Die unterirdische Lucky Charms Kanalkreuzung
Die unterirdische Lucky Charms Kanalkreuzung | Bild: Subterranean London / Prestel | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

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Infrastruktur Hacking is not a Crime

Weltkriegsbunker, U-Bahn-Tunnel, Breitbandleitungen und 60 Meter tiefe Kanalisationsbohrungen: Warum sich ein Infrastruktur-Hacker in die unterirdischen Betriebssysteme Londons einschleicht.

Abbey Mills Pumping Station A war einst ein zentraler Knotenpunkt des Abwassersystems der britischen Hauptstadt. Heute ist die 1868 errichtete Pumpstation im Osten Londons nur noch ein Relikt aus einer Zeit, als Fäkalienentsorgung noch mit viktorianischer Erhabenheit zelebriert wurde. Längst übernimmt ein grauer Funktionsbau in unmittelbarer Nachbarschaft die Abwasserregulierung, die früher von der Anlage mit dem Spitznamen „Cathedral of Shit" erledigt wurde.

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Während die historische Kulisse heute höchstens noch Filmteams oder geführten Touristentouren dient, spielt die Pumpstation für Infrastruktur-Hacker wie Bradley Garrett noch immer eine zentrale Rolle: Sie ist einer der Einstiegspunkte für ihre kilometerlangen Erkundungsgänge, mit denen die Urban Explorer Schicht für Schicht in die unterirdischen Betriebssysteme der Londons eindringen.

Ein schmaler Explorer robbt eines der Fallrohre entlang, öffnet von innen eine höher gelegene, nicht verschlossene Scheibe—und schon betritt eine mit Taschenlampen, hohen Gummistiefeln und Fotoapparaten ausgestattete Crew Station A. Von hier aus gelangen sie zunächst in die historischen Kanalisationstunnel, die einst mit 318 Millionen historischen Bazalgettekacheln (benannt nach Joseph Bazalgette, dem gefeierten Tiefbauingenieur des 19. Jahrhunderts) den Abwasserfluss der Hauptstadt des britischen Empires lenkten. Wenn es oberirdisch nicht regnet und der Tidenhub der Themse es zulässt, lassen sich von hier aus nach einigen Kilometern Fußmarsch unterirdische Wasserreservoirs und Backsteinbecken tief im Zentrum Londons erreichen.

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Station A der Abbey Mills Pumping Station bei Nacht (Ausschnitt) | Bild: Bradley Garrett | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

In seinem neuen Buch „Subterranean London" (Prestel) zeigt Bradley Garrett nun erstmals in vielen atemberaubenden Fotos, wie er und seine Kollegen von der London Consolidation Crew, den Untergrund ihrer Heimatstadt infiltrieren: Historische Regierungsbunker, Gänge voller fiberoptischer Kabelstränge, und die neuesten Tiefbohrungen, mit denen momentan das nationale britische Bahnnetz und Abwassersystem aktualisiert wird.

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Bradley Garrett gelangte im April 2012 zu weltweiter Berühmtheit als er mit zwei anderen Place-Hackern die 320 Meter hohen Kräne von The Shard erklomm und sich selbst auf der höchsten Baustelle Europas filmte. Eine Heldentat nach den Gesetzen des Urban Explorings (als erster einen Ort erobern und besonders atemberaubende Bilder schießen), vergleichbar mit den waghalsigen Kletteraktionen der berühmten russischen SkyWalker.

DIESE SYSTEME WURDEN MIT UNSEREN STEUERGELDERN ERRICHTET, WARUM SOLLTEN WIR SIE NICHT ERKUNDEN DÜRFEN?

Als ich mit Bradley über seine Erkundungstouren der vergangenen Jahre spreche, wird schnell deutlich, dass ihn nicht nur die Aussicht auf Fame als Urban Explorer antreibt, ihm geht es um eine kritische Archäologie der Metropolen, um einen Praxisbeweis für das Recht auf Stadt für alle:

„Ich möchte beweisen, dass wir die Routinen, die uns unsere modernen Metropolen auferlegen, brechen können. Hinter der Überwachung, die uns diszipliniert und der Privatisierung, die jeden urbanen Ort nach den Gesetzen der Verwertbarkeit optimiert, gibt es noch eine ganz andere Welt zu entdecken."

Für Bradley gibt es dafür keinen besseren Ort, als sich die Strukturen zu erschließen, die die funktionale Basis unserer modernen Städte bilden: „Diese Systeme wurden mit unseren Steuergeldern errichtet, warum sollten wir sie nicht erkunden dürfen, wenn wir verantwortungsvoll damit umgehen?" Bradley machte das Place Hacking zu seinem Dissertationsthema—und in teilnehmender Beobachtung zu seinem persönlichen Dokumentations- und Rechercheprojekt—, und veröffentlichte seine Arbeit schließlich 2012 in dem programmatischen Manifest Explore Everything.

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Die Versorgungsschächte mit Strom-, Gas- und Telekommunikationsleitungen öffnen sich für den gut informierten Place-Hacker dabei oft erstaunlich einfach. Zigarettenstummel, die Passanten achtlos in die Gullys werfen, stellen dabei noch eine der größten Gefahren dar. Das Eindringen in tiefere Anlagen verlangt von den Urban Explorern allerdings größere Anstrengungen: Für manche U-Bahn-Schächte nutzen sie die unschlagbare Mimikry von Leuchtwesten mit selbst aufgenähten offiziell klingenden Namen, während das demonstrativ gelangweilte Wedeln mit riesigen Schlüsselbünden Autorität gegenüber Bahnmitarbeitern garantiert. In anderen Fällen wiederum eröffnen sich die Zugänge erst durch langwierige Recherchen oder das Abseilen in Ventilationsschächte.

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Die unterirdische Lucky Charms Kanalkreuzung | Bild: Subterranean London | Prestel | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

Die meisten Aufnahmen der Ausflüge wurden bisher vor allem in speziellen Foren, konspirativen Deepweb-Gruppen und in harmloseren Fällen auch auf den öffentlichen Blogs der Place Hacker veröffentlicht. Die öffentliche Publikation der Bilder aus den Tiefen Londons ist keine Selbstverständlichkeit. Als ein Mitglied aus Bradleys London Consolidation Crew von den Buchplänen erfuhr, machte sie sich umgehend daran alle Explorer-Bilder, die noch in ihrem Haus lagerten, in ihrem Garten zu verbrennen. Insgesamt fehlen in „Subterranean London" die Arbeiten von mindestens sechs Explorern, mit denen Bradley und seine Crew losgezogen sind.

Auch Bradley hat die rechtlichen Folgen des Place Hackings schon zu spüren bekommen. Nachdem er mehrere Jahre unterwegs war, ohne einmal auf frischer Tat ertappt zu werden, ließ die British Transport Police ihn in Handschellen aus einem Flugzeug in London Heathrow abführen. Man hatte das Flugzeug extra wegen ihm und anderen Explorern an Bord auf dem Rollfeld stoppen lassen. Kurz nach seiner triumphalen Besteigung von The Shad begann damit ein juristisches Tauziehen, das erst vor wenigen Monaten ein Ende fand. Erst jetzt kann Bradley wieder offen und unbefangen über seine Aktionen der vergangenen Jahre sprechen. Das bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmte Recherche- und Bildarchiv wurde ihm jedoch bis heute nicht vollständig zurückgegeben.

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WIR HABEN MEHR ALS 300 LOCATIONS INFILTRIERT. DIE RECHTLICHEN PROBLEME BEGANNEN ERST ALS WIR ÖFFENTLICH DAVON BERICHTETen.

Die BTP wollt sich uns gegenüber nicht genauer über die Aktivitäten der Place Hacker äußern. Ein Sprecher der britischen Bahnpolizei sagte nur allgemein, dass man „zu laufenden Verfahren keine Auskünfte gibt, und im Übrigen jegliches Eindringen in die Anlagen als illegal und gefährlich verurteilt." Das Verfahren gegen die Gruppe der Place Hacker, das ihnen bis zu zehn Jahre Haft hätte einbringen können, wurde allerdings bereits in diesem April offiziell beendet, nachdem der Richter alle wesentlichen Anklagepunkte entkräftet und man sich auf eine Bewährungsstrafe einigte.

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Ein historische Steuereinheit des Telefonsystems im Kingsway Telephone Exchange | Bild: Subterranean London | Prestel. Compiled by Bradley Garrett | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

Als der französische Philosoph Jean Baudrillard in den 1970er Jahren in New York die Allgegenwart der Graffiti-Tags sah, meinte er, einen „Aufstand der Zeichen" auszumachen. Die Ausgeschlossenen vom Glamour Manhattans kämpften nicht mit politischen Parolen, sondern stellten den Wertetafeln und Images der Stadt ihre eigenen Markierungen entgegen. In ihrem eigenen Code sprachen die Tags davon, dass ihre Macher noch da sind. Identitätspolitik mit Marker und Edding.

Für Bradley Garrett reiht sich Place Hacking in diese Geschichte alternativer Stadtnahme gegen die herrschenden Vermarktungsregeln von Shopping-Areas und global angeglichenen Kreativquartieren ein. Place Hacker organisieren sich nicht, um Häuser zu besetzen, sie eignen sich Räume temporär an, und zeigen so, dass sie nicht zwangsläufig nur ihrer staatlichen oder wirtschaftlichen Bestimmung dienen müssen. Es sind kurzzeitige Umnutzungen, ähnlich einer foucaultschen urbanen Heterotopie.

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DIE FRAGEN SIND IMMER DIE GLEICHEN: WIE PROFITIEREN WIR DAVON? WIE KÖNNEN WIR DAS ZU GELD MACHEN?

Längst hat der postmoderne Kapitalismus, der seinen Mehrwert mit Images generiert, auch Street-Art in seinen Marketing-Mix integriert. Und auch Bradley erhält ständig Angebote, sein Place Hacking im Rahmen einer Werbekampagne zu inszenieren. Die Anfragen von großen Energy-Drinks lehnt er jedoch lieber ab. Als ich mit ihm über seine faszinierenden Ausflüge in den Londoner Untergrund reden will, landet unser Gespräch schnell bei den eigenen Gesetzen der Place Hacking Welt, seiner Vision vom „Keeping it Real" und seinem Plädoyer, dass viel mehr Menschen die unentdeckte Schönheit unter unseren Füßen erkunden sollten.

Wie sieht der Alltag eines Infrastruktur Hackers aus?

Recherchieren, neue Spots auskundschaften, über Zäune klettern, Informationen sammeln und verschiedene Möglichkeiten zum Einsteigen überprüfen. Und dann musst du eigentlich nur noch auf die idealen Wetterbedingungen warten und die Gebäude von allen Seiten erkunden, Fotos machen und einfach so oft wie möglich nachts losziehen.

In unseren Hochzeiten waren wir komplett nachtaktiv. Wir haben immer tagsüber geschlafen, um dann jede Nacht unterwegs sein zu können.

Wie bist du zum Explorer geworden?

Als ich gerade mit meiner Geographie Dissertation begonnen hatte, bin ich irgendwann auch mit einigen Urban Explorern auf eine Tour mitgegangen. Mir war ziemlich schnell klar, dass ich einfach nur dabei bleiben müsste und, dass fantastische Projekte entstehen würden, wenn ich ein paar Monate mit ihnen unterwegs bin. Daraus sind inzwischen mehr als fünf Jahren geworden.

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Als wir anfingen Londons U-Bahn Schächte zu erkunden, wurde uns nach und nach klar, dass es insgesamt 14 verlassene Bahnstationen gibt. Niemand hat je Bilder von den Stationen gemacht und einige von ihnen liegen seit 40 Jahren verlassen da. Niemand hat sie je gesehen—abgesehen von ein paar Sprühern und Bahnmitarbeiten. Unser Ehrgeiz war geweckt: Wir wollten in all diese Stationen reinkommen, sie erkunden und ihren historischen Zustand dokumentieren. Es hat ein bisschen gedauert, aber irgendwann haben wir es geschafft.

In den allermeisten Fällen sind eure Erkundungen illegal. Warum ist das für dich ein notwendiger Teil des Infrastruktur Hackings?

Ich will beweisen, dass die staatliche Kontrolle und Überwachung längst nicht unschlagbar sind. Die Sicherheitsvorkehrungen und Kamerasysteme, die du in westlichen Großstädten an jeder Ecke siehst und die dafür sorgen sollen, dass wir uns an die vorgeschriebenen Grenzen und Regeln des öffentlichen Raums halten, können überwunden werden. Hinter diesen mehr oder weniger dezenten Schranken und Zäunen der Gegenwart liegt eine ganz neue und unbekannte Welt.

DIE POLIZISTEN MEINTEN NUR: 'DAS SIND ZIEMLICH COOLE BILDER' — UND LIESSEN UNS GEHEN

Wie schafft ihr es, an all den Kameras vorbei zu kommen?

Das ist eigentlich recht einfach. Manchmal operieren wir mit Mimikry: Wir tragen offiziell aussehende Kleidung oder Westen, mit denen wir den Anschein machen, als wären wir zum Arbeiten da unten.

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Aber manchmal ist das gar nicht mal nötig: Zum Beispiel sind wir an Weihnachten, als die Züge nicht fuhren, vier Kilometer durch die Piccadilly Line spaziert. Wir sind über den Bahnsteig von Kings Cross an zwölf Kameras vorbeigelaufen. Das war um zwei Uhr nachts und nichts ist passiert. Keine Reaktion. Niemand sitzt hinter diesen Kameras.

Wenn du in diese Strukturen eindringst, wird dir erst so richtig klar, was Foucault mit seiner sozialen Regulierungsarchitektur des Panoptikums meinte. Wir disziplinieren uns nicht wegen der Konsequenzen der Überwachungsmaßnahmen, sondern schon wegen des theoretischen Überwachungsblicks. Schon alleine dadurch, dass wir die Kameras sehen, verändern wir unser Verhalten; die Kameras müssen eigentlich noch nicht einmal funktionieren. Das ist das kleine Geheimnis hinter diesen Sicherheitsmaßnahmen.

Wurdest du jemals während einer euren Touren festgenommen?

In den Tunneln und im Untergrund bin ich nie erwischt worden. Aber wir klettern manchmal auch auf Hochhäuser oder andere markante Gebäude und einmal bin ich dabei in Vauxhall erwischt worden. Den Polizisten war es eigentlich egal, was wir machten nachdem sie gemerkt haben, dass wir nicht klauen. Als wir meinten, dass wir nur Fotos machen würden und unsere Bilder zeigten, meinte einer der Polizisten: „Wow, die sind eigentlich ziemlich cool."

INFORMATIONEN SIND INZWISCHEN MEINE WÄHRUNG GEWORDEN.

Das private Sicherheitspersonal auf der Anlage war außer sich. Sie tobten, weil wir illegal ein Grundstück betreten hätten. Das ist aber in Großbritannien keine Straftat. Also haben die Polizisten uns einfach nur eine „Stop and Search Form" (vergleichbar mit dem deutschen Platzverweis) ausgehändigt und uns gehen lassen.

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Ich habe inzwischen rund ein halbes Dutzend solcher Verwarnungen gesammelt. Das einzige Mal, dass ich offiziell verhaftet wurde, war am Flughafen. Und auch wenn der Richter alle Punkte der Anklage letztlich fallengelassen hat und mir als Deal nur eine Bewährungsstrafe ausgesprochen hat, so habe ich bis heute immer noch Probleme, ein Visum vom Innenministerium zu bekommen.

Erst vor kurzem musste ich wieder klagen, um überhaupt eine Entscheidung zu erzwingen. Die Behörden hätten das sonst einfach bis nach meinem Abflug nach Australien verschleppt und ob mein Arbeitsvisum verlängert wird, war ohne Angabe von Gründen auch lange fraglich. Das sind die Nebenwirkungen vom Place-Hacking und sie machen meine persönliche Zukunftsplanung ziemlich schwierig.

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Durch einen Gully fällt Licht in den die North Thames Embankment Pipe Subway | Bild: Subterranean London | Prestel | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

Wieso bist du in rechtliche Schwierigkeiten gekommen?

Der Ärger begann, nachdem wir unsere Entdeckungen und Arbeiten veröffentlicht haben. Meine Crew und ich, wir haben alles erkundet, was wir wollten: Wir waren in den U-Bahn-Tunneln und Stationen, im Abwassersystem, in alten Luftschutzbunkern aus dem zweiten Weltkrieg, in Informationszentren aus dem Kalten Krieg, wir haben eigentlich alles gesehen.

Wir haben mehr als 300 Locations im Laufe von vier Jahren infiltriert und erkundet. Und ich wurde niemals verhaftet—bis zur Veröffentlichung meiner Dissertation: Explore Everything. Und da wurde mir klar, dass das Problem politisch ist. Aus polizeilicher und juristischer Perspektive gibt es eigentlich keine größeren Schwierigkeiten oder zumindest keinen Grund, einen solchen Aufwand in der Strafverfolgung zu betreiben.

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IN MOSKAU HEISST ES: SCHEISS DRAUF, WIR WERDEN EH VERHAFTET, LASS UNS DIE TÜR EINTRETEn

Als Störenfriede wurden wir erst abgestempelt, nach dem wir offen drüber gesprochen haben, wie wir den öffentlichen Raum erkunden. Unsere Aktionen machen für jeden deutlich, dass diese massiven Investitionen in die Sicherheitsmaßnahmen reine Geldverschwendung sind.

Das Problem ist also nicht das Infiltrieren der Orte oder das illegale Betreten von Grundstücken—das Problem ist darüber zu sprechen?

Ja, ich glaube schon. Der Staat will die Deutungshoheit behalten.

Außerdem sehen Politiker und Unternehmen keine Möglichkeit, mit Urban Exploring Geld zu verdienen. Und das ist für sie ein Problem. Unser öffentlicher Raum wird immer mehr privatisiert und alles, was sich nicht in das Schema von Werbung und Marketing packen lässt, wird bekämpft und behindert.

Das Sanatorium von Beelitz bei Berlin ist ein gutes Beispiel dafür. Urban Explorer sind seit Jahren dort unterwegs und erkunden den Ort. Irgendwann hat dann jemand gemerkt, dass sie Beelitz als Touristenattraktion vermarkten können und jetzt musst du dir eine Eintrittskarte kaufen, um die historischen Heilstätten zu besichtigen.

Vor ein paar Wochen waren einige meiner Freunde dort, um die riesige historische Krankenhausanlage zu erkunden. Plötzlich sehen sie durch ein Fenster draußen eine Führung vorbeigehen und der Tourguide ruft ihnen zu: „Habt ihr denn auch ein Ticket?" Meine Güte, das ist doch alles verrückt. Du brauchst jetzt ernsthaft eine Eintrittskarte, um ein verlassenes, verwildertes Gebäude zu besichtigen?

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Beelitz-Hailstätten | Bild: Bradley Garrett | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

Auch ich bin die ganze Zeit mit diesem Zwang zur Vermarktung konfrontiert. Andauernd bekomme ich Anfragen von Firmen, die mich in ihrer Kampagne haben wollen: 'Willst du nicht unsere Schuhe tragen, wenn du da runter kletterst?' Oder: 'Hey, sollen wir dich nicht mit Kleidung von diesem Energy Drink-Hersteller ausstatten?' Hier bemerkst du, was es bedeutet, dass heute wirklich alles eine Ware sein kann. Wir wollen einfach nur Gebäude und die Unterwelt erkunden, aber selbst diese Aktionen sind an der Schwelle zur Kommerzialisierung.

Nimm es mir nicht übel, aber das Gleiche passiert mir mit Journalisten. Alle fragen sich: Wie können wir davon profitieren? Was ist hier die spektakuläre Geschichte? Wie können wir Geld damit verdienen?

Gibt es Beispiele von großen Sponsorship-Deals bei Place-Hackern?

Ja, da wäre zum Beispiel James Kingston. Er klettert auf Baukräne, wie zum Beispiel über den Docks von Southhampton, auf denen wir auch schon waren. Früher hat er Parcours gemacht und jetzt lässt er sich möglichst spektakulär mit einer Hand von den Kränen hängen. Für uns sieht das alles etwas übermotivert und effekthascherisch aus, ehrlich gesagt. Aber natürlich liebt Channel 4 die Rolle des selbst erklärten „professionellen Abenteurers" und so haben sie ihm einen Deal für eine Fernsehsendung angeboten.

Und dann gibt es natürlich die beiden Explorer Vitaliy Raskalov und Vadim Makhorov, die von einem großen russischen Telekommunikationsanbieter gesponsert werden. Ich habe aber noch nie gesehen, wie sie das Unternehmen besonders ins Zentrum gerückt hätten oder deswegen ihre Pläne geändert haben. Ich will sie für den Deal auf keinen Fall verurteilen. Sie kommen aus einer kleinen Stadt im Norden Sibiriens und nutzen das Geld einfach, um herumzureisen. Aber sobald du dich auf diese Deals einlässt, kann das schnell auch eine wacklige Sache werden. (Der Fall von Vitaliy Raskalov zeigt übrigens ebenfalls die Repression der Urban Explorer gelegentlich ausgesetzt sein können, denn er saß 11 Tage am Moskauer Flughafen fest. Scheinbar nur da er als Rooftopper auf einer schwarzen Passagierliste gelandet ist.)

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Warum nimmst du kein Geld von Marken für dein Exploring an?

Wenn ich naiv wäre, dann würde ich sagen: Wow, was für eine tolle Gelegenheit, jetzt kann ich mein Geld als professioneller Urban Explorer verdienen. Aber sobald ich das Geld annehme, kompromittiere ich damit mein politisches Statement.

Jede Form von künstlerischem Ausdruck oder kreativem, alternativem Verhalten in der Stadt wird von der Vermarktungsmaschinerie einfach absorbiert und so letztlich weichgespült.

Was braucht es, um ein Place-Hacker zu sein? Was sind die Kosten?

Du benötigst nicht viel, das macht auch den Reiz aus. Du kannst einfach mit einer Taschenlampe losziehen. Du brauchst keinen Plan und eigentlich ist noch nicht mal eine Kamera notwendig—du kannst einfach los gehen und neue Orte entdecken.

Das Wichtigste ist, dass du dir unserer sozialen Konditionierung bewusst wirst. Von klein auf wurde uns beigebracht, dass es bestimmte Grenzen im privaten Raum gibt, an die du dich halten sollst, und dass Grenzüberschreitungen nicht akzeptabel sind. Das musst du überwinden.

Warum sind Leute in der Urban Exploring-Szene aktiv? Was sind ihre Motivationen?

Place-Hacker gehen ihrem Hobby aus vielen verschiedenen Gründen nach. Manche sind wegen der historischen Bedeutung von Orten unterwegs, andere einfach wegen dem Adrenalin. Manche wollen sich einfach an abgelegenen Orten besaufen und wieder andere suchen eine guten Party-Location.

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Sorgt dass nicht für Ärger unter den Place-Hackern?

Es gibt immer wieder Streit in der Szene. Leute, denen an dem geschichtlichen Wert eines Ortes liegt, geraten mit Explorern aneinander, die einfach nur einen unterirdischen Rave schmeißen wollen. Dann heißt es, hier wäre ein Spot zerstört worden. Und dann gibt es noch den Kampf darum, wer als erster drin war, wer zuerst ein Foto vorzeigen kann und wer es zuerst online hochlädt.

Beim Place-Hacking gibt es viele ungeschrieben Gesetze, wie eine Art Etikette. Was machst du mit den Fotos? Behältst du die Bilder für dich? Wann postest du sie im Internet? Wartest du bis andere den Ort erkunden können? Wenn jemand diese Regeln verletzt, dann könnten manche Leute richtig sauer werden.

Warum sollte man warten, bis man die Bilder veröffentlicht?

Manche warten, um den Platz nicht für andere zu zerstören, die durch verschärfte Sicherheitsmaßnahmen dann nicht mehr reinkommen. Aber es gibt auch rechtliche Gründe. Bei den verlassenen Bahnstationen ist es zum Beispiel so, dass ein Betreten von Gleisen und Bahngeländen als Ordnungswidrigkeit gilt, die nach sechs Monaten verjährt ist.

Als wir also all die verlassenen Bahnstationen erkundet haben, einigten wir uns darauf, die Bilder für sechs Monate aus dem Internet zu halten. Dann kannst du nicht dafür bestraft werden.

sewer skank from interrupture on Vimeo.

Wie werden die Bilder veröffentlicht?

Auch bei der Veröffentlichung gibt es mehrere Schichten. Die öffentlichste Form sind meist die Blogs der Explorer, wie zum Beispiel meine Seite, mit der ich mein Dissertationsprojekt dokumentiert habe. Dann gibt es halböffentliche Foren, auf denen die Leute die Bilder hochladen. Manche Bereiche dieser Foren sind dann wiederum nur mit speziellen Einladungen zugänglich.

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Und dann gibt es die Deepweb-Foren. Die wirst du niemals finden, außer wenn dich jemand dazu einlädt und dir die genau Onion-Domain verrät.

Also nutzt ihr auch das Deepweb und verschlüsselte Kommunikation?

Auf jeden Fall. Es gibt so viele krasse Bilder in den Darknet-Gruppen. Wenn Leute das öffentlich sähen, dann würden sie ihren Augen nicht trauen, was es eigentlich für eine Welt da draußen noch zu entdecken gibt.

Das Darknet ist extrem wichtig für uns. In dem Strafverfahren gegen uns hatte die Polizei natürlich alle Bilder aus unserem öffentlichen Blog und sie hatten sich die Meta-Daten der Bilder besorgt, um sie mit den Aufzeichnungen ihrer Überwachungskameras abzugleichen.

Das waren die Aufnahmen aus der Anfangszeit bevor wir gelernt haben, wie man Metadaten von Bildern vor dem Upload entfernt. Am Anfang haben wir einige fahrlässige Fehler gemacht. Wenn ich das damals gewusst hätte und all meine Aktionen noch mal durchführen könnte, dann würde ich wesentlich vorsichtiger vorgehen, auch was Verschlüsselung angeht und meine eigenen Sicherheitsvorkehrungen.

NIEMAND LACHT DICH AUS, WENN DU SAGST, MIR IST DAS ZU UNSICHER.

Inzwischen merkt auch die Öffentlichkeit immer mehr wie wichtig Verschlüsselung eigentlich ist. Vor fünf Jahren war das ein ziemliches Geek-Thema.

Inzwischen wissen wir ziemlich genau, wie wir uns verhalten müssen. Heute würde die Polizei bei einer Hausdurchsuchung nicht mehr viel finden. Ich habe damals den großen Fehler gemacht, dass ich vergessen habe, auch meine BackUp Festplatte zu verschlüsseln und so konnte ich die Quellen, die ich für meine Dissertation nutzen wollte, nicht schützen. Das macht mir bis heute zu schaffen. Damit muss ich leben.

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Ein Leitungstunnel, den dir Hacker auf Grund seiner Photogenität immer wieder besucht | Bild: Subterranean London | Prestel | Verwendet mit freundlicher Genehmigung

Gab es mal einen Moment an dem du dachtest, dass du dich in eine zu gefährliche Situation gebracht hast?

Nein, nicht wirklich. Gefahr ist relativ. Unaufmerksam die Straße zu überqueren, und dabei auf dein Telefon zu schauen ist in den meisten Fällen gefährlicher als das was wir tun. Zu unseren Ausflügen gehört eine Menge Recherchearbeit. Du kennst die Fahrpläne der Züge. Wenn du in Abwasserkanäle gehst, dann kennst du die Zeiten für Ebbe und Flut und du weißt wie das Wetter draußen sein wird. Deine größte Sorge ist meist, dass du nicht erwischt werden willst.

Ich war nie in einer Situation, wo es physisch wirklich gefährlich war. Natürlich willst du Herausforderungen annehmen. Aber wenn du merkst, dass du deine Grenzen überschreitest, dann gehst du einfach nicht weiter. Und alle in der Szene sind echt cool und kollegial. Niemand lacht dich aus, wenn du sagst: „Mir ist das zu unsicher, ich gehe jetzt nach Hause."

Gibt es eine Competition innerhalb der Szene? Zwischen den verschiedenen Explorer-Crews?

Oh ja, es gibt jede Menge Competition und Streit zwischen den unterschiedlichen Crews. Es gibt Gruppen überall auf der Welt. Und bis zu einem gewissen Grad sind wir alle connected. Wir fliegen nach Moskau oder Minneapolis, Paris, New York und wir treffen uns mit Crews. Wenn du einen wirklich coolen Spot entdeckt hast, dann kommen die Leute zu dir rübergeflogen oder im Gegenzug laden sie dich ein, um ihre Spots zu besichtigen. Es ist schon auch eine soziale Szene.

Dieser internationale Austausch erinnert mich an die Graffiti-Szene. Gibt es auch Unterschiede zwischen den Explorern in den einzelnen Ländern?

Ja, in Moskau zum Beispiel ist das Risiko einfach höher. Wenn du dort erwischt wirst, dann kann das echt Ärger bedeuten. Die Leute sind deshalb auch bereit, mehr Schaden anzurichten, weil sie sich denken: Scheiß drauf, wir werden eh verhaftet.

DIESE INSEL IST INZWISCHEN WIE EIN GEFÄNGNIS FÜR MICH.

Wenn du als Place-Hacker verreist, dann merkst du erst wie sehr sich die Methoden unterscheiden. Ich durfte schon ein paar mal die Schönheit feiner kultureller Differenzen erleben: Du bist in Moskau und versuchst ganz konspirativ irgendwo reinzukommen und deine Kollegen vor Ort sagen dir: „Was machst du da? Hau es einfach kaputt und du bist drin." Statt heimlich an einem Rohr hochzuklettern und das dritte Fenster da oben zu öffnen, wird dann eben einfach die Tür eingetreten.

Und dann gibt es zum Beispiel auch noch den Cave Clan in Australien. Sie sind seit den 1970er Jahren aktiv und haben sich in den 90ern auf einen kompletten Medienboykott geeinigt. Deshalb ist es auch verdammt schwer, überhaupt Informationen über sie zu bekommen, außer wenn du selber nach Australien fliegst. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum Australien immer noch ein recht sicherer Ort für Explorer ist. Da spielt sich alles sehr im Underground ab. Sowas müssen die Leute auch erstmal lernen. Auch in London wird es in Zukunft bestimmt um einiges konspirativer zugehen. Für Außenstehende wird kaum noch sichtbar sein, was eigentlich vorgeht. Aber es wird weiterhin viel passieren.

Was sind deine zukünftigen Pläne? Was hast du als nächstes vor?

Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Durch all die juristischen Scharmützel wurde ich meiner Zukunft beraubt. Die Conditional Discharge, die wir erhalten haben, war eine zweischneidige Sache, denn mit ihr war auch eine Bewährung verbunden. Wenn ich bei einer zukünftigen Recherche beim Place Hacking verhaftet werde, dann drohen drastischere Konsequenzen.

Ich lebe jetzt seit sechs Jahren in diesem Land. Meine ersten vier Jahre in Großbritannien waren einfach überwältigend. Wir haben unvorstellbare Entdeckungen auf unseren Touren gemacht. Aber irgendwann kam der Punkt an dem die britische Eisenbahnpolizei frustriert war, weil wir ständig ihre stillgelegten Anlagen erkundeten und Fotos hochgeladen haben.

Inzwischen ist diese Insel wie ein Gefängnis für mich. Wie soll ich mich auf Stipendien bewerben, wenn ich gar nicht weiß, wo ich leben werde und ob mein Arbeitsvisum verlängert wird? Wie sollen meine nächste geologischen Recherchen aussehen?

Ich muss mich immer daran erinnern, dass unser Place Hacking eigentlich eine echte Erfolgsgeschichte ist. Ich würde es wieder machen, auch wenn ich all die Schikanen und Probleme noch einmal erleiden müsste. Aber inzwischen bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich nicht mehr sicher bin, ob ich überhaupt in diesem Land bleiben kann. Aber wo sollen wir überhaupt noch hin, wenn wir der Überwachung und Disziplinierung in unserer globalisierten Welt entkommen wollen?

Dieser Zustand ist frustrierend, aber ich möchte weiterhin mit meinen Mitteln versuchen, die Kontrollgesellschaft zu entlarven. Deshalb bin ich auch froh mit dir zu reden, dieses Interview zu geben und die Sache publik zu machen. Ich glaube, inzwischen ist es bei mir genauso wie bei einem normalen Hacker: Informationen sind meine Währung geworden.

Dieser Artikel ist der erste Teil unserer neuen MOTHERBOARD-Serie Beton-Hacker, in der wir über Menschen und Projekte berichten, die ihre eigenen Versionen von Urbanität und vom Leben in den Metropolen der Zukunft verfolgen.

Wenn ihr weitere Beton-Hacker kennt, über die wir auch berichten sollten, könnt ihr uns gerne eine E-Mail an motherboard@viceland.de schreiben.