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Sind Chemiewaffen überhaupt sinnvoll?

„Giftgase sind so etwas wie die Atombombe des armen Mannes.“ Es geht dabei sehr stark um dem psychologischen Effekt, denn wirklich effektiv ist Giftgas in einem Krieg nicht.

Chemische Kriegsführung kommt an und für sich ziemlich selten vor. Bei dem mutmaßlichen Giftgasangriff von Ghuta handelt es sich um die erste große chemische Kriegsführung, die im Laufe des letzten Vierteljahrhundert dokumentiert wurde. Zuletzt hatte Sadam Hussein chemische Waffen bei der Bombardierung von Halabdscha im Jahr 1988 eingesetzt, wobei circa 5.000 Menschen getötet wurden. Davor erblickten chemische Waffen lediglich im Ersten Golfkrieg, im Nordjemenitischen Bürgerkrieg, im Ersten und Zweiten Weltkrieg das Licht der Welt.

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Wenngleich sie insgesamt wenig verwendet wurden, war der Angriff in Syrien keine große Überraschung. Das vom Bürgerkrieg zerrissene Land ist eine von jenen sieben Nationen der Welt, die sich nach wie vor weigern, die Chemiewaffenkonvention zu unterzeichnen, die die Herstellung, die Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen verbietet. Während alle anderen Länder ihre Reserven vernichteten und den Einsatz zu einer „rote Linie“ erklärten, fuhren Assad und sein Regime fort, chemische Vorprodukte aufzustocken und eines der größten Chemiewaffenarsenale der Welt anzuhäufen.

Ein Hauptproblem bei Chemiewaffen ist, dass sie—relativ gesehen—unfassbar einfach herzustellen sind. Senfgas und Chlor könnten wahrscheinlich von jedem aufmerksameren Schüler von Walter White zusammengemischt werden. Selbst die Zutaten für Sarin sind nicht allzu schwer zu bekommen, wenngleich die Herstellung schon etwas komplizierter ist. So ziemlich jedes Land, das über ein Labor und einen kompetenten Chemiker verfügt, ist in der Lage, alle gewünschten Gift- und Nervengase aufzutreiben. Warum also werden sie, angesichts der Vielzahl erbärmlich unmoralischer, gesetzloser und schlechter Menschen in der Welt, nicht öfter eingesetzt?

Die Antwort ist, dass sie heutzutage keine besonders effektive Weise sind, um Menschen zu töten. Chemische Kriegsführung wuchs während des Ersten Weltkriegs, in dem sie [in vielerlei Hinsicht gedeihen konnte](http:// http://de.wikipedia.org/wiki/Gaskriegw%C3%A4hrenddesErstenWeltkrieges). Damals waren Soldaten noch wehrlose Opfer, die zusammengeballt in niedrigen Gräben lagen und wochen- oder monatelang bewegungslose Angriffsziele bildeten. Die Technologie des Todes verbesserte sich ebenfalls rapide. Chlorgas wurde schnell durch Phosgen und später Senfgas ersetzt, wobei jedes davon in seiner speziellen Weise grausam ist. Chlor reagiert mit Wasser in den Lungen zu Salzsäure, Senfgas beschädigt Membranen und führt zu furchtbaren chemischen Verbrennungen auf der Haut. Zu den Fortschritten in der Chemie kamen Verbesserungen in der Ballistik und in der Luftwaffe, wodurch die chemische Munition erstmals genau abgezielt und zum Einsatz gebracht werden konnte. Chemiewaffen hatten das Potential, das Schlachtfeld umzugestalten.

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Das war zumindest die Theorie, die in der Schlacht bei Loos im September 1915 erstmals von den Briten getestet wurde. Unter dem Kommando von General Sir Douglas Haig wurden 5.500 Zylinder mit 150 Tonnen Chlorgas vor der britischen Frontlinie freigesetzt. Es bildeten sich Wolken von giftigem Gas—die prompt zur linken Flanke der Briten zurückdrifteten, als der Wind seine Richtung änderte. Trotz dieses Problems hatte der Angriff große Auswirkungen. Die Deutschen hatten keine reale Erfahrung in der Verteidigung gegen Gasangriffe und standen unter Schock. Hätten die Briten genug Männer in der Reserve gehalten, dann hätten sie beträchtlich an Boden gewinnen können—vorausgesetzt, dass die Männer nicht zu denen gehörten, die versehentlich durch das Gas getötet wurden. Die Sache wurde—mehr oder weniger—als Erfolg betrachtet.

Die Schlacht von Loos zeigt eine Reihe von Problemen auf, die noch heute bestehen, wie mir Omar Lamrani vom Thinktank Stratfor erklärte: „Chemiewaffen effektiv zu nutzen, ist sehr schwierig. Ideale Bedingungen und fehlerfreie Handhabung sind die Voraussetzung dafür, dass die Waffen den maximal möglichen Schaden anrichten.“ Selbst leichteste Veränderungen des Windes, der Feuchtigkeit oder des Sonnenlichts können ihr Potential erheblich beeinträchtigen. Senfgas gefriert bei 14ºC, und ich bin mir nicht sicher, ob dich eine Eisglasur auf deinen Feinden im Krieg besonders weit bringen wird.

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Ein syrischer Soldat, der mit einer AK-47 zielt und eine Gasmaske trägt. (Foto via

5.500 Gaszylinder vor deiner Frontlinie aufzustellen, ist allerdings auch nicht gerade ein Kinderspiel: „Perfekte Zustellmethoden sind ebenfalls schwierig durchzuführen“, erzählte mir Lamrani, „wenn man bedenkt, dass bei den üblichen Zulieferungsträgern—d.h. Artillerie, Raketen, Bomben, Geschossen—oftmals ein beträchtlicher Anteil des chemischen Wirkstoffs zerstört wird.“ Wenn deine Truppen auf dem selben Schlachtfeld sind, besteht außerdem die reale Gefahr, dass sie dem Gas ebenfalls ausgesetzt sind.

Als Saddam Hussein 1988 Chemiewaffen auf Halabdscha warf, hatte er zwar den Vorteil der Luftwaffe, doch trotzdem wurde eine ausreichende Gaskonzentration auf dem Boden erst nach stundenlangen Bombardements erreicht. Das mag praktikabel sein, wenn du deine eigenen Zivilisten bombardierst, eine gute Strategie gegen jemanden mit anständigen Luftabwehrwaffen ist es aber nicht.

Außerdem gibt es natürlich noch andere Gegenmaßnahmen. Zivile Gasmasken sind ziemlich nutzlos, doch moderne Armeen sind schon seit dem Ersten Weltkrieg relativ gut ausgestattet, um mit Chemieangriffen umzugehen. Das Hauptproblem stellen—sowohl für die Angegriffenen als auch für die Angreifer—die erforderlichen umständlichen Schutzvorkehrungen dar, die die Mobilität und das Situationsbewusstsein stark einschränken können. In der offiziellen britischen Geschichte des Ersten Weltkriegs heißt es: „Durch Gas wurden lediglich lokale Erfolge erreicht, aber keine entscheidenden; es machte den Krieg unnötig unangenehm.“

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Warum also halten sich Regime überhaupt mit Giftgas auf? „Chemiewaffen-Arsenale wie dasjenige Syriens werden vor allem zur Abschreckung äußerer Kräfte eingerichtet“, sagt Lamrani. „Oftmals sind sie so etwas wie die ,Atombombe des armen Mannes‘. Angesichts der massiven Gefahr eines Kollateralschadens werden sie oftmals nur dann eingesetzt, wenn Regime sich in ausweglosen Situationen befinden oder Gebiete bereits erfolgreich von einer Gegenkraft erobert wurden.“

In anderen Worten sind Chemiewaffen Instrumente der Angst. Als Saddam Hussein Halabdscha bombardierte, beabsichtigte er nicht, die Stadt zu erobern, sondern sie auszumerzen. Als die Einwohner tot oder geflüchtet waren, war das Land zerstört und Boden sowie Grundwasser jahrelang verseucht. In ähnlicher Weise war auch der Angriff auf Ghuta kein entscheidender Schlag, sondern ein willkürlicher Terrorakt gegen einen von Rebellen kontrollierten Vorort.

„Chemiewaffen sind vor allem psychologische Waffen“, erklärt Lamrani. „Einige Nervengase sind unsichtbar und geruchlos, also fühlt man sich—wie du dir vorstellen kannst—ziemlich schutzlos gegen solch eine Waffe.“ Dennoch werden sich Terrorakte immer darauf beschränken, Menschen zu kontrollieren. „Noch nie wurde eine Zivilbevölkerung allein durch den Einsatz von Chemiewaffen vollständig pazifiziert“, erzählte mir Lamrani.

Die Stadt von Halabdscha wurde durch Saddams Kräfte vollständig zerstört, aber im darauffolgenden Jahr ist eine Gruppe von „Baracken mit Planendächern“ aufgetaucht. Bald darauf waren die Baracken durch dauerhaftere Strukturen ersetzt, und mittlerweile befinden sich mehrere tausend Häuser auf dem Gebiet von Halabdscha Taza bzw. Neu-Halabdscha. Die Stadt lebt weiter, während Saddam tot und begraben ist. Es besteht die Möglichkeit, dass auch Ghuta noch lange leben wird—es wäre ein weiterer Beleg für die Widerstandskraft der Menschen und die ultimative Sinnlosigkeit chemischer Kriegsführung.

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