Der Autor läuft mit Telegram durch Berlin.
Nicht der Autor | Foto: imago images / Rolf Zöllner
Drogen

Koks, Callgirls, Lockdown-Partys: Telegram hat mich durch Berlin geführt

Wer bei Telegram die "Gruppen in der Nähe" erforscht, sieht die Hauptstadt mit anderen Augen.

Mit ein paar Handgriffen wird Telegram, diese geheimnisvolle App der Wahnsinnigen und Geheimen, zum klandestinen Stadtführer. Ein Klick auf "Kontakte", einer auf "Leute in der Nähe finden", dann zu "Gruppen in der Nähe" scrollen, schon öffnet sich eine Welt, in der Hacker ihre Dienste anbieten, Drogen und Sex gehandelt und investigative Journalisten enttarnt werden, in der rechte Revoluzzer die Regierung und manche nur mit jemandem ein schnelles Bier stürzen wollen. Je nachdem, wo man sich physisch befindet, werden andere Chats angezeigt – "Gruppen in der Nähe" eben –, was eine Wanderung durch Berlin der etwas anderen Art ermöglicht. Dank Telegram wird jedes Smartphone zum Darknet to go.

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Ich laufe an einem Tag unter der Woche in Schöneberg los. Akazienkiez, alter Westen, die bürgerliche Fassade glänzt in der kalten Novembersonne. Dahinter bietet ein wenige Hundert Meter entfernter Gruppen-Admin kolumbianisches Kokain an, "High Quality", 89% Reinheitsgehalt, 1 Gramm für 90 Euro. Wucher. Dafür hat Pablo Escobar nicht gekämpft! Unter diesem Angebot postet jemand zwei schlafende Babys, das eine in ein blaues Tuch gewickelt, das andere in ein grünes. Koks und Kinder. Ich laufe mal weiter.

Am Rathaus Schöneberg werden mir zunächst zahlreiche Gruppen angezeigt, in denen nach "Ladys", "Ladys für Party" oder nach "Schwarzarbeit" gesucht wird. In einem Chat wird vor einem Dealer gewarnt, der nicht aufkreuze. 20 Minuten später meldet sich der Dealer: "Wir sind in eine Polizeikontrolle gekommen. Entschuldigung. Alles gut gelaufen." Einige routinierte Dickpics und viel feilgebotenes Pulver später entdecke ich die bisher mit Abstand traurigste Gruppe: Sexgeschichten. Vier Mitglieder. Ihre gesamte Konversation: Nutzer 1: "Hu." Nutzer 2: "Hi." Nutzer 3: "Hi." Nutzer 4: "Hi."


VICE-Video: Geständnisse eines Junkies


Telegram ist ja schon ein Phänomen. Islamisten nutzen den weitgehend unregulierten Messenger ebenso wie Querdenkerinnen, aber auch demokratische Demonstrierende von Belarus bis Hongkong. Gerne wird darauf verwiesen, dass der Dienst aus Russland stamme, als müsste dieser Umstand reichen, um das Böse zu erkennen. Gründer Pawel Durow aber lebt in Dubai, weil er nicht vor Putin und dem russischen Geheimdienst FSB kuschen wollte. Telegram also doch bei den Guten? Durow gibt in Interviews oft den Robin Hood, aber gerne auch Dinge von sich, die ihn als so neoliberal ausweisen, dass andere Neoliberale neben ihm wie Sozialromantiker wirken. 

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Ich will mal sehen, ob es in den noblen Ecken Berlins vielleicht ganz anders zugeht, und laufe nach Wilmersdorf. Ausgerechnet dort kriege ich einen Hacker rein, der für 50 Euro in einen Facebook- oder den Instagram-Account einbricht, für 100 Euro auch Handyüberwachung anbietet, gehackte WhatsApp-Nachrichten und SMS inklusive. Ansonsten sind auch die Wilmersdorfer vor allem auf Marihuana und Kokain aus, da unterscheiden sie sich nicht groß von anderen Berlinern. Etwas elaborierter kommen ein paar Angebote für Kryptowährungen und Bitcoin-Mining daher. "Interessieren Sie sich für Investitionen in binäre Optionen?" Weiter, immer weiter.

Screenshot von einer Nachricht in einem Telegram-Gruppenchat. Ein Dealer bietet Gras an und schreibt seine Geschäftszeiten dazu

Ein Megathema in der Pandemie

Natürlich stelle ich mir die Frage, ob Corona meine Wanderung irgendwie beeinflusst. Vielleicht bieten gerade mehr Leute über Telegram Drogen an, weil weniger Leute Drogen im Park kaufen. Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. In der Woche meiner Wanderung präsentiert jedenfalls die Drogenbeauftragte der Bundesregierung ihren Jahresbericht, bezeichnet Kokain als das aktuelle "Megathema". Therapie- und Beratungsangebote für Abhängige dürften trotz Pandemie nicht eingestellt werden. 

Berlin präsentiert sich an diesem Nachmittag sonnig und entspannt, aber ein bisschen auch so, als hätte die Stadt aufgegeben. OK, es gibt keine Nacht mehr, alles am Arsch, aber die neuen Rezepte auf lecker oder chefkoch oder was auch immer .de sind doch ganz zauberhaft. Ich bin fast froh, als ich einen einzigen Freak entdecke, irgendwo in Charlottenburg. Vor ihm steht eine orangefarbene Lieferando-Kühlbox, er selbst trägt eine dicke orangefarbene Jacke, eine Käppi mit der Aufschrift "Deus ex Machina". In einer Hand hält er einen dicken Dübel und in der anderen ein aufgeschlagenes Buch von Frank Herbert, einem Science-Fiction-Autor. So lehnt er an einen Fahrradständer, kifft und liest.

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Auf Telegram wird mir als Nächstes in der Gruppe "Leaf Express" ein komplettes Set für den Eigenanbau von Marihuana angeboten, passend zu einer Zeit, in der das Häusliche wichtiger wird. Ich umrunde den Zoologischen Garten und laufe westlich am Tiergarten vorbei, wo sich in einer Gruppe drei Pokemon Go-Spieler austauschen: "Meine neue Heimarena ist der Pissoir am Stephankiez." Ein Tattoostudio wird von Menschen nach illegalen Terminen gefragt, ganz "privat", bleibt aber standhaft. Ich laufe extra an der JVA Moabit vorbei, um Ausbrecher-Gruppen anzuzapfen, aber Fehlanzeige. Auch Telegram kann nicht alles.

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Was es aber doch alles kann, hat sich erst vor einigen Wochen gezeigt. Da haben Ermittler in Deutschland und Österreich 30 Objekte durchsucht. Sie ermitteln gegen 28 Verdächtige, es geht um Drogen- und Waffenhandel, auch um gefälschte Dokumente und gestohlene Daten, alles organisiert durch Telegram-Gruppen. Ob es an diesem Zugriff liegt oder nicht, Waffen bekomme ich an diesem Tag keine angeboten. Alles andere aber schon. Und unweit des Bundeskanzleramts wird es sowohl auf der Straße als auch auf Telegram politisch.

An der Schweizer Botschaft tigert ein Typ um drei Taschen zu seinen Füßen und brabbelt "die Maßnahmen, die Maßnahmen, Maßnahmen der Bundesregierung". Ich laufe erst weiter, kehre dann nochmal um, gehe wieder an ihm vorbei. "Die Maßnahmen, Maßnahmen, wenn die Maßnahmen …" Ich frage ihn: "Alles klar, bei dir?" Er antwortet nicht, beziehungsweise sagt irgendwas von "Maßnahmen". Lieber weg hier.

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Am Brandenburger Tor enttarnt eine Gruppe mit dem Wort "Patriot" im Titel einen investigativen Journalisten. Absurderweise hat er sich aber offenbar als Rechter bei Linken einschleichen wollen, wie ich schnell herausfinde. Warum ihn also die Patrioten enttarnen – also seine Leute –, bleibt schleierhaft. Vielleicht sind all die Querfronter, Querdenker, Quermeiner mittlerweile so durch, dass sie nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden können. Ein anderer Nutzer will Merkel "mit einem massiven Stop" aufhalten oder gar "rückwärts von der Bühne kippen". Er ist aber alleine in seiner Gruppe. Manche nutzen Telegram in schwierigen Zeiten also für Selbstgespräche.

Aber es gibt auch sehr ernsthafte Mobilisierung. Gruppen mit mehreren Hundert Teilnehmern, in denen zu Anti-Corona-Demos aufgerufen oder für ein "souveränes Deutschland" geworben wird. Wer so einer Gruppe beitritt, wird schon mal von einem Bot ermahnt, offene Verherrlichungen der NS-Zeit zu unterlassen, eben weil die Gruppen ja offen sind. Für wichtige Dinge verabredet man sich ohnehin lieber in privaten Chats. Dort wird dann das Deutsche Reich digital wieder auferweckt, "ein Friedensvertrag!!" gefordert und der baldige Zusammenbruch des herrschenden Systems beschworen.

Abends geht es richtig ab

Als ich weitergehe, Richtung Alex, entdecke ich eine Gruppe, in der sich Menschen auf Russisch über Berliner Verkehrsmittel, das Für und Wider von Zeitumstellungen und leckeren Kaffee-to-go austauschen. Entgeistert bleibe ich stehen. Diese Menschen wollen wirklich nur plaudern. Haben ausgerechnet die Russen nicht kapiert, worum es hier geht? Kennt ihr schon den? Treffen sich drei Russen auf Telegram zwischen Koks, Nutten und Waffen – und hängen einfach mal nett ab.

Später am Abend bin ich in Kreuzkölln, unweit vom Hermannplatz. Eine Gegend, die auch offline schon Darknet ist. Der Uhrzeit entsprechend werden die Themen schattiger. In einer Gruppe mit "Escort Service" im Namen verabreden sich Leute offen und mitten im Lockdown zu privaten "Sessions" ("30 min 80 Euro"), Menschen in der Gruppe "Partys in berlin" organisieren überraschenderweise eine Party in Berlin. Ein Nutzer verweist darauf, nichts mit Drogen zu posten, weil "hier sind zwei Leute drinne, die bei der Polizei arbeiten". Die Festlichkeiten müssen an diesem Tag aber ausfallen, eine "U-Bahn-Party" kommt nicht in Fahrt, einer der Organisatoren schreibt, dass er lange auf einer Polizeiwache in Potsdam festgesteckt hätte, weil sein Kumpel "fesch sein muss zu die Polizei". Kurz vor Mitternacht werden aus Anfragen Hilferufe. Sex. Stoff. Schnaps. "Was geeeeht?"

Screenshot einer Unterhaltung in der Telegram-Gruppe "Partys in berlin"

Am nächsten Morgen schaue ich noch mal bei Telegram vorbei und sehe als Erstes einen Berg weißes Pulver. Schon klar, schon klar. Als ich weiterlese, stellt sich der Post als Werbung für Magnesiumchlorid heraus - "bringt unglaubliche Vorteile für die Gesundheit!" Auch auf Telegram ist also nicht alles, wie es scheint. Aber fast.

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