So fühlt es sich an, mit chronischen Schmerzen zu leben
Illustration: Sarah Schmitt | Skelett: National Library of Medicine | Wikimedia | Public Domain

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So fühlt es sich an, mit chronischen Schmerzen zu leben

Wenn selbst erfahrene Ärzte dir nicht mehr glauben, dass du ein Problem hast, bist du richtig am Arsch.

Ich sitze mal wieder unruhig in der letzten Reihe des Seminarraums. Der Professor hält seinen Vortrag. Ich versuche dran zu bleiben, aber wie so oft klappt das nicht so richtig. Mein ständiger Wegbegleiter, der stechend-brennende Schmerz, zieht sich von unterhalb meiner linken Leiste in meinen Rücken, dann hinunter über mein linkes Bein in meinen Fuß. Ich wechsele die Sitzposition. Ganz aufrecht, so wie sie es mir in der Physiotherapie beigebracht haben. Das hilft ein bisschen. Aber nicht lange. Nach wenigen Minuten hat mich der Schmerz wieder eingeholt. Er ist meistens nicht so stark, dass ich aufschreien müsste, aber er ist immer da. Morgens beim Aufstehen, nachts wenn ich im Bett liege, und die meiste Zeit dazwischen. Ein zermürbender Zustand.

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Genervt öffne ich meinen schwarzen Rucksack. In der kleinen Seitentasche befinden sich etwa 20 Heftchen mit verschiedenen Medikamenten. Zuhause habe ich mittlerweile eine große blaue Mülltüte voll mit dem Kram. Nach kurzem Überlegen entscheide ich mich doch dagegen. In letzter Zeit habe ich keinen Bock mehr auf das Zeug. Hilft ja doch nicht wirklich und lässt mich rumlaufen wie einen Zombie. Im besten Fall macht mich das Zeug so träge, dass mir die Schmerzen egal sind, doch heute will ich einen klaren Kopf behalten, um im Unterricht nicht noch mehr zu verpassen. Zumindest halten mich die Schmerzen vom Einschlafen ab.

Nach weiteren zwanzig Minuten ist Pause. Endlich kann ich aufstehen, mich bewegen, und der Schmerz gibt für einen Moment Ruhe. Doch es bleibt bei diesem Moment. Ich lebe seit Jahren mit ihm und es sieht nicht so aus, als würde mich mein ungebetener Begleiter so bald verlassen. An manchen Tagen ist es nicht so schlimm, an anderen dafür furchtbar. Ich weiß nicht wirklich, was den Schmerz begünstigt und was ihn verschlechtert. So geht es mir jetzt seit fast vier Jahren. Chronische Schmerzen sind scheiße. Aber irgendwie muss das Leben ja weitergehen, oder?

Der Wechsel zwischen einer weitgehend beschwerdefreien Existenz und einem Leben mit ständigen Schmerzen kam bei mir verblüffend plötzlich. Es hatte so gar nichts von der Dramatik, mit der lebensverändernde, medizinische Probleme für gewöhnlich im Kino inszeniert werden. Beim Sport hatte ich mir die Leiste gebrochen und deshalb wurde sie operiert. So weit, so unspektakulär. Doch durch die OP verstärkten sich die Schmerzen, also wurde ich ein Jahr später noch einmal operiert. Das brachte wieder nichts. Es wurde nur noch schlimmer. Diesmal wurde ich die Schmerzen gar nicht mehr los—und scheinbar hatte auch die Hilfsbereitschaft meiner behandelnden Ärzte nachgelassen.

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Dieselben Fachleuchte, die mir zuvor mit einem Lächeln erklärten, eine solche OP wäre das alltäglichste der Welt und ich müsse mir überhaupt keine Sorgen machen, waren für mich, den nervigen Patienten, der ihre Sprechstunden belagerte und verzweifelt nach einer Lösung für sein Problem suchte, plötzlich gar nicht mehr zu sprechen. Sehr beliebt war auch die Variante, mich in andere medizinische Fachbereiche zu verweisen, die mich dann wieder zurückverwiesen, natürlich immer verbunden mit wochenlanger Wartezeit für einen freien Termin. Keine sonderlich beruhigende Situation für einen Menschen, dessen Leben plötzlich nur noch aus Schmerzen besteht, für die es scheinbar keine Erklärung gibt.

Einige Ärzte wurden sogar richtig wütend und fluchten, ich würde mir das alles doch nur einbilden. Bis heute habe ich für meine Situation keine richtige Diagnose bekommen. Nur wage Vermutungen ohne Gewähr. Natürlich machte ich mich im Internet schlau. Um die 12 Millionen chronische Schmerzpatienten gibt es laut der Deutschen Schmerzgesellschaft in Deutschland, in verschiedensten Härtestufen und mit den unterschiedlichsten Diagnosen. Vom chronischen Schmerzsyndrom spricht man, wenn der Zustand mehr als sechs Monate anhält.

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So oft ich auch in der Vergangenheit im Internet nach Wehwehchen gegoogelt hatte, die sich schließlich als harmlos herausstellten, so hoffnungslos schien dieser Fall zu sein. „Willkommen im Club der Verlierer", dachte ich mir, nachdem ich einige Erfahrungsberichte von Menschen gelesen hatte, deren Krankheitsgeschichte der meinen ähnelte. Nur dass ich diese Problematik seit wenigen Monaten hatte, und sich diese Leute offenbar schon seit Jahren, teilweise Jahrzehnten damit herumschlugen. Eine rosige Zukunft schien mich nicht zu erwarten.

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Bei aller schmerzbedingter Stagnation musste das Leben dann aber doch irgendwie weitergehen. Die Schmerzen waren sowieso immer da, egal ob ich faul auf dem Sofa hing, oder was unternahm. Ganz im Gegenteil, etwas Bewegung und vor allem die Ablenkung schien mir eher zu helfen, mit der Situation fertig zu werden. Es ist ja auch nicht so, dass auf chronische Schmerzen unbekannten Ursprungs irgendwer im alltäglichen Leben einen Scheiß gibt. Ein gebrochenes Bein, ein amputierter Arm, Gelbsucht—alles Leiden, bei denen du irgendetwas vorzeigen, die Ursache deines Schmerzes präsentieren kannst. Aber erklär mal deinem Arbeitgeber, der sowieso schon nicht der sympathischste Typ ist, dass du mit Mitte Zwanzig ständig Schmerzen hast und es völlig unabsehbar ist, ob sich das irgendwann wieder ändert!

Der Gedanke, dass so etwas überhaupt existiert und dass es theoretisch jeden treffen kann, ist für den Großteil der Menschen wohl ziemlich beängstigend und ich war erstaunt, wie viel Feindseligkeit mir in meiner eh schon problematischen Lage entgegen peitschte. „Hypochonder" ist eines der Worte, die häufig fielen, während ich verzweifelt versuchte, mein Leben so gut wie möglich weiterzuführen. Irgendwie musste ich ja Geld verdienen. Nach einigen Monaten bitterer, körperlicher Arbeit, fing ich ein Studium an einer Filmhochschule an. Ich dachte, das würde mir die Zeit geben, wieder auf die Beine zu kommen. Momentan bin ich im fünften Semester und noch hat sich nichts getan.

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Es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte: Physiotherapiestunden im guten zweistelligen Bereich, unterschiedlichste Schmerzmittel, Medikamente gegen Epilepsie, ein viermonatiger Besuch in einer ambulanten Schmerzklinik, schmerzlindernde Antidepressiva (sowohl die Pusher als auch die Sedierenden), Akupunktur, unzählige Male in der Röhre und unterm Ultraschall, Entspannungstherapie, Elektrotherapie und noch eine OP. Im Endeffekt hat nichts von alledem irgendwas gebracht. Trotzdem bleibe ich am Ball und habe meine persönliche Ärzte-Odyssee noch nicht aufgegeben. Mittlerweile habe ich mir zwangsläufig ein medizinisches Fachwissen angeeignet, das mich für längere Gespräche sowohl mit Medizinern, als auch mit Junkies prädestiniert.

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Nächsten Monat steht eine weitere Operation an. Diesmal sogar eine „offiziell" riskante. Da keiner mit Sicherheit sagen kann, woher die Schmerzen überhaupt kommen, sind die Erfolgschancen eher übersichtlich. Aber was das angeht, habe ich ja sowieso nicht so sonderlich viel zu verlieren—schließlich scheint es bisher nur eine Sache zu geben, die gegen die chronischen Schmerzen hilft: andere Schmerzen. Ich habe gelernt, dass mein Gehirn sich nicht auf zwei Schmerzherde gleichzeitig konzentrieren kann. Somit ist jeder neue Schmerz gleichzeitig auch eine Entspannung für meine Stammschmerzregion. Klingt strange, funktioniert aber.

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Am Anfang kam mir das Leben mit chronischen Schmerzen vor wie die Hölle auf Erden und ich wusste nicht, wie lange ich so weitermachen könnte. Mittlerweile habe ich mich etwas besser mit meiner neuen Situation arrangiert, auch wenn es trotzdem nicht das Gelbe vom Ei ist. Im Alltag muss ich mich meistens mit irgendwas ablenken. Im besten Fall werde ich hyperaktiv und mutiere zum Klassenclown oder gerate in eine regelrechte Arbeitsmanie. Faul auf der Couch zu hängen ist in diesem Zustand einfach nicht mehr dasselbe wie früher. Die Kehrseite der Medaille ist die extreme Aggression, die meine scheinbar aussichtslose Situation manchmal in mir wachruft. In solchen Momenten macht mich alles rasend. Besonders andere Menschen.

Inzwischen gelingt es mir meistens mich zurückzuziehen, wenn ich merke, dass so eine Attacke kommt. Am schlimmsten ist es in meinem Nebenjob oder in der Uni, wenn ich nicht die Möglichkeit habe, Konfliktsituationen aus dem Weg zu gehen. Cool bleiben war vor der ganzen Sache irgendwie einfacher. Beeindruckend ist auch, wie sich meine Unzufriedenheit auf andere Bereiche des Lebens ausweitet. Ich stehe gerade kurz vor meinem fünften Umzug in vierzehn Monaten und es gibt kaum ein von mir in den letzten Jahren gekauftes elektronisches Gerät oder Kleidungsstück, das ich nicht zigmal zurückgegeben oder umgetauscht habe.

Im Allgemeinen hat mich mein Leben mit dem Schmerz zu einem anderen Menschen gemacht. Mittlerweile bin ich einfach wahnsinnig zynisch geworden und habe keine Vorstellung davon, wie es in Zukunft mit mir weitergehen soll—ein State of Mind, der auf Frauen nicht sonderlich anziehend zu wirken scheint. Ganz abgesehen davon, dass das Selbstbewusstsein bei chronischen Schmerzen auch nicht unbedingt exorbitant steigt. Und dann ist da noch die Sache mit dem Sex. Grundlegend klappt das zwar alles, da sich allerdings mein Samenstrang komplett durch das Schmerzgebiet zieht, verschlechtern sich die Symptome anschließend meistens deutlich. Erstaunlicherweise hat das aber nur sehr bedingt Einfluss auf mein Sexleben. Um den männlichen Fortpflanzungstrieb zu sabotieren, müssen offenbar ganz andere Geschütze aufgefahren werden als ein bisschen Schmerz.

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Abgefahren ist auf jeden Fall, wie viele Leute mittlerweile denken, dass ich ein Drogenproblem habe, obwohl Drogen in meinem früheren Leben nie eine besonders große Rolle gespielt haben. Eigentlich kann ich es ihnen nicht verdenken. Mittlerweile trage ich so oft es sozial irgendwie vertretbar ist eine Jogginghose, da der Gürtel meiner Jeans sonst unangenehm in meinen Schmerzbereich drückt, und wirke damit wahrscheinlich auf viele wie der Inbegriff des kiffenden Hängers. Außerdem bin ich von den Nebenwirkungen der Medikamente oft völlig zugedröhnt oder überdreht (kommt ganz auf das Medikament an), sodass es mir extrem schwerfällt, mich zu konzentrieren. Zusätzlich habe ich angefangen, meine OP-Narben mit Procain zu behandeln, was dazu führt, dass ich regelmäßig Kanülen und Spritzen dabei habe.

Obwohl dieses Drama jetzt schon eine ganze Weile im Loop läuft und ich der Welt und meiner Zukunft wohl ziemlich pessimistisch gegenüberstehe, habe ich aus irgendeinem Grund tief in mir drin die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass irgendwann dieser eine besondere Doktor mit der Wunderpille oder dem Zauberskalpell anrückt und sich alles zum Guten wendet—oder, realistisch gesehen, zumindest zum besseren. Bis dahin versuche ich trotz der Schmerzen, mein Leben so gut es eben geht zu leben. Ich habe schließlich keine andere Wahl.