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Schlachtspiele in Leipzig

Mehr als 6000 Amateurhistoriker und Waffenfreaks spielten am vergangenen Wochenende die Völkerschlacht bei Leipzig von 1813 nach. Das Reenactment eines der größten Gemetzel der Neuzeit war noch langweiliger, als ich erwartet hatte.

Mehr als 6000 Amateurhistoriker und Waffenfreaks spielten am vergangenen Wochenende die Völkerschlacht bei Leipzig von 1813 nach. Das Reenactment eines der größten Gemetzel der Neuzeit war noch langweiliger, als ich es erwartet hatte. Außerdem leiden die Darsteller an einer Zeitkrankheit—Rührseligkeit, romantische Verklärung und wahrscheinlich Schwerhörigkeit vom Geballer. Sie befällt Darsteller und Voyeure zugleich.

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Die Schlacht von 1813 wird jedes Jahr immer wieder nachgestellt. Aber nur in diesem Jahr ist das Reenact der Höhepunkt einer so genannten Völkerschlachtsgedenkwoche. Denn der Vergangenheitskult liebt runde Jubliäen, und jetzt nach 200 Jahren wollen zumindest in und um Leipzig alle ein bisschen mitmachen.

Die historische Peepshow geht schon am Bahnhof mit einem eventuell bedenklichen Arrangement aus Stroh, Soldatenpuppen und Kanonen los. Das eigentliche „Highlight“ findet allerdings heute wie damals auf dem flachen Land südlich von Leipzig statt. Napoleon verlor hier auf dem Rückzug von seinem katastrophalen Russlandfeldzug die entscheidende Schlacht. Damals war seine Grande Armée ziemlich geschwächt und ein Haufen halbverhungerter und von Erfrierungen entstellter Soldaten schleppte sich mühevoll Richtung Westen. Die Verbündeten Preußen, Österreich, Russland und Schweden kämpften gegen Napoleon in einer der größten Schlachten der Weltgeschichte. An ihre Seite rotteten sich deutsche Freikorps zusammen, zumeist kleinkarierte Franzosenhasser, die von einem Großdeutschland schwärmten, in dem Juden keinen Platz haben und alles Ausländische verbannt werden sollte. Die Reinkarnation deutscher Freikorps ist mir zuwider. Die Schlacht dauert vier Tage. Originalgetreu reiste also auch das Netzwerk aus Geschichts- und Militaria-Vereinen schon lange vor dem Reenactment an, um sich auf 1813 einzugrooven. In selbstgeschneiderten Uniformen, mit selbstgedrehten Patronen, echtem Schwarzpulver und aufgepflanzten Bajonetten. Dazu schlafen sie in alten, undichten Zelten auf Stroh. Wer will so was, frag ich mich und suche am Samstag bei dem Franzosenfeldlager—dem Biwak—nach Antworten. Hier wird fleißig exerziert: Man hört schon von Weitem „en avant!“, „à gauche!“ und so weiter. Einer hat eine besondere Uniform an und darf wohl deshalb vor etwa 40 anderen uniformierten Männern stehen und laut Kommandos brüllen. Die meisten von ihnen wären 1813 schon tot gewesen bzw. haben sie die damalige Lebenserwartung um einiges überschritten. Hochkonzentriert und mit bewusster Ernsthaftigkeit versuchen sie voranzuschreiten, anzuhalten, rechts- und linksum zu marschieren, die Bajonett synchron zu schultern—ohne dem Nachbarn dabei mit dem Ding weh zu tun—, in Anschlag zu bringen, irgendwas rumzufummeln und auch mal einen Schuss abzugeben, so dass es sehr laut knallt. Auf die schaulustigen Zivilisten macht das großen Eindruck und wird mit einem anerkennenden Raunen quittiert. Kurz bevor ich im Stehen einschlafe, kommt seitlich eine kleine belustigte Truppe im Gänsemarsch angestolpert, als würde sie zum ersten Mal exerzieren. Nach ein bisschen Stop-and-Go auf Kommando lässt man sich ins Gras fallen und trinkt aus Bierflaschen in Jutebeuteln.

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Ignas Babushis heißt ihr Anführer. In Wirklichkeit ist er Geschichtsstudent. Er macht den Unteroffizier des Bataillons 129—eine Mischung aus Litauern, Tschechen und Polen—, das an der Seite der Franzosen kämpfte, um die Russen loszuwerden. Und wirklich kommen er und seine Soldaten aus Litauen angereist. Zum achten Mal ist er hier, um zu erleben, wie es wirklich damals war.

Ob er glaubt, dass seine Uniform wirklich so weiß war, als sein Bataillon zu Fuß aus Litauen hier ankam. Nein, wahrscheinlich nicht, meint er, aber die Knöpfe an seiner Weste sind Reproduktionen der echten napoleonischen Knöpfe aus echtem geweißtem Leder, die wären auch heute schwer zu kriegen.   Wie auf ein unsichtbares Kommando scheucht er die Jungs in strengem Ton hoch. Sie müssen jetzt mit den anderen aus dem Infanterie-Regiment exerzieren üben. Auf einer Fläche so groß wie ein Fußballfeld marschieren sie in unterschiedlichen Abständen hin und her, vor und zurück und üben mit Bajonetten. Dann marschiert die Truppe geschlossen vom Platz. Die Sache ist zu ernst, um hier einfach zu fragen, wo es nun hingeht, also laufe ich hinterher—zu den Biwaks, wie sich herausstellt. Die Soldaten dürfen hier abtreten, sollen sich ausruhen, ihre Waffen putzen, um später weiter zu exerzieren.   Ignas ist noch nicht ganz zufrieden, und es ärgert ihn, dass manche jüngere Soldaten die Sache nicht ernst genug nehmen und denken, sie würden nur zum Saufen hier sein. Ein paar seiner Soldaten hätten nicht mitkommen können. Da klappt es besser, denn mit ihnen trifft er sich etwa alle zwei Monate zum Campen und Napoleonische Krieg spielen. Einer der Soldaten vom Bataillon 129—also Ignas Truppe—heißt Equdius und kommt auch aus Litauen. Er ist vorübergehend erleichtert. Für seinen Geschmack wird hier ein bisschen viel marschiert. Er ist vor allem hergekommen, weil er Waffen einfach gut findet. Stolz holt er ein kleines Päckchen Schwarzpulver aus seiner Soldatenhandtasche. Zu Hause hat er echte Waffen, geht jagen und spielt Paintball im Wald. Die Völkerschlacht interessiert ihn nicht sonderlich. Viel lieber würde er in einem WWII-Reenactment mitmachen. Davon gibt es in Litauen und Russland wohl einige, aber die wären zu teuer. Die Teilnahme allein würde 2500 Euro kosten, und die Uniformen und Waffen wären auch schwierig zu bekommen.

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Ignas sitzt auf einem Holzklotz, trinkt aus einem Metallbecher, isst und hält Händchen mit  seiner Freundin. Die Frauen wären den Soldaten oft hinterhergezogen, deshalb sei es auch authentisch, dass sie dabei ist. Kinder wurden damals oft als Trommler eingesetzt. Die Beiden haben zum Glück noch kein Kind, das hier Trommler spielen müsste. Ignas' Obsession sind einzig und allein die Napoleonischen Kriege. Er fährt nur zu diesen Reenactments und ihm ist wichtig, dass alles so authentisch wie möglich ist. Aber das Essen war damals nicht so üppig, bemerke ich. Ignas reagiert ernsthaft verlegen. Damals waren die napoleonischen Truppen so ausgehungert und verwahrlost, dass es zumindest hier und da Kannibalismus gegeben haben soll. Er will nicht mehr weiterreden, sondern sich lieber auf das Strohbett im Zelt legen, denn morgen wird ein anstrengender Tag—oder besser gesagt, ein Tag zum Sterben. Von den 120 Litauern in dem 129er Bataillon starben damals so gut wie alle—nur zwei oder drei kehrten nach Litauen zurück. Vielleicht sind einige mit Napoleon in die Verbannung gegangen. Ignas und seine Truppe werden morgen nicht mal verwundet spielen.

Das Reenactment am nächsten Tag zieht sich über viereinhalb Stunden. Auf einem riesigen unüberschaubaren Areal passiert das Gleiche wie am Tag zuvor. Unermüdlich wird in quadratischen Formen nach Uniformen sortiert hin und her marschiert, ein paar Reiterverbände durchqueren gelegentlich das Feld, und die ganze Zeit werden Schüsse abgegeben und Kanonen abgefeuert, deren Druckwellen mein Skelett zum Beben und meine Ohren zum Piepen bringen.    In einem schmalen Korridor um das Schlachtfeld herum schieben sich mehr als 30.000 Schlachtenbummler in Volksfeststimmung. Die haben für dieses angebliche Spektakel mindestens 15 Euro Eintritt bezahlt. Manche nutzen die Gelegenheit, um irgendwelche Flohmarktorden an ihren Jacken spazieren zu tragen, eine BW-Hose anzuziehen oder sich sonst irgendwie thematisch zu kleiden. Das macht offensichtlich Spaß und es macht gar nichts, dass man eigentlich kaum was sieht. Die Leute tun, was sie immer tun, stellen sich ein paar Bier rein und essen eine Bratwurst. Zwischendurch ein Highlight: Eine extra dafür aufgebaute Brücke wird gesprengt. Um zu zeigen, dass Napoleons Truppen zwischendurch der Weg abgeschnitten war. Ich langweile mich auf der Pressebühne brutal, zwischenzeitlich bin ich sogar ein bisschen deprimiert. Ich habe hier das kleinste Objektiv von allen. Das ist, wie im Krieg die kleinste Kanone zu haben. Ich verlasse die Tribüne und suche Zerstreuung in einer Akrobatiknummer zu irgendeiner Powermetalband mit Manowar-Sound. Auch das klingt schlimm, ist aber im Vergleich zu dem ständigen Schlachtenlärm nur die Vorhölle. Dann endlich, um kurz nach vier, bedankt sich jemand über Lautsprecher für die „Disziplin“ der Zuschauer und erklärt das Reenactment für beendet. Die Truppen würden nun an den Zuschauern vorbei zu den Biwaks „defilieren“ und noch ein bisschen Lagerfeuer mit „versöhnenden Szenen“ machen. Vorher sollten aber alle zusammen in Erinnerung an das furchtbare Ereignis 1813 eine Schweigeminute abhalten. Hier wurde nämlich gegen Gewalt und Krieg Krieg gespielt, also „Versöhnung gelebt“, wie die Stimme aus dem Lautsprecher erklärt. Ich bin überrascht, vielleicht weil ich in der  1813-Geschichte nicht so drin stecke, jedenfalls wußte ich gar nicht, dass hier nach 200 Jahren noch versöhnt werden muss.

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Und offen gestanden kommen diese gewollt pazifistischen Nachdenklichkeiten genauso überzeugend rüber, wie sie aus dem Mund der Macher Und offen gestanden kommen diese gewollt pazifistischen Nachdenklichkeiten genauso überzeugend rüber, wie sie aus dem Mund der Macher irgendeines Ego-Shooters klingen würden—wenig überzeugend. Glücklicherweise verschonen uns die Macher von Ballerspielen mit derlei Ansprachen. Ich geh schonmal. Vor 200 Jahren forderte die so genannte Völkerschlacht über 90.000 Tote in vier Tagen und hinterließ 40.000 Verwundete, deren Geschrei und Stöhnen noch Tage später zu hören gewesen sein sollen.

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