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Ich war zum ersten Mal am Sechseläuten und es war die Hölle

Das Sechseläuten steht für das Schaulaufen der traditionellen Elite. Unser Autor begegnete vor allem Regen, Kälte und fremdenfeindlichen Blocher-Fans.

Alle Fotos von Nicolas Bennett

Als ich bei der Arbeit in einem Nebensatz erwähnte, dass ich in meinen gut fünf Jahren in Zürich noch nie am Sechseläuten war, bohrten sich von Lokalpatriotismus geschärfte Blicke direkt in mein Gewissen. Sie schienen mich ungläubig anzuschreien: „Noch nie?!" „Noch nie", bestätigte ich, ohne mir irgendeiner Schuld bewusst zu sein.

Das Sechseläuten selbst kann schliesslich nicht wirklich etwas dafür. Volksfeste sind mir in meiner Freizeit generell einfach egaler als die Geburt eines Brillenpinguins in Südafrika. Unabhängig davon, ob das nun die Street-Parade, das Züri Fäscht oder das Sechseläuten ist. Doch Arbeit ist eben Arbeit und so beschloss ich, meiner beruflichen (und anscheinend eben auch gesellschaftlichen) Pflicht nachzukommen.

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Ich war noch nie am Sechseläuten, ich wollte noch nie ans Sechseläuten—und doch stolperte ich gestern in strömendem Regen das Limmatquai hinauf und hinunter, um ins Innerste des traditionellen Volksherzen Zürichs vorzudringen.

Die erfahrenen Sechseläuten-Gänger gaben mir als letzten Tipp noch mit auf den Weg, ich solle einfach mein eigenes Bier (viel davon) mitnehmen, dann könne nichts mehr schief gehen. Und so mache ich mich—eine Sagres-Flasche links, eine Sagres-Flasche rechts—auf in den Kampf und scheine damit tatsächlich schon etwas richtig zu machen: Die Prognosen der Standbetreiber („rekordschlechtes Geschäft") lasse ich als Alkohol-Selbstversorger ein Stückchen mehr Realität werden. Und wenn einem sogar die Stadtpolizei Zürich ein schönes Sechseläuten wünscht, kann doch wirklich nichts mehr schief gehen. Dachte ich.

Wir wünschen allen ein schönes #Sechselaeuten! ^wi pic.twitter.com/uOfbUycwun
— Stadtpolizei Zürich (@StadtpolizeiZH) 15. April 2016

Nur: So einfach wie gedacht läuft das Ding mit der Integration und dem Verstehen eben meistens doch nicht ab. Erstes Problem: Ich meide Regenwetter mindestens so leidenschaftlich wie Grossanlässe und stolpere dementsprechend unbewaffnet ohne Regenschirm oder -pelerine durch den Krieg der Schirme. Zweites Problem: Die offiziellen Stellen scheinen nicht gewillt, mir integrative Starthilfe zu leisten. Die patroullierenden Polizisten verweisen mich bei der Frage nach ihren persönlichen Höhepunkten des Sechseläutens an ihre Medienstelle. Die Samariter scheinen keine Medienstelle zu haben und wählen als Antwort auf die gleiche Frage ihren Chef als meinen Ansprechpartner.

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Drittes Problem: Die Zünfter, mit denen ich ins Gespräch kommen will, scheinen eine ähnliche Beziehung zum Regen zu pflegen wie ich und rennen in einer chaotischen Variante des Stechschritts an mir vorbei. Ich werde von jenen, die das offizielle Sechseläuten ausmachen, wortwörtlich im Regen stehen gelassen, als ich sie nach dem Kern dieser Veranstaltung zu fragen.

Trotz dieser ersten Rückschläge lerne ich nur schon durch meine Anwesenheit einiges. Die mit Pferden (und Pferdekot) gefüllten Gassen des Niederdorfes gleichen den Kulissen eines drittklassigen Low-Budget-Mittelalter- oder Piratenfilms. Die umherziehenden Zünfter in ihren durchnässten Irgendwas-Kostümen machen letzten Endes auch nur den Eindruck einer zünftig verspäteten Fasnachtstruppe. So trashig feiert es sich also, das Who is Who von Zürich.

Auf der Suche nach Menschen, die gewillt sind, mich nicht an Mediensprecher zu verweisen, spreche ich zwei Seniorinnen an, die auf den Bankplätzen gegenüber der Zunfthäuser im strömenden Regen sitzen und ihr Lethargie-Niveau dem Wasserspiegel angepasst haben. Sie sässen bereits seit dem Beginn vor gut zwei Stunden hier, lassen sie mich wissen. Ich frage zuerst mich selbst und dann sie, wieso man sich sowas antut. Sie antworten, sie seien Tochter und Schwester eines Zünfters—anscheinend also nicht nur traditionelle, sondern auch familiäre Verpflichtung. Früher, als Kinder, da seien sie noch mit ihren penistragenden Familienmitgliedern durch die Strassen gezogen, als erwachsene Frauen sei ihnen das aber nicht mehr erlaubt.

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Zu diesem Zeitpunkt begegne ich einer der wenigen oberflächlichen Informationen, die sich durch Medienberichte über das Sechseläuten in mein Gehirn gebrannt hat: Frauen dürfen beim Elite-Spaziergang nicht mitgehen. Meine von dieser Information getränkte und von den zwei Damen gedüngte Erwartung einer Penisparade wird allerdings nur bedingt erfüllt: Neben den—im Gegensatz zu Frauen—anscheinend nie problematisierten Hunden machen auch einige Frauen in Mittelalterfestkostümen die Runde und schmeissen Carambar und Sugus auf den am Strassenrand frierenden Pöbel.

Die zwei treuen Fan-Damen erklären mir, dass es mittlerweile durchaus Zünfte gebe, bei denen Frauen mitgehen dürfen—bei der Zunft ihres Mannes und Vaters sei das allerdings nicht so. Ich möchte zum Abschied noch wissen, ob sie das nicht störe und sie antworten, wie Menschen eben Antworten, die das Kämpfen der Vergangenheit überlassen haben: „Wir haben uns daran gewöhnt." Sonst würde schliesslich auch niemand mehr den Zünftern Blumen reichen, was ja irgendwie auch schade wäre.

Nur einige Meter weiter sitzt eine weitere Seniorin (alle anderen scheinen sich dem Wetter ergeben zu haben) auf einem Plastiksack inmitten von leeren, durchnummerierten Plätzen, in einer Regenpelerine und mit einem Regenschirm über sich. Ich frage, was es denn mit den Nummerierungen auf sich habe und sie erklärt mir, dass das Plätze seien, für die man Tickets kaufen könne—20 Franken für einen Platz in der ersten Reihe, ein paar Franken weniger für einen in der zweiten Reihe. Auch im Pöbel scheint es also Abstufungen zu geben. Obwohl in der ersten Reihe so mancher Platz frei ist, bleibt die Dame pflichtbewusst auf ihrem Platz mit der Nummer 208 sitzen.

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Ich erzähle ihr von meiner Sechseläuten-Jungfräulichkeit und sie möchte mir sofort die ganze Veranstaltung, die Welt und das Leben erklären. Seit 40 Jahren sitze sie immer an dieser Stelle des Umzugs—perfekt positioniert, um ihren Verwandten im Appenzell via SRF-Kamera Grüsse zuschicken zu können. Ich frage sie, ob auch sie mit einem Zünfter verbandelt sei, doch sie verneint. Mittlerweile kenne sie den einen oder anderen Zünfter, aber nur vom jährlichen Besuch an genau dieser Stelle des Sechseläutens. Sie verteile auch fleissig Blumen an ausgewählte Rundgänger—aber nur an jene, die sie mag. Sprich: am liebsten an Christoph Blocher. Doch der sei dieses Jahr leider nicht hier, so müsse sie eben auf Filippo Leutenegger ausweichen.

Wir kommen ins Plaudern. Ich erzähle ihr, wo ich meine Kindheit verbracht habe und dass ich Wien drei Jahre lang meine Heimat genannt habe. Sie freut sich mit mir über meine Städtewahl und gibt ihr erstes Städte-Rating ab: „Eine schöne Stadt." Dieses überaus positive Urteil relativiert sie jedoch recht schnell wieder: Eine schöne Stadt sei schliesslich sogar Istanbul, sagt sie, obwohl dort so ein kriegerisches Pack lebe.

Den Anlass retten kann jetzt eigentlich nur noch einer, dem Blocher, seine fremdenfeindlichen Groupies und der Regen komplett egal sind: der Böögg. Ich erfahre, dass er dieses Jahr zum ersten Mal seit Ewigkeiten von einem neuen Böögg-Bastler gebaut wurde. Gespannt warte ich also darauf, was der Böögg von meiner Sommerferienplanung in Zentraleuropa hält—doch der übt sich lieber in konsequenter Arbeitsverweigerung. Ganze 43 Minuten lang.

Als ihm dann immerhin der Kopf abfällt, erfüllen Buh-Rufe den Sechseläutenplatz, wenige Minuten später macht es schliesslich doch noch Boom und die Leute haben endlich einen legitimen Grund, vor dem Regen zu fliehen und zum Bahnhof Stadelhofen zu strömen. Ich kippe komplett durchnässt und dem Erfrierungstod einen Schritt näher noch ein Bier und schliesse meine erste Sechseläuten-Erfahrung mit der Erkenntnis, dass ich das Sechseläuten nächstes Jahr so angehe, wie es fast ganz Zürich bereits in diesem Jahr getan hat: Ich werde nicht hingehen.

Sebastian auf Twitter: @seleroyale
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