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Nein, Zürich ist kein Paradies für Linksextreme

Obwohl ein NZZ-Kommentator das gerne so hätte.
Foto: Andres Herren

Die NZZ veröffentlichte am Montagabend einen Text, in dem sie Zürich eine seltene Ehre erweist: Ihr Autor Lucien Scherrer krönt die Limmatstadt zum Paradies für linksextreme Gewalttäter. Hier könnten sie ungestört randalieren und wüten—vom rot-grünen Selbstverständnis der Stadt würden sie trotz allem verhätschelt. Dabei müssten Linksextreme auf absolute Nulltoleranz stossen—genau wie rechtsextreme Gewalt eben.

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Natürlich stösst seine Argumentation auf so einige Probleme. Hätte Scherrer auch nur einen Blick in den Lagebericht des Nachrichtendienstes geworfen, wüsste er das. Dort schreibt der Bund etwa unter dem Titel „Linksextremismus" nämlich davon, dass die Intensität der Gewaltausübung in jüngster Zeit eher nachgelassen habe. Im Gegenzug dazu liest man unter dem Titel „Rechtsextremismus", dass die rechte Szene wohl über grössere Sammlungen funktionstüchtiger Waffen verfügt. Doch das bleibt nicht das einzige Problem von Scherrer.

Linke Gewalt wird gar nicht akzeptiert

Lucien Scherrer geht von einer simplen Annahme aus: Wenn Linksextreme in Zürich Schaufenster einschlagen, reden andere, weniger extreme Linke das klein—oder akzeptieren es sogar. Was er dabei nicht erwähnt: Das ist Bullshit.

Scherrer macht seine Annahme an drei Ereignissen fest: Der eingekesselten und abgeführten Gegendemo zum diesjährigen „Marsch fürs Läbe", an der von der Polizei mit Gummischrot aus der Langstrasse gedrängten Refugees Welcome-Demo vom September und an den kaputten Schaufenstern der Europaallee nach der Reclaim the Streets-Demo vom letzten Jahr.

Das Problem: Am „Marsch fürs Läbe"—Scherrer zwischentitelt liebevoll mit „‚Friedliche Gewalttäter"—und der Refugees Welcome-Demo, deren Anführer er als „gewaltbereite Linksextremisten" erkannt haben will, gab es keine Gewalt—ausser von Seiten der Polizei.

Wieso wir das wissen? Am „Marsch fürs Läbe" standen wir selbst als Beobachter neben den 100 Gegendemonstranten, die von der Polizei präventiv eingekesselt, mit Pfefferspray eingedeckt und zur Nacktuntersuchung in Kastenwägen abgeführt wurden. Im Gegensatz zu uns glänzte der Schwarze Block durch Abwesenheit—wie wohl auch Herr Scherrer.

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Alle Fotos von Jan Müller

Die Refugees Welcome-Demo wurde gut zwei Wochen vorher von der Polizei mit Gummischrot gestoppt. Nicht weil die Demonstranten gewalttätig wurden, sondern weil sie in die Langstrasse abgebogen sind. Angeführt wurde der Demozug vom Nachwuchs der Bewegung für den Sozialismus.

Ob die spontane Verwandlung der Kundgebung in einen Demozug OK war, darüber kann man diskutieren—was die Jugend der Bewegung für den Sozialismus anschliessend auf Facebook auch fleissig tat. Statt der gewaltvollen wählten sie also die kommunikative Offensive. Oder ist für Herr Scherrer das Betreten der Langstrasse schon ein Akt der Gewalt?

In einem Punkt hat Scherrer Recht: Die Reclaim the Streets-Demo ging zu weit. Aber anders als von ihm behauptet, wurde die Randale in der Europaallee von der Linken nicht einfach hingenommen—sie wurde verurteilt. Oder wie sonst erklärt sich Herr Scherrer, dass sich praktisch die ganze Medienschweizauch unsere Autoren—gegen die Randalierer stellte? Laut dem ehemaligen Arbeitgeber von Scherrer—der Weltwoche—sitzen in den Redaktionsstuben ja hauptsächlich Linke.

Gewalt ist nicht gleich Gewalt

Es ist tatsächlich so, dass sich linke Gewalt moralisch überlegen fühlt. Diese moralische Überlegenheit kommt aber nicht aus irgendeinem politischen Programm—kein politisches Programm ist schliesslich dazu berechtigt, Gewalt zu predigen. Das Gefühl der Überlegenheit ist dem Umstand geschuldet, dass sich linke Gewalt vor allem gegen tote Dinge richtet. Gegen Polizeiposten, Autos oder eben die Europaallee.

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Wenn diese Dinge zerstört werden, entstehen Kosten, die in den meisten Fällen von Versicherungen getragen werden. Bestimmt gibt es auch Geschäftsausfälle—aber auch die sind meistens gedeckt. Und wenn nicht, muss eben der Unternehmer etwas mehr Geld in die Hand nehmen. Geld, das in andere KMUs investiert wird. Übrigens kann es aber auch passieren, dass—wie im Fall der kaputt geschlagenen Europaallee—die Geschäfte mittelfristig von solch einer Krawallnacht profitieren.

Nein, die Gewalt ist deswegen noch lange nicht berechtigt. Doch unterscheidet sich linke von rechter Gewalt in der Praxis bisher häufig dadurch, dass nach linker Gewalt meistens ein paar Fensterscheiben ersetzt werden müssen und nach rechter Gewalt bestenfalls ein paar Kniescheiben—was übrigens auch der Nachrichtendienst bestätigt.

Dadurch ist linke Gewalt nicht nur weniger schlimm, sondern auch—das dürfte den bürgerlichen Herr Scherrer besonders freuen—billiger. Eine Fensterscheibe muss der Ladenbesitzer einmal ersetzen, zum Psychiater oder Arzt muss das Opfer rechter Gewalt, je nach Schwere und Auswirkung, länger.

Es hat auch mit Glück zu tun

Es ist wenig überraschend, dass linksextreme Gewalt dem bürgerlichen Herrn Scherrer so unverhältnismässig aufstösst. Irgendwann konnte der Begriff „Glück" im verfassungsgegebenen Recht auf die „Verfolgung des eigenen Glücks" nicht mehr gleichgesetzt werden. Seitdem haben sich die demokratischen Regierungen dieser Welt—auch die Schweizerische—darauf geeinigt, Glück mit individuellen Wohlstand gleichzusetzen. Glück ist also—soweit es die bürgerliche Politik betrifft—gleichbedeutend mit Geld.

Geld finden alle gut—das passt schon. Wenn aber jemand das Geld—oder eben den Besitz—angreift, ist das im bürgerlichen Verständnis ein fundamentaler Angriff auf die Gesellschaft. Gleichzeitig ist jemand, der oder die unter Glück etwa bezahlbare Mieten oder die Beendigung des Welthungers versteht, ein ideologischer Feind jener Gesellschaft, die Herr Scherrer als die Richtige verteidigt.

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Wir lernen

Herr Scherrer zeigt sich also von seiner polemischsten Seite. Ohne aktuellen Anlass stänkert er gegen alles, was links der Mitte lebt—und unterstützt die NZZ fleissig bei ihrem Kurswechsel in Richtung lächelnde Sonne.

Das überrascht nicht, wurde Herr Scherrer schon von unabhängigen Medien als „Menschenrechte-Polemiker" bezeichnet, der hauptsächlich gegen die „NGO-Lobby" anschreibt und damit strikt auf SVP-Kurs fährt: Schweizer Recht steht über Menschenrecht.

Till ist auf Twitter: @Trippmann

Sebastian auch: @nitesabes

Und VICE Schweiz auch: @ViceSwitzerland


Titelbild von Andres Herren