Clemens Oeltjen kommt auf seinem Mountainbike angefahren. Er hat eine Glatze, einen rotblonden Vollbart und trägt eine Brille. Er schließt sein Fahrrad ab. Clemens wartet auf seinen Kumpel Torsten. „Der hat’s nicht so mit der Pünktlichkeit”, sagt der 46-Jährige, der in Berlin als Mess-Ingenieur beim Fernsehen arbeitet. Ursprünglich kommt er aus Friesland, das hört man. In seiner linken Hand hält er einen Schließzylinder, in der rechten Hand ein feines, langes Werkzeug, das aussieht wie aus der Zahnarztpraxis geklaut. Clemens vertreibt sich die Zeit damit: Innerhalb von fünf Minuten hat er das Schloss mit seinem Werkzeug bereits „sieben, acht Mal geöffnet. Ich mache das in langweiligen Meetings, abends auf dem Sofa und in der U-Bahn.”
Die Rede ist von Lockpicking: Das Öffnen von Schlössern im sportlichen Wettkampf. Für Clemens ist das „mechanischer Ausgleichssport. Schlosszylinder sind äußerst gut gemachte Geduldsspiele. Ich bin den Schlossherstellern wirklich dankbar, dass sie so tolle Spielzeuge entwickeln”, sagt Clemens begeistert. Davon hat er einige zu Hause rumliegen. Bei 200 Schlössern habe er aufgehört zu zählen.
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Da kommt Torsten, ein schlanker Typ, er trägt eine Einkaufstasche in der Hand, die schwer zu sein scheint. Torsten Quast ist 47, Physiker und ebenfalls Lockpicker. Er besitzt knapp 800 Schlösser. Er begrüßt Clemens, stellt vorher seine Tasche auf den Boden. Darin sind ein Werkzeugkasten, Vorhängeschlösser, Riesenschlüssel—alles was das Lockpickerherz begehrt.
Organisiert sind die deutschen Lockpicker im Verein „Sportsfreunde der Sperrtechnik Deutschland e.V.” (SSDeV), der 1997 in Hamburg gegründet wurde. Der SSDeV fördert den Sperrsport und das Bewusstsein für Schließtechnik in der Öffentlichkeit. Clemens ist seit zwölf, Torsten seit 16 Jahren Mitglied. In Berlin gibt es etwa 20 aktive Sportsfreunde, bundesweit seien es etwa 350 bis 400 Mitglieder. Lokale Sportgruppen gibt es in großen Städten, so wie hier in Berlin. „In kleinen Kuhdörfern aber nicht”, sagt Torsten.
Der Verein wurde im Dunstkreis des Chaos Computer Clubs (CCC) gegründet. Einer der Gründer des SSDeV, Steffen Wernéry, ist auch Mitbegründer des CCC. „Unsere Sportordnung ist dem Selbstverständnis und der Ethik von Hackern ähnlich”, sagt Torsten und Clemens fügt hinzu: „Im Grunde ist unser Sport analoges Hacken.” Die Sportordnung müssen alle Vereinsmitglieder unterschreiben. „Darin steht, dass man nur sein eigenes Schloss öffnen darf bzw. ein anderes nur mit Einverständnis des Besitzers”, erklärt Torsten und betont: „Wir knacken auch keine Türen. Wir öffnen nur Schlösser.” Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. „Das besagt die Sportordnung.”
Bei Lockpicking-Übungsabenden haben die beiden auch schon Leute nach Hause geschickt. „Die stellen die falschen Fragen. Du merkst, dass die nicht aus Interesse und Liebhaberei dabei sind, sondern konkrete Ziele verfolgen”, sagt Clemens und meint mögliche Kriminelle.
Die Sportordnung ist mit dem Strafgesetzbuch abgeglichen. „Das Öffnen eines Schlosses mit einem anderen als dafür vorgesehen Werkzeug ist immer schwerer Diebstahl”, betont Torsten Strenggenommen wäre es also auch schwerer Diebstahl, wenn man all die verfluchten Liebesschlösser an Brückengeländern entfernen würde. Clemens meint nur: „Da läuft mir immer der Sabber aus den Mundwinkeln, wenn ich die ganzen Schlösser sehe.”
Man muss ein bisschen verrückt sein, um diesen Sport zu betreiben. Wie kommt man darauf? „Ich hatte irgendwann mal viel Langeweile und ein Zahlenschloss, und dann habe ich gemerkt, dass man solche Schlösser, ohne die Nummern zu kennen, öffnen kann”, sagt Torsten und fügt hinzu: „Wenn man nicht besonders groß ist, kein Fußball spielen kann und sonst keine Talente hat, muss man ja irgendwie auf seine Kosten kommen.” Beide lachen, Clemens stimmt ein: „Ja das kann man so zusammenfassen, war bei mir ähnlich.”
Im sportlichen Wettkampf gewinnt der Schnellste. „Nach dem Motto: Offen ist gut, schnell offen ist besser”, erklärt Torsten. „Es zählt die Anzahl der Schlösser und die Summe der Öffnungszeiten.” Lockpicking ist anstrengend. „Wenn man bei einem Wettkampf einen Tag lang gelockpickt hat, ist man abends schon erledigt, abgesehen davon, dass man Blasen an den Fingern hat.” Was dem Fußballer der Kreuzbandriss ist, ist dem Lockpicker die Blase am Finger. „Auch eine Sehnenscheidenentzündung kann man sich schnell mal holen, wenn ich länger nicht gepickt habe und die Hornhaut schwindet, dann tut’s schon mal weh”, bestätigt Clemens.
Mittlerweile sitzen die beiden in einem Restaurant in Kreuzberg. Vor ihnen, auf dem Tisch, haben sie jede Menge Schlösser, Schlüssel und Werkzeuge ausgebreitet. „Was’n hier los? Ist ja geil!” Die Kellnerin staunt und fragt: „Wollt ihr was trinken?” Torsten bestellt einen Espresso und eine Rhabarberschorle. Clemens ein alkoholfreies Weizen. Die beiden machen immerhin gleich Sport. „Zumeist wird der Sport humorvoll und positiv aufgenommen. Aber es gibt auch Leute, die reagieren so, als würde ich regelmäßig in den Oben-Ohne-Saunaclub gehen”, sagt Torsten und muss lachen.
Clemens versucht sich, während Torsten erzählt, an einem Schließzylinder. „Haste mal ‘nen Mountain Six? Mein Tool steckt fest”, fragt er nach einem anderen Werkzeug und atmet einmal durch. Die beiden sind ein eingespieltes Team, manchmal treffen sie sich auch um Tresore zu öffnen. Eine Art Königsdisziplin. Dann macht es „Klick-klack”. Der „Mountain Six” hat geholfen. Die Tools der Lockpicker heißen Hooks. „Da gibt es den Tropfenhook, den Mountain Six oder die Sylter Welle, von einem Schlüsseldienst aus Sylt. Dieses gebogene Tool wird auch gerne als ‚Spermium’ bezeichnet”, erläutert Torsten und fährt mit seinen Fingern über sein Werkzeug-Etui.
Dann drückt er Clemens ein anderes Schloss in die Hand:
Torsten: „Mach das mal auf. Das ist schön, das geht gut!”
Clemens: „Ich hasse ja Bohrmulden-Schlösser, aber ich bin dabei!”
Torsten: „Hast du das richtige Tool?”
Clemens: „Weiß ich nicht, keine Ahnung.”
Torsten: „Zeig mal her. Du musst von rechts kommen.”
Clemens fummelt mit seinem Hook im Schloss herum.
Torsten: „Non, Non, Non. Sie nehmen dieses Tool. Your Tool! Dann kommste von der einen Seite und hakst da hinten rein, dann spannst du gegen den Uhrzeigersinn.”
Clemens: „Wie gesagt, ich bin ja nicht so der Bohrmulden-Freund.”
Torsten darf klugscheißen, er ist nicht irgendein Lockpicker. Auf der dauerhaften Bestenliste in Deutschland ist er auf Platz drei. Doch er gibt sich bescheiden: „Ich bin nicht schlecht, aber es gibt auf der Welt bessere Lockpicker, die noch mehr Gefühl haben als ich.” Seine Pokalvitrine ist gut gefüllt: Er ist dreifacher deutscher Meister und auch ein Turnier in den USA hat er schon mal gewonnen. Außerdem ist er bereits tschechischer Meister und holländischer Meister geworden.
Das ist im Lockpicking nichts Besonderes, der amtierende deutsche Meister ist ein Ungar. Lockpicking ist eine Randsportart. Einen Weltverband gibt es nicht. In Frankreich verbietet sogar die Gesetzgebung das Öffnen von Schlössern im sportlichen Sinne: Dort ist das Mitführen der Hooks verboten.
„Es gibt einen großen Verband der heißt ‚TOOOL’—The Open Organisation Of Lockpickers. Das ist eine niederländische Organisation, die auch eine amerikanische Sektion hat.” Die Niederländer gehören mit den amerikanischen und den deutschen Lockpickern weltweit zu den Besten. Aber „auch die Tschechen, die Schweizer, Österreicher und die Ungarn sind sehr gut”, erzählt Torsten.
Verdienen kann man mit dem Sport nichts. Es geht um Ruhm und Ehre innerhalb der Szene. Wenn man ganz viel Glück hat, bekommt man als Gewinner mal einen Schlosskasten, einen Tresor oder Werkzeuge geschenkt. Aber keine Geldbeträge. Teilweise sponsern Hersteller von Sperrwerkzeugen die Turniere. Torsten hat seinen bisher fettesten Preis bei der Meisterschaft in Amerika, die er gewann, abgesahnt: „Eine Reise zur nächsten Meisterschaft.”
Die Disziplinen bei solchen Meisterschaften sind die Handöffnung, „da versucht man mit Tastwerkzeugen das Schloss zu öffnen. Das was ich hier gerade mache”, sagt Torsten und klickert mit seinem Tool in einem Schließzylinder herum. „Dann gibt’s die Hangöffnung. Da werden Vorhängeschlösser geöffnet. Der Unterschied ist da, dass man fremde Schlösser vorgesetzt bekommt. Bei der Handöffnung bringst du ein eigenes Schloss mit.” Außerdem gibt es Freestyle: „Da ist alles erlaubt, was das Schloss öffnet und nicht zerstört. Da sind auch Pick-Pistolen erlaubt, diese elektrischen Rüttler, die man auch oft in Krimis sieht”, zählt er auf und macht das Geräusch nach—„Drrrrrt”. Wenn man fertig ist, ruft man laut: „Offen!”
Lockpicking ist übrigens fast eine reine Männersportart. Torsten Quast weiß, woran das liegt: „Ich behaupte, dass Frauen nicht romantisch genug für den Sport sind. Die sagen: ‚Ich benutze dafür einen Schlüssel’—das finde ich gnadenlos unromantisch!” Für Torsten ist jedes geöffnete Schloss ein „haptisches Feuerwerk”.
Clemens verzweifelt derweil wieder an einem Schloss:
Torsten: „Was ist so schwer?”
Clemens: „Naja, es reagiert so gar nicht. Du hast gesagt, dass da so ein ‚hängender Stift’ drin sei. Den habe ich jetzt aber nicht so genau vor Augen… Dein Schloss kann mich mal am Arsch lecken, die blöde Zicke.”
Torsten: „Ihr versteht euch einfach nicht.”
Clemens: „Ha! Offen!”
Torsten: „Siehste, ist doch ein sympathisches Schloss und gleich nochmal!”
Clemens: „Ja, Papa.”
Clemens macht geduldig weiter. Konzentrieren, nicht verbeißen, locker bleiben. Es geht um Gefühl und räumliches Vorstellungsvermögen. Wer keine Geduld hat, braucht gar nicht erst mit Lockpicking anfangen. Das sind die Grundregeln des Sports, die sich im Prinzip auch auf jede andere Sportart übertragen lassen.
Aber ist Lockpicking wirklich eine Sportart? „Schöne Frage”, findet Torsten und kontert: „Ich kenne Leute, die prügeln gelbe Filzkugeln auf rotem Sand über Linien und Netze, die komische Maße haben, weil irgendwelche verrückten Engländer sich die ausgedacht haben—da finde ich Schlösser aufprokeln gar nicht so exotisch.”
Torsten kramt die Schlösser, Hooks und Schlüssel zusammen und fängt an einzupacken. Schluss für heute. Die Kellnerin kassiert ab. Clemens und Torsten amüsieren sich beim Herausgehen über das falsch herum eingebaute Türschloss des Restaurants. Clemens’ Fahrrad steht noch genau da, wo er es abgeschlossen hat. Er hat ein gutes Schloss, natürlich.