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Wie es ist, in einem Kriegsgebiet zu studieren

"Wir mussten vergangenes Jahr dreimal für getötete Kommilitonen beten. Es scheint kein Ende zu nehmen", sagt eine Studentin.
Alle Fotos: Ahmed Abu Draa

Während sie in der Vorlesung sitzen, hören sie draußen Gewehrsalven. Ihr Weg zum Campus führt durch zeitfressende Polizei-Checkpoints und ständig lauert die Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden. Im Norden der Sinai-Halbinsel sieht so der Uni-Alltag aus.

Die etwa 100.000 Menschen, die in der krisengeschüttelten Provinz im Osten Ägyptens studieren, verteilen sich auf zwei Universitäten: die staatliche Sueskanal-Universität und die private Sinai-Universität. Es sind die einzigen Hochschulen im größeren Umkreis und für viele Menschen damit die einzige Chance auf ein Studium.

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Khuloud studiert seit vier Jahren an der Sinai-Universität. "In dieser Zeit habe ich ein paar der schlimmsten Tage meines Lebens erlebt. Außenstehende können kaum begreifen, wie unfassbar schwer es ist zu studieren, wenn du dich pausenlos im Belagerungszustand befindest." Die 21-jährige Medienstudentin stammt aus el-Manṣūra, gut 300 Kilometer westlich von der Sinai-Universität entfernt. Während des Semesters lebt sie auf dem Campus. "Du gehst morgens zu deinen Veranstaltungen, ohne zu wissen, ob du am Abend zurückkommst. Wir mussten vergangenes Jahr dreimal für getötete Kommilitonen beten."

Khuloud

Der Konflikt auf der Sinai-Halbinsel begann 2011 als Nebenschauplatz der ägyptischen Revolution. Islamistische Terroristen sprengten systematisch Gaspipelines, die durch die Region nach Israel und Jordanien führen. 2012 fingen die Islamisten an, Polizei und Militär anzugreifen. Nach dem Militärputsch 2013 eskalierte der Konflikt zunehmend. Als Folge von Terror und brutalen Gegenschlägen des ägyptischen Militärs sind Hunderte Menschen getötet und Tausende vertrieben worden. Der bislang traurige Höhepunkt des Konflikts ereignete sich im November 2017, als IS-Sympathisanten im Dorf Rawda während des Freitagsgebets eine Moschee angriffen. Mindestens 305 Menschen kamen bei dem Anschlag ums Leben.


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Wenn Khuloud nach den Semesterferien von ihrer Familie zurück zur Sinai-Universität reist, fühlt sie sich oft von den aggressiven Polizeibeamten drangsaliert. "Die meisten Studierenden sind Ausländer und werden relativ gut behandelt, aber wir Ägypter werden an den Checkpoints misshandelt und gedemütigt", sagt sie. "Wenn ich von meiner Familie zurück zur Uni fahre, verlasse ich um 6 Uhr morgens das Haus, damit ich die Fähre erwischen kann, die noch am Vormittag den Sueskanal überquert. Da muss ich dann mindestens drei Stunden warten, um an das Ostufer zu kommen. Am Checkpoint werden meine Koffer dann routinemäßig durchsucht und komplett ausgeräumt – die totale Zeitverschwendung. Am nächsten Checkpoint das Gleiche."

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Einmal angekommen, werde es erst so richtig schlimm: "Wir leben in ständiger Angst. Gepanzerte Fahrzeuge patrouillieren pausenlos auf den Straßen. Ich habe maskierte Männer mit Waffen vorbeirennen sehen. Ich habe gesehen, wie Soldaten am helllichten Tag getötet wurden."

Roqaya

Ihre Kommilitonin Roqaya sagt: "Abgesehen von der täglichen Gewaltbedrohung ist es extrem nervig, dass das Internet und andere Kommunikationsnetze ständig unterbrochen werden – entweder während Militäroperationen oder durch IS-Anschläge auf die Infrastruktur. Gerade für mich als Medienstudentin macht es das wirklich schwer, irgendwas zustande zu bekommen. Wenn das Netz zusammenbricht, haben wir keine Möglichkeit, unseren Familien zu sagen, dass es uns gut geht. Manche haben angefangen, Briefe nach Hause zu schicken, andere bitten Taxifahrer um Hilfe, um ihre Familien wissen zu lassen, dass sie in Sicherheit sind. Falls mir irgendwas passieren sollte, würde meine Familie erst zwei Tage später davon erfahren."

Eigentlich sollen die angehenden Mediziner im Rahmen ihres Studiums Zeitungen oder Dokumentationen produzieren, "aber du kannst hier nicht einfach mit einer Kamera auf der Straße rumlaufen, das ist viel zu gefährlich", sagt Roqaya. "Wenn wir zu Semesterbeginn unsere Familien verlassen, nehmen wir sehr lange und emotional Abschied – wie Soldaten, die in den Krieg ziehen. Es hört aber auch nicht auf, wenn wir sicher zu Hause ankommen. Nachts denke ich an das, was ich tagsüber gesehen habe. Ich kenne keine einzige Person, die von dem Konflikt nicht emotional mitgenommen ist."

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Justina

Justina, eine 22-jährige Pharmaziestudentin an der Sinai-Universität, hat in den vergangenen Monaten mehrere Freunde durch Terroranschläge verloren. Erst vor Kurzem waren eine Kommilitonin und ihr Bruder, er studierte Ingenieurwesen, durch einen Sprengsatz am Straßenrand getötet worden.

Jamal Eldin aus Kuwait verlässt außer für Lehrveranstaltungen kaum noch sein Wohnheim. Bei ihm kommt zu der ständigen Bedrohung noch der finanzielle Aspekt hinzu. Dank der regelmäßigen und langwierigen Aussetzer im Kommunikationsnetz erreicht ihn häufig das Geld nicht, das ihm seine Familie monatlich zur Unterstützung überweist. Allein der Gedanke, bald seinen Abschluss in der Tasche zu haben, helfe ihm dabei, die Situation hier durchzustehen, sagt er.

Die meisten Studierenden, mit denen VICE spricht, sind sauer über die schlechte Behandlung durch das Militär. Der 20-jährige Alaa, der lieber anonym bleiben möchte, erzählt, wie er eines Morgens auf dem Weg zur Vorlesung an einem Checkpoint verhaftet wurde. "Sicherheitsleute haben nach meinen Papieren gefragt und ich habe ihnen meinen Studierendenausweis gezeigt. Trotzdem haben sie mich verhaftet." Die Sicherheitskräfte übergaben ihn an eine spezielle Antiterroreinheit, die ihn zwei Nächte ohne Angabe von Gründen festhielt. Seine Familie konnte er auch nicht kontaktieren.

Medienstudenten der Sinai-Universität

Trotzdem schätzt Alaa sich glücklich. Er kenne viele Menschen, die wesentlich länger und unter viel schlimmeren Zuständen festgehalten worden sind. Einheimische, so die allgemeine Wahrnehmung hier, würden in der Regel schlechter als Ausländer behandelt, weil sie in den Augen der Armee eher als potenzielle IS-Kämpfer infrage kommen.

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Obwohl Asmas Familie nur 30 Minuten von der Universität entfernt lebt, hat sich die 20-jährige Pädagogikstudentin wie viele andere dazu entschieden, auf den Campus zu ziehen. So umgeht sie die oftmals gefährliche Anfahrt.

"Bevor ich hierhergezogen bin, hat es mit dem Auto zwei Stunden gedauert, um durch die ganzen Checkpoints zu kommen", sagt sie. "Oft bin ich einfach ausgestiegen, um den Rest des Weges zu laufen."

Aber egal, wie vorsichtig die Studierenden auch sind, wirklich sicher sind sie nirgendwo. Vor ein paar Monaten erst wurde ein Teil des Hauptgebäudes der Universität zerstört, als an einem nahegelegenen Checkpoint eine Bombe explodiert war.

"Egal, ob Studierende und Lehrende, wir alle machen das gleiche durch. Aber wir fühlen uns natürlich verantwortlich für die Sicherheit unserer Studenten", sagt Amal Nasruddin, Leiter der Englisch-Fakultät der Sinai-Universität. "Es wird allerdings immer schwieriger, für ihre Sicherheit zu sorgen. Die Anschläge des IS werden immer schlimmer und finden mittlerweile fast im ganzen Norden der Sinai-Halbinsel statt. Seit 2014 habe ich so viele Studenten verloren. Der letzte hieß Mohammad Abu, aber angesichts der aktuellen Entwicklung weiß ich leider, dass weitere folgen werden."

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