Wieso auch die Ehe zwischen Mann und Frau nicht natürlich ist
Nein, auch die Ehe dieser zwei Unbekannten nicht | Foto von Vimeo

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Wieso auch die Ehe zwischen Mann und Frau nicht natürlich ist

Die EDU-Initiative "Schutz der Ehe" will die Ehe "natürlich" halten – und ignoriert dabei grundlegende Fakten.

Spätestens seit den US-Präsidentschaftswahlen werden wir uns immer mehr bewusst: Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter. Dies findet auch die Wörterbuchreihe Oxford Dictionaries, welche erst kürzlich den Begriff zum internationalen Wort des Jahres kürte. Es sind Zeiten, in denen, wie es der Schweizer Physiker und Philosoph Eduard Kaeser beinahe poetisch ausdrückt, die digitale Informationsflut zentrale Standards wie Objektivität und Wahrheit auswäscht. Journalisten und Politiker, so heisst es, würden ihre Pflicht vernachlässigen, die Bevölkerung mit Tatsachen zu beliefern, was zu irrationalen und hoch emotionalen Diskussionen führe.

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Es wäre jedoch zu einfach, würden wir lediglich Politik, Wirtschaft und Medien zur Verantwortung ziehen, stillen sie doch in vieler Hinsicht nur unsere Bedürfnisse und repräsentieren in ihrer Gesamtheit jeden Einzelnen von uns. Wir wählen Politiker, unterstützen die Wirtschaft und ihre Produkte. Wir kaufen Zeitschriften, klicken auf Links, schauen Sendungen und lesen Artikel. Und zeitweise sitzen wir am längeren Hebel. Wir haben Teil an der Macht, stimmen ab und sollten uns deshalb auch ab und zu mit Fakten auseinandersetzen.

Einer dieser Fakten ist, dass im Kanton Zürich das Stimmvolk am 27. November über die kantonale Volksinitiative "Schutz der Ehe" abstimmen soll. Die von der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) eingereichte Initiative will damit die "natürliche" Ehe behüten; sie gewissermassen unter Naturschutz stellen. Die EDU schreibt, falls die "natürliche" Familie aufgelöst werde, würde das das friedliche, freie und selbstbestimmte Zusammenleben einer Gesellschaft untergraben. Darum müsse die "natürliche" Ehe klar definiert und geschützt werden, insbesondere vor der Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare. Fakt ist auch, dass die EDU mit diesem Text jegliche Fakten aus dem Fenster wirft. Schauen wir uns dies doch genauer an.

Die EDU beschreibt die Ehe zwischen Mann und Frau als "natürlich". Die Ehe sei somit Teil der Natur. Der Duden definiert Natur als "alles, was an organischen und anorganischen Erscheinungen ohne Zutun des Menschen existiert oder sich entwickelt". Dabei wird die Gesamtheit aller Pflanzen, Tiere, Gewässer und Gesteine als Teil der Erdoberfläche oder eines bestimmten Gebietes aufgelistet.

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Die Ehe jedoch (althochdeutsch für Ewigkeit, Recht, Gesetz) bezeichnet eine gesetzlich oder rituell geregelte, durch Gesellschaftsrecht und Religionslehren begründete, gefestigte Form einer Verbindung zweier Menschen. Bereits in den zwei ältesten belegten Gesetzestexten, dem Codex Ur-Nammu (2100 v. Chr.) und dem Codex Hammurapi (18. Jahrhundert v. Chr.), sind gesetzliche Regelungen zur Ehe enthalten. Die Ehe ist folglich keine Erscheinung, die ohne Zutun des Menschen existiert. Sie kommt weder in der Pflanzen- oder Tierwelt vor, mündete nicht als Fluss ins Meer und wurde auch nicht wie eine Gesteinsformation aus den tieferen Erdschichten emporgeworfen.

Der Duden definiert auch das als natürlich, was eine "geistige, seelische, körperliche oder biologische Eigentümlichkeit vorweist; eine Eigenart von [bestimmten] Menschen oder Tieren, die ihr spontanes Verhalten entscheidend prägt". In Bezug auf eine Gemeinschaft, können also jene Verbindungen als natürlich bezeichnet werden, die Tiere und Menschen prägen. Da gleichgeschlechtliche Partnerschaften bei Menschen wie auch bei Tierarten wissenschaftlich nachweisbar sind, gelten sie als natürlich.

Der Duden versteht unter Natur zudem die ursprüngliche Beschaffenheit, den natürlichen Zustand von etwas. Die EDU fordert mit ihrer Initiative, dass wir die Ehe in ihrem "natürlichen" Zustand zwischen Mann und Frau belassen. Die Partei scheint jedoch zu vergessen, dass die Bedeutung der Ehe stark von gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängt. Sie hat sich im Zuge der menschlichen Entwicklung immer wieder gewandelt. Ein Abstecher in die Geschichte der Ehe lohnt sich, um den Wunsch der EDU, an der ursprünglichen Ehe festzuhalten, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

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Auf Schweizer Gebiet war die Ehe bereits seit Anfang des 7. Jahrhunderts im germanischen Stammesrecht geregelt und zwar als eine sogenannte Kaufehe. Der Mann erwarb die Verfügungsgewalt über seine Frau, indem er Geld auf den Tisch legte oder sich die Braut wortwörtlich bei den Brauteltern erarbeiten musste. Gegen den Widerstand von Vertretern örtlicher Traditionen setzte sich die christliche Eheschliessung und mit ihr das kirchliche Ehemonopol erst im 12. Jahrhundert durch.

Ab dann verbreitete sich in Westeuropa auch allmählich das Konsensprinzip und ein gegenseitiges Einverständnis zwischen Mann und Frau wurde vermehrt erforderlich. Jedoch hatten auch in der mittelalterlichen Schweiz längst nicht alle Bürger das Recht zu heiraten. Grund- und Gutsbesitzer konnten, wie auch Mitglieder von Gilden und Zünften, nur dann heiraten, wenn sie den Beweis antraten, dass sie ihre Familie finanziell unterhalten können. Die Ehe war für mehr als die Hälfte aller Bürger und Bürgerinnen unerreichbar. Doch sie entwickelte sich, und erfüllte mit der Zeit immer mehr Funktionen.

Unsere Vorfahren konnten dank der Ehe die Geburten sowie die Kindererziehung besser regeln. Die Ehepartner waren verantwortlich für ihre Nachkommen, konnten im Gegenzug aber von ihnen erwarten, dass sie sie im Alter hegen und pflegen würden. Als AHV, IV und jegliche weiteren Unterstützungsbeiträge noch in ferner Zukunft weilten, war die Ehe die wichtigste Not- und Solidargemeinschaft vieler Bürger. Während die Vertreter des Klerus als vollkommen angesehen wurden und weder Sexualität noch viel Solidarität benötigten, konnte sich der Mittelstand wenigstens durch die Heirat vom herumstreunenden, unverheirateten Pöbel abheben. Dass in den Königshäusern ohnehin nur aus strategischen und dynastischen Gründen geheiratet wurde und dies meist in der eigenen Familie, ist historisch dokumentiert.

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Erst in der Neuzeit fing die Liebesehe an aufzublühen. Die Auffassung, die Ehe mit der Liebe, also eine Institution mit einem Gefühl zu verknüpfen, gewann als akzeptiertes Modell dagegen erst im 20. Jahrhundert Oberhand. Trotzdem war die Ehe oft an eine strenge gesellschaftliche Ordnung gebunden. Die konfessionsverbindende Ehe (zum Beispiel zwischen einer reformierten Frau und einem katholischen Mann) war bis in die Vorkriegszeit noch vielerorts verpönt und in den USA war die Ehe zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe noch bis 1967 in vielen Staaten illegal.

Als Ende der 1960er-Jahre voreheliche sexuelle Erfahrungen zunahmen und aussereheliche Kinder sowie ledige Mütter nicht mehr überall gesellschaftlich verurteilt wurden, wurde auch die Ehe unwichtiger. Doch prophezeite man in den 1970er Jahren noch das bevorstehende Ende des Ehestandes, erlebte er in den folgenden Jahrzehnten eine Wiedergeburt. Sank die Zahl der Eheschliessungen von 1970 auf 1980 um gut einen Viertel (von 47.000 auf 36.000), hält sie sich seit 2000 relativ stabil (bei ungefähr 40.000). Zu den altertümlichen Motiven wie Sicherheit, Kinder und geregelter Sexualität wurde Liebe hinzugefügt—die neue Ehe war geboren. Aus Freude an Traditionen zelebrieren wir Eheschliessungen wie in alten Zeiten und schwören uns lebenslange Treue.

Die Institution Ehe war und ist im steten Wandel. Während sich zahlreiche Eltern über Jahrtausende lieber Söhne als Töchter wünschten, damit der Familienname bestehen konnte, behalten zum Beispiel beide Ehepartner in der Schweiz seit dem 1. Januar 2013 bei der Heirat grundsätzlich ihren eigenen Familiennamen. Die Ehe hat sich somit in ihrer Geschichte immer wieder modernisiert und ihre Wandlungsfähigkeit stets unter Beweis gestellt. Zugegeben, manchmal muss man in der Politik wohl eine gewisse Nachsicht für die Faktenignoranz mancher Initianten pflegen. Doch falls die EDU tatsächlich die ursprüngliche Ehe erhalten möchte, müsste sie sich folgerichtig wieder für die Kaufehe einsetzen.

Die Initiative "Schutz der Ehe" beweist, dass Fakten für die EDU keine Rolle spielen. Doch Fakt ist, dass die Ehe keineswegs natürlich ist. Vielmehr ist sie gesellschaftlich konstruiert und entwickelt sich mit den Menschen und nicht gegen die Gesellschaft. Fakt ist auch, dass sich die Ehe in ihrer Geschichte stets veränderte und besonders in der Schweiz nicht mehr in ihrer ursprünglichen Art besteht. Fakt ist, dass wir, die Bürger und Bürgerinnen, die Macht haben, für oder gegen Initiativen abzustimmen. Der französische Schriftsteller André Malraux schrieb: "Mit der Macht kann man nicht flirten, man muss sie heiraten". Ich hoffe, dass die Wähler und Wählerinnen des Kanton Zürichs seinem Aufruf folgen. Und für die EDU ist es wünschenswert, dass sie bei der nächsten Initiative eine Beziehung zu Fakten aufbaut, und prüfe, bevor sie sich ewig mit einem postfaktischen Initiativtext bindet.

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