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Was wäre, wenn der Islamische Staat gewinnt?

Je länger der IS gegen die internationale Koalition besteht, desto mehr Glaubwürdigkeit als Bewegung gewinnt er und desto größer wird seine Anziehungskraft für ausländische Kämpfer, radikale Ideologen und lokale Sympathisanten.

Die Flagge des Islamischen Staats | Quelle: Wikimedia Commons | Gemeinfrei

Mehr als 50 Analytiker der Kommandozentrale der amerikanischen Streitkräfte für den Nahen Osten (US Central Command) haben kürzlich Beschwerde dagegen eingelegt, dass die Berichte über die Schwächen des sogenannten Islamischen Staates (IS) größtenteils übertrieben sind. Wenn die Behauptungen der Analysten stimmen sollten, ist es vielleicht an der Zeit die Frage zu stellen, die anscheinend jeder vermeidet: Was passiert, wenn der IS nicht geschlagen werden kann? Müssen wir uns dann an die Möglichkeit eines Sieges des IS gewöhnen?

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Das ist kein „Konvertiere oder Stirb"-Siegesszenario, bei dem die Großmachtfantasten des IS über die Welt herrschen. Wie sähe stattdessen ein viel wahrscheinlicheres „Agree-to-disagree"-Szenario oder zumindest „Wir-sind-Erzfeinde"-Szenario aus, wenn der IS gewinnt? Das Szenario nach einem Sieg des IS sähe möglicherweise viel pragmatischer aus: effektives Regieren in den Gebieten, die sie bereits kontrollieren, und die erfolgreiche Verteidigung der Grenzen ihres sogenannten Kalifats.

Von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet, tut dies der IS bereits. Sie nehmen bereits staatliche Aufgaben wahr: sie zahlen ihren Angestellten Lohn, sie stellen Reisedokumente aus und sie betreiben Schulen und Krankenhäuser. Wenn diese Verwaltung aber zum Status quo wird, dann wird es beim Kampf gegen IS weniger um das gezielte Töten von Anführern oder um die Zerschlagung von Terrornetzwerken gehen, als vielmehr um die Vernichtung eines ganzes politischen und militärischen Regierungssystems—keine leichte Aufgabe.

„Der IS baut Sicherheiten ins System ein", sagt Will McCants, Autor von ISIS Apocalypse und Direktor US Project on US Relations with the Islamic World beim Brookings Institute, VICE News. „Sie geben Kommandeuren und Gouverneuren viel mehr Freiheiten und lassen sie an der längeren Leine, auch wenn der Kalif Abu Bakr al Baghdadi umkommen sollte, gerät dadurch nicht notwendigerweise das gesamte Kalifat ins Wanken."

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Die meisten Beobachter stimmen zu, dass ein Sieg über den IS immer schwieriger—und unwahrscheinlicher—wird, je mehr Zeit vergeht. Je länger die Gruppierung gegen die internationale Koalition besteht, desto mehr Glaubwürdigkeit als Bewegung gewinnt sie und je größer wird ihre Anziehungskraft für ausländische Kämpfer, radikale Ideologen und lokale Sympathisanten.

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Nick Heras, Associate Fellow bei der Jamestown Foundation und Nahost-Forscher am Center for a New America Security, sagte VICE News: „Grundsätzlich hat der IS hat bereits die erste Phase des Sieges erreicht; sie haben bereits ein Jahr gegen eine US-geführte Koalition überlebt. Sie konnten die meisten ihrer Landgewinne im Irak verteidigen und Gebiete in Syrien erobern."

Alles, was sie tun müssen, um auf diesem Erfolg aufzubauen und endgültig zu siegen, ist, weitermachen wie bisher—eine Wirtschaft, die Gewinne erwirtschaftet, um die Kämpfer zu bezahlen; als religiöse Bewegung, die den politischen Ambitionen des Kalifaten eine Legitimierung verschafft und am wichtigsten als militärische Organisation, die ständig expandiert und neue Gebiete erobert.

„Die zweite Phase für den IS besteht jetzt darin, die Revolutionsbewegung in Syrien komplett zu vereinnahmen", erklärt Heras. Ihm zufolge könne die Gruppe als religiöse Bewegung nur bestehen, wenn jede Gruppe von Aufständischen dem IS ihren bay'ah (Treueschwur) leistet, auch die mit al-Qaida verbundenen Gruppen wie Jabhat al Nusra.

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Im Hinblick auf das Gebiet, das der IS gegenwärtig kontrolliert, ist dies nicht komplett abwegig oder ein ganz und gar unwahrscheinliches Szenario. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen in Syrien kontrolliert der IS nach der Eroberung der antiken Stadt Palmyra im Mai fast die Hälfte des syrischen Staatsgebietes, wenn auch weit weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Das ist nicht nur wichtig für die expansionistische Ideologie des IS, sondern lässt vermuten, dass die Revolutionsbewegung in Syrien sich komplett in Richtung IS orientieren könnte, wie im Irak.

Auch wenn die Strategie der US-geführten Koalition zum Ziel hat, den IS zu besiegen, setzt sie auf Luftschläge und militärische Einsätze, die aber nicht die politischen Katastrophen bekämpfen, die den IS erst stark gemacht haben—Sektierertum, innenpolitische Querelen und das Fehlen einer repräsentativen Regierung. Diese Strategie steht auch nicht im Einklang mit den regionalen Prioritäten anderer Länder, die in diesem Konflikt involviert sind.

Laut einem Geheimdienstbericht, den VICE News durch Verisk Maplecroft—eine weltweit tätige Beratungsgesellschaft für Risikobewertung aus Großbritannien—erhalten hat, sorgen die widerstrebenden Interessen im Nahen Osten unter Ländern wie Iran, Saudi-Arabien, Jordanien, Türkei, Russland und den USA dafür, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie sich zusammenschließen, um Gruppen wie den IS gemeinsam zu bekämpfen.

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Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Länder, die an IS-Gebiete grenzen, vom Gedanken an den Sieg über den IS verabschieden und stattdessen eine Politik der Eindämmung betreiben. Ob nun beabsichtigt oder nicht, das würde die Grenzen des Kalifats festigen und im Ergebnis dazu führen, dass Gebiete, deren Status unklar ist, an den IS fallen.

„Es besteht die Möglichkeit, dass der IS de facto zum Staat wird und wir uns mit diesem Gebilde beschäftigen müssen", sagte Ghaido Heto von i-Strategic, einer politischen Risikobewertungsgesellschaft. „Die etablierten Staaten müssten ihre Grenzen verstärken und es könnte sogar soweit kommen, dass wir mit dem IS zukünftig verhandeln müssen."

Ungeachtet der vielen Erfolge des IS, jeder hypothetische Sieg müsste sich auf die islamischen Grundsätze berufen, die zur Rechtfertigung des Kalifats genutzt wurden. Und da bewegt sich der IS auf zunehmend wackligem Boden, die Unsicherheit über den Rückhalt in der restlichen muslimischen Welt.

Im September 2014 veröffentlichten mehrere internationale Islamgelehrte einen offenen Brief an den Kalifen und meldeten Zweifel an seinem Anspruch, für die gesamte islamische Bevölkerung auf der Welt—die ummah—zu sprechen, an. In diesem Brief beklagen sie die „Dreistigkeit einer eine Gruppe von nicht mehr als ein paar Tausend selbsternannten Herrschern, die über anderthalb Milliarden Muslime auf der Welt regieren wollen."

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Yasir Qadhi, ein führender Islamwissenschaftler Amerikas und Unterzeichner des Briefes sagte zu VICE News: „Für den IS ist es einfach fast unmöglich, weiterhin so beliebt zu sein und Unterstützung zu finden, wenn sie mit dieser Brutalität weitermachen. Das stellt nicht einmal eine entfernte Möglichkeit dar."

Weiter sagte er: „Wenn der IS menschlicher, demokratischer und—ich wage mich zu sagen—islamischer gewesen wäre, und hätte er wirklich die Lehren des Mainstream-Islam befolgt, dann hätten sie durchschlagenderen Erfolg als jetzt gehabt."

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In der fehlenden Akzeptanz durch die weltweite muslimische Community könnte die einzige Möglichkeit liegen, den IS zu bekämpfen. Abdelaziz al Sheikh, der Großmufti von Saudi-Arabien (die oberste religiöse Autorität des Landes) ging sogar soweit und erklärte den IS „zum größten Feind des Islams". Also anstatt die Unterstützung von Muslimen, die ein islamisches Projekt wie ein Kalifat ansprechend finden, anzuziehen, könnte die Einbildung, eine religiöse Autorität zu sein, zusammen mit der extremen Gewalt letztlich den eigenen Erfolg aushöhlen und zu einer begrenzten Einflusssphäre führen, die sich auf irakische und syrische Gebiete beschränkt.

„Die Frage der Legitimität muss von denen beantwortet werden, die sie einem übertragen. Sofern nicht ein Großteil der muslimischen Welt der Ideologie des IS folgt, wird es nie eine echte Legitimität für das Kalifat geben können", sagt Dr. Qadhi.

Momentan gibt es weder eine Garantie, dass der IS triumphieren wird, noch eine Garantie, dass er besiegt wird. Dennoch steht das alleinige Überleben des IS für eine Art Sieg, übertrifft er doch damit alle Erwartungen.

„Man kann sich der politischen Realität stellen und anerkennen, dass der IS weit mehr ist als eine Terrorgruppe, viel mehr als ein Aufstand. Aber man muss nicht seine Staatlichkeit auf Dauer akzeptieren", sagt McCants. Ohne einen stimmigen Plan, der die staatsaufbauenden Strukturen des IS zerstört und mit praktikablen politischen Lösungen ersetzt, wird es wenig Gründe dafür geben, dass der IS verschwindet—jedenfalls in absehbarer Zukunft.