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Mein Vater wurde wegen Schlepperei angeklagt, weil seine Vorderreifen über der Grenze waren

Meinem Vater drohen 10 Jahre Haft für zwei Kilometer Autofahrt und zwei Reifen über der deutschen Grenze.

Montage von der Autorin, Bild von Google Maps

Ich kam gerade aus einem Bewerbungsgespräch, war müde und hungrig und wollte einfach nur in das Auto meines Papas einsteigen und möglichst schnell etwas zu Mittag essen. Er hatte zur gleichen Zeit einen Geschäftstermin in Salzburg und wollte mich danach abholen. Als ich ihn über das Telefon erreichte, meinte er nur hektisch: „Ich kann gerade nicht telefonieren, ich hab eine Flüchtlingsfamilie auf der Straße gesehen und fahr die schnell an die Grenze. Ich meld mich gleich."

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Es war Montag, der 21. September um 12:00 Uhr und aus dem „gleich" wurden über 7 Stunden Wartezeit. 7 Stunden, in denen sich mein Vater nackt ausziehen musste, in denen er wie ein Schwerverbrecher verhört, in eine Zelle gesteckt und ihm das Handy abgenommen wurde. Was ist passiert?

Mein Papa hat geholfen. Er hat das Leid der Menschen nicht ignoriert, sondern sich eingemischt. Nach seinem Geschäftstermin hat er ein zirka 8-jähriges Mädchen und ihren Vater am Straßenrand gesehen, die sichtlich erschöpft waren. Das Mädchen hat geweint und konnte nicht mehr. Tausende Kilometer zu Fuß und mit dem Zug waren genug: Zwei Kilometer vor der Grenze versagten ihr die Füße.

Spontan und ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken, hat er angehalten und wollte sie die restlichen Meter bis zur deutschen Grenze fahren. Der syrische Mann betonte „No money, we have no money!", aber davon wollte mein Papa sowieso nichts wissen und meinte nur „I don't want money." Also stieg die Flüchtlingsfamilie zu.

Was dann passierte, schildert mein Vater so: „Vor der Grenze staut es sich, überall sind Flüchtlinge und die Situation ist ziemlich unübersichtlich. In dem Moment hab ich noch einen Anruf bekommen (Anmerkung: von mir, seiner ungeduldigen Tochter: ,Papa, wann holst du mich ab?'), war etwas abgelenkt und auf einmal stand ich schon in der Staulinie und konnte nicht mehr umdrehen. Weiter vorne hab ich schon Polizisten gesehen und mir gedacht: Jetzt lass ich die Leute auch nicht einfach so aus dem Auto springen. Ich bin also zu dem ersten Polizisten hingefahren, hab das Fenster runtergekurbelt und mich bemerkbar gemacht: Hallo, ich hab da ein paar Leute aufgelesen, wo kann ich sie rauslassen? Ich wurde nicht angehalten, sondern hab mich gemeldet. Wohlgemerkt: Das war mitten auf der Saalachbrücke. Ich stand wohl schon mit dem Vorderreifen in Deutschland, aber mit der Hinterachse noch in Österreich. Ich bin sofort rausgewinkt worden in die nächste Parkbucht und war somit endgültig in Deutschland." Tatbestand Schlepperei.

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Ich saß währenddessen schon im Bus und wollte irgendwo auf meinen Vater warten. Als dann die SMS kam: „Bin grad wegen Schlepperei verhaftet worden, kein Witz!" konnte ich es kaum glauben. Mein Papa? Schlepperei? Der Mann, der mir so viel über Wertschätzung und Akzeptanz beibrachte? Der Spenden sammelte, Flüchtlinge einstellte, ihnen bei Amtsgängen half und Unterschriftenlisten für ihr Asylverfahren verteilte?

Ich konnte nicht anders, als zu lachen. Da musste offensichtlich ein großer Irrtum vorliegen—aber einer, den er sicher schnell aufklären würde können. Als ihm dann das Handy abgenommen wurde und er nur noch schnell schrieb, dass er sich meldet, sobald er wieder frei ist, wurde es für mich schon mulmiger.

Wir hörten erst am späten Nachmittag wieder von ihm. Er konnte meine Mutter noch über das Festnetz der Polizei anrufen und berichtete, dass er jetzt nach Berchtesgaden zum Verhör gebracht werde. Dort musste er sich nackt ausziehen, den Ehering, Gürtel und Schuhe abgeben, die typischen Mugshots machen, wie man sie aus US-amerikanischen Filmen eben kennt: Fingerabdrücke, Schuh- und Körpergröße, Gewicht angeben, das volle biometrische Programm eben.

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Auf die Untersuchung folgte die Gefängniszelle. Mein Vater beschreibt die Zelle nicht einfach als ein abgeschlossenes Zimmer, sondern als „einen richtigen Guantanamo-Käfig". Dann kam die Wartezeit. Bis hierher konnte mein Vater noch alles mit einem gewissen Humor ertragen. Aber nach Stunden hinter Gittern fragte er sich so langsam, ob sein Pyjama in dieser Nacht vielleicht gestreift sein würde: Vom Unternehmer zum Häftling in weniger als 5 Stunden.

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Als er schließlich zum Verhör geführt wird, macht der vernehmende Beamte zuerst einmal klar, dass auf dem Stuhl, auf dem er sitzt, 99 Prozent der Befragten ohne Umwege ins Gefängnis kämen. Dann folgten alle Details zu seiner Person: Vom Einkommen bis zum Schuldenstand wurde nichts ausgelassen. Sogar seine SMS musste er einzeln erklären—meine genervten Nachrichten, wo er denn bleibe (sorry dafür übrigens!) waren plötzlich Indizien für seine Unschuld. Welcher Schlepper macht sich schon zur gleichen Zeit ein Date mit seiner Tochter aus?

Im Laufe der einstündigen Vernehmung wird endlich auch den Polizisten klar, dass der Mann, der gerade vor ihnen sitzt, kein Schlepper ist. Doch die Mühlen der Bürokratie sind hart und mahlen langsam. Selbst, nachdem ihm der Beamte glaubt, muss dieser erst die Staatsanwältin überzeugen, dass mein Vater die Nacht nicht in U-Haft verbringen muss. Mit Müh und Not gelingt es dem Polizisten und mein Vater wird nach über 7 Stunden wieder freigelassen. Mit dem Taxi fährt er die halbe Stunde zurück zur Grenze, wo sein Auto steht—zurückfahren darf die Polizei ihn nicht mehr, weil er nicht mehr verhaftet ist.

Die Brücke zwischen Freilassing und Salzburg. Foto von der Autorin.

Mein Vater ist jetzt also der „lebensgefährdenden, unmenschlichen oder erniedrigenden Schleuserei" angeklagt. Der gleiche Tatbestand wird wahrscheinlich auch jenem Schlepper vorgeworfen, der 71 Flüchtlinge in seinem Kühllaster ersticken ließ. Taterschwerend kam nämlich hinzu, dass das kleine Mädchen nicht ordnungsgemäß in einem Kindersitz, sondern am Schoß seines Papas saß. Wo die Kleine während der Fahrt mit dem Polizeiauto war? Richtig—ebenfalls unangeschnallt am Schoß von Papa.

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Über das Schicksal „seiner" Familie konnte mein Vater nichts mehr ausfindig machen. Ihre Personalien wurden in der Polizeistation aufgenommen, sie wurden ebenfalls verhört und reihten sich dann in die Schlange der anderen Flüchtlinge ein. Danach hat er sie aus den Augen verloren. Als er die Polizisten nach ihnen fragte meinte einer, sie hätten wohl keine Konsequenzen zu befürchten.

Wie aber die Konsequenzen für meinen Papa aussehen, ist noch offen: Sollte tatsächlich Anklage erhoben werden, erwarten ihn im schlimmsten Fall bis zu 10 Jahre Haft. In Österreich müsste er dafür höchstens mit einer Verwaltungsstrafe von bis zu 5.000 Euro rechnen.

10 Jahre Haft für zwei Kilometer und zwei Reifen über der Grenze. Wir leben offenbar in einer Welt, in der wir auch für Hilfe mit schwersten Strafen rechnen müssen.

Wo die Bürokratie blind gegenüber den Umständen ist und Nächstenliebe mit Schlepperei verwechselt. Mein Vater hegt keinen Groll gegen die Beamten und versteht die Strenge, mit der sie momentan agieren, um Leben zu retten und Menschenwürde zu bewahren.

Aber seine Geschichte sollte nicht eine sein, die man seinen Kindern als Beispiel erzählt, warum sie sich ducken und wegschauen sollten, wenn jemand Hilfe braucht. Man sollte sie erzählen, um Nächstenliebe, Zivilcourage und gegenseitige Achtsamkeit zu fördern und um mit aller Kraft einzustehen für diejenigen, die unsere Hilfe am meisten brauchen. Danke Papa für diese wertvolle Lektion.