durch den Bund eingestellt", so Karle weiter.

Ich möchte einen Blick in den öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen Bund und der ORS werfen und erhalte die Rahmenbedingungen vom Bund. An gewissen Stellen sind die Dokumente geschwärzt. Im Artikel 7 präzisiert der Staat die "Aufgaben", die er an die ORS delegiert. Unter anderem liegt die "angemessene Tagesstrukturierung" der Asylsuchenden in ihrer Verantwortung: "Die Asylsuchenden sollen während vier Stunden pro Werktag beschäftigt werden. Eine solche Strukturierung hat ein entsprechendes Freizeitangebot zu beinhalten."

Auszug aus den Rahmenbedingungen des Bundes

Doch die Betreuung der Asylsuchenden kostet und Personal arbeitet nicht umsonst—wenn auch bei der ORS zu niedrigeren Löhnen als bei beispielsweise der Non-Profit-Organisation Asylorganisation Zürich (AOZ). Laut der Handelszeitung offerierte die AOZ deutlich höhere Stundenansätze als die private ORS. Für eine Betreuungsperson verrechnet die AOZ Ansätze bis zu 85 Franken pro Stunde, für eine Pflegefachperson bis zu 80 Franken, während die ORS für die Betreuung und für die Pflege jeweils maximal 59 Franken in Rechnung stellt.

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Der Verdacht kommt auf, dass die profitorientierte ORS Service AG an allen Ecken und Enden spart. Die ORS hält die ihr anvertrauten Menschen dazu an, ihre Zeit in der von Freiwilligen geführten Autonomen Schule zu verbringen—und spart sich damit Personalkosten. Als ich bei der ORS Service AG nachfrage, wieso die Flyer an Asylsuchende verteilt wurden, antwortet mir Mediensprecherin Yvonne Hachem: "Asylsuchende äussern verschiedentlich das Bedürfnis, Deutsch zu lernen. In diesem Fall weisen wir sie auf das im Kanton Zürich bestehende Angebot hin."

Eigene Deutschkurse bietet die ORS nur dann an, wenn der Kanton die Firma explizit damit beauftragt—und bezahlt. Die ORS hält sich laut eigener Internetseite strikt an die von staatlichen Instanzen auferlegten Aufträge: "Die für die ORS massgebenden Ziele und Vorstellungen werden vom Bund und den Kantonen definiert. So will der Gesetzgeber beispielsweise nicht, dass Asylsuchende, die in einem laufenden Asylverfahren stehen, integriert werden."

Die Autonome Schule Zürich macht sich für ebendiese (vom Staat nicht erwünschte) Integration stark. Ihre Betreiber sind der Meinung, dass Bildung ein Menschenrecht ist. Die Lehrer der Autonomen Schule arbeiten freiwillig und ohne Entlöhnung und aus eigener Überzeugung, die Schule selbst finanziert sich über Spenden. Ein Sprecher des autonomen Bildungsprojekts erklärt mir, wieso sich die Schule darüber ärgert, dass die ORS nun proaktiv und ohne Absprache für sie wirbt: "Die Autonome Schule Zürich ist ganz grundsätzlich dagegen, dass öffentliche Aufgaben an gewinnorientierte, private Unternehmen ausgelagert werden. Dass die ORS in ihren Dokumenten mit unserem Logo auftritt, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie unseriös und dreist diese Firma arbeitet."

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Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe weiss um den Mehrwert des Bildungsangebots auf Freiwilligenbasis: "Ich finde, eine materielle Unterstützung ist das Mindeste, das für die Autonome Schule seitens der öffentlichen Hand getan werden müsste." Stattdessen gibt der Bund öffentliche Gelder für die kostengünstigen Dienste von profitorientierten Unternehmen wie der ORS aus—ohne dass die ORS ihre Geldflüsse offenlegen müsste.

Auf die Vorwürfen betreffend der fehlenden Transparenz reagiert Mediensprecherin Wertheimer vom SEM: "Aufgrund der Verschwiegenheitspflicht kann das Bundesamt für Migration zur Höhe der in den Objektverträgen festgelegten Honorare keine Angaben machen."

Nadja auf Twitter: @NadjaBrenn

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Evan Ruetsch