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Wir haben mit der kurdischen Popsängerin gesprochen, die ein Video an der IS-Front gedreht hat

Innerhalb weniger Monate ist Helly Luv so etwas wie eine Popkultur-Botschafterin von Kurdistan und den Peschmerga-Kämpfern geworden.

Anfang 2014 ist die kurdische Pop-Sängerin Helly Luv, die mit richtigem Namen Helen Abdulla heißt, untergetaucht. Kurz zuvor hatte sie ihr Musikvideo für „Risk it All“ veröffentlicht, eine pro-kurdische Anti-Kriegs-Hymne, die zu Morddrohungen von islamistischen Gruppen im irakischen Kurdistan und Ächtung seitens ihrer eigenen Familie geführt hat. In einem Gespräch mit The Guardian hat ihr Manager, Gawain Bracy (Geschäftsführer der G2 Music Group) gesagt: „[Sie hat] diverse Morddrohungen erhalten… hauptsächlich über soziale Medien […] Wir wollen keine Namen dieser islamistischen Gruppen veröffentlichen, weil wir [ihre] Handlungen nicht glorifizieren wollen.“

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Das Video zu „Risk It All“ hat seitdem vier Millionen Klicks bei Youtube gesammelt. Darin sieht man Luv, die sich über einen Löwen legt und mit weiblichen Peschmerga-Soldatinnen (der kurdischen Armee) tanzt, die Ak-47s in die Höhe recken. In einem Bericht von Reuters hieß es, dass dem Video viel Lob dafür entgegengebracht wurde, dass es den kurdischen Geist und den Kampf für einen eigenen Staat widerspiegelt. Es gab aber auch Kritik dafür, was einige als provokative Symbolik aufgefasst haben, die mit dem modernen Mix aus Tanz, HipHop und traditioneller Musik des Mittleren Ostens einhergeht.

„Es fühlt sich sehr unrealistisch an, um ehrlich zu sein“, sagt Luv auf diese Zeit zurückblickend. „Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, weil ich das Gefühl habe, dass das, was ich mache, so viel größer und so viel wichtiger ist.“

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Luv ist so etwas wie eine kurdische Shakira mit dem politischen Temperament von M.I.A.. Sie wurde im Iran geboren und ist in Finnland aufgewachsen, bevor sie mit der Absicht nach Los Angeles gezogen ist, ein Popstar zu werden. Mittlerweile ist sie 26 Jahre alt und verbringt einen Teil ihrer Zeit in der kurdischen Hauptstadt Erbil, knapp 90 Kilometer entfernt von der IS-Basis in Mosul (Teil des autonomen Gebiets, das von den Kurden beansprucht wird). Obwohl sie mehrere Morddrohungen bekommen hat, hat Luv geschworen, weiter Musikvideos im irakischen Kurdistan zu drehen—ein unerschütterlicher Standpunkt, der zur Entstehung ihrer zweiten Single „Revolution“ geführt hat.

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Der Trailer zu „Revolution“, der im Mai diesen Jahres veröffentlicht wurde, hat einen ziemlich guten Eindruck davon vermittelt, worum es bei Luv geht: kurdischer Nationalismus trifft lebhafte Popdiva. In dem 50-sekündigen Clip sehen wir Luv, die—in goldenen Absätzen, voller Bling und mit Patronengurten und rotem Palituch ausgestattet—mit rotem Lippenstift „Revolution“ auf eine Granate schreibt, bevor sie sie in einen Panzer lädt und abschießt.

Das komplette Video, das ein paar Tage später erschien, wurde von Luv und ihrer Crew nur drei Kilometer von der Kriegsfront zwischen IS und Peschmerga entfernt im Irak gefilmt. Darin sieht man echte kurdische Truppen auf dem Schlachtfeld und Luv—in voller Peschmerga-Uniform und mit leuchtend roten Haaren—die neben echten Panzern eine goldene AK-47 schwingt und marschierende Soldaten in den Kampf führt. In dem siebenminütigen Epos, in dem es ebenso um die politische Message wie die Musik geht, treten Luv und ihre Kameraden einer Armee aus maskierten Dschihadisten entgegen. Es ist nicht überraschend, dass sie das auf die „Most Wanted“-Liste des IS gebracht hat.

„Ich wollte wirklich die Realität des Krieges zeigen“, sagt sie. „Ich hätte es auch in Hollywood und Los Angeles, wo ich lebe, drehen können, aber da hätte ich nicht die echten Emotionen und den echten Kampf einfangen können. Ich musste die Wahrheit zeigen.“

Natürlich ist ein offenes Schlachtfeld nicht die einfachste Location, um dort zu filmen, und es hat drei Monate gedauert, bis sie all das Material zusammen hatten, das sie brauchten. Das kurdische Oberkommando war anfangs sehr zögerlich, sie überhaupt dort filmen zu lassen, da sie es für viel zu gefährlich hielten und sie es als zu nah am Schlachtfeld erachteten. Sie haben jeden Tag für ihre Sicherheit gebetet, sagt Luv. Ihnen wurde immer wieder gesagt, sie sollen ihre Köpfe unten behalten und oft kamen Geschosse der Crew ziemlich nahe. Am Ende des Videos sagt sie in die Kamera, dass sie „ungefähr drei Kilometer“ entfernt vom IS seien, bevor sie sich vor einem Granatenbeschuss duckt.

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„Zuerst haben sie uns gesagt, wir seien verrückt und mir haben sie gesagt: ‚Du bist nicht bei Verstand, meinst du das ernst?‘“, sagt sie. „Ich habe ihnen klar gemacht, was ich tun will und was meine Botschaft ist und ich habe ihnen versichert, dass diese Botschaft international verbreitet werden muss und die Leute erfahren müssen, was hier los ist.“

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Seit der Song im Mai veröffentlicht wurde, hat „Revolution“ über 1,2 Millionen Views gesammelt und Luv hat vom israelischen Fernsehen bis Channel 4 jedem Interviews gegeben, um über die Situation in ihrem Land zu sprechen sowie darüber, wie sie zur Musik gekommen ist. Innerhalb weniger Monate ist Helly Luv so etwas wie eine Popkultur-Botschafterin von Kurdistan und den Peschmerga-Kämpfern geworden.

„Meine Waffe ist meine Musik und meine Stimme, weil ich das Gefühl habe, dass ich mit meiner Stimme Millionen andere Leute erreichen kann“, sagt sie. „Und genau das ist passiert.“

Die Kurden, die hauptsächlich in der Türkei, in Syrien und im Irak beheimatet sind, kämpfen seit Jahrzehnten für einen unabhängigen Staat. Durch einen großen Wahlerfolg in der Türkei, bei dem die kurdische Partei HDP eine wichtige Rolle dabei spielte, dass Präsident Erdogan seine absolute Mehrheit im Parlament verloren hat, und ihren anhaltenden Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat, werden sie zunehmend einflussreicher.

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In der Anfangszeit des neuen irakischen Bürgerkriegs waren viele überrascht, als die irakische Armee gegenüber den einmarschierenden islamistischen Kräften einfach kapituliert hat. In dem Chaos waren, zumindest im Nordirak, die kurdischen Perschmergas, deren Name so viel bedeutet wie „einer, der dem Tod ins Auge sieht“, die einzigen, die weiter dagegen ankämpften. Nachdem sie nach der amerikanischen Invasion von 2003 die Anfänge eines eigenständigen Staates für sich erkämpft hatten, wollten sie sich diesen vom IS nicht wieder nehmen lassen. Seit August sind sie die einzige Kraft, die sich der ethnischen Säuberung der vielen Minderheitengruppen der Region entgegenstellt.

Die traditionell linke, säkulare und weitgehend egalitäre Politik der Kurden widerspricht auch vielen westlichen Vorurteilen gegenüber dem Mittleren Osten. Die Tatsache, dass auch Frauen unter den Peschmergas kämpfen und ihre gleichberechtigte Stellung innerhalb der kurdischen Gesellschaft stehen zum Beispiel im Gegensatz zu den Vorstellungen, die vom Orient herrschen.

„Wenn du dir die kurdische Geschichte ansiehst, dann gab es immer starke und kraftvolle weibliche Kämpferinnen und Anführerinnen, die sogar die Männer im Krieg angeführt haben“, sagt Luv. [Der IS] hat große Angst vor weiblichen Kämpferinnen und das sollte er auch.“

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Helly Luv stammt aus einer Familie von starken Frauen. Sie wurde 1988 als Helan Abdulla im Iran geboren, mitten im brutalen Krieg des Landes mit dem Irak—ein Konflikt, bei dem die berüchtigte Anfal-Operation gegen die Kurden durchgeführt wurde, die im Chaos des Krieges versucht hatten, ihre Unabhängigkeit zu erklären, und von beiden Seiten als Feinde angesehen wurden.

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Ihre Familie ist auf Pferden und mit bezahlten Schmugglern durch die Berge geflüchtet, um in die Türkei zu gelangen. Als sie dort ankamen, zusammen mit 100.000 anderen kurdischen Flüchtlingen, waren sie obdachlos und dazu gezwungen, auf der Straße zu leben, bis sie endlich in einem Flüchtlingscamp unterkamen. Nach neun Monaten wurde ihnen Asyl in Finnland gewährt. Sie gehörten zu einer Handvoll Kurden im Land. Helly hat dann dort ihre Kindheit verbrachtet, wurde von rassistischen Mitschülern jedoch wie eine Außenseiterin behandelt.

Musik und Performance haben ihr eine Flucht vor der Isolation und der kulturellen Ausgrenzung ermöglicht. Als sie 18 wurde, ist sie in ein Flugzeug in Richtung USA gestiegen. Nach ein paar deprimierenden Jahren in L.A., in denen sie „die hässliche Seite der Musikindustrie“ gesehen hat, wurde Luv letztendlich von Produzent Los da Mystro, der als Grammy-Gewinner für seine Arbeit mit Rihanna und Beyoncé bekannt ist, entdeckt und bekam einen Plattenvertrag angeboten. Trotzdem hat sie sich 2013 entschieden, einen Vertrag mit dem Label G2 zu unterschreiben und sich von einem Mainstream-R’n’B-Stil einem Sound zuzuwenden, der mehr von ihren Wurzeln beeinflusst ist. Dies hat dazu geführt, dass ihre Musik mehr Aufmerksamkeit erregt hat.

„Mein Problem war, dass die Musik, die ich in Los Angeles gemacht habe, nicht die Musik war, die ich wirklich mochte und machen wollte“, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, dass die Musik nicht ehrlich war und nicht echt, sie war fake. Ich wollte mehr vom Mittleren Osten einbringen.“

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Aus diesen Ideen entstand „Risk it All“, ihre erste große Single und ein optimistischer Beitrag zum Traum von der Unabhängigkeit ihres Landes, der zu ihrer neuen Bekanntheit führte. Das Video wurde in Kurdistan vor dem Aufstieg des IS gedreht und der Erfolg des Songs hat dazu geführt, dass Luv in Erbil in Kurdistan aufgetreten ist und bei Rudaw interviewt wurde, dem größten kurdischen Nachrichtenkanal im Irak. Der Song hat sie allerdings auch zur Zielscheibe gemacht. Nachdem sie Morddrohungen von religiösen Extremisten bekommen hat, zog sie sich zurück. In vielerlei Hinsicht war „Revolution“ ihr provokatives Comeback.

Obwohl von konservativer Seite Kritik an ihren provokativen Videos und den kurzen Röcken aufkam, mögen die Leute in Kurdistan das, was Luv macht. Sie sagt, dass „Risk it All“ und „Revolution“ große Unterstützung von Kurden auf der ganzen Welt erfahren hat und viele begeistert sind, dass ihr Anliegen von einer aus ihren Reihen so offen propagiert wird.

„Die Kurden haben den Song sehr stark unterstützt“, sagt sie. „Es ist ihre Geschichte, ihre Botschaft und ich habe wirklich sichergestellt, dass ich mit dem Video ihre Geschichte vermittelt habe—natürlich mit der Balance aus Popkünstlerin und politischer Botschaft.“

Diese politische Botschaft ist, dass die Kurden Hilfe benötigen. Sie brauchen Waffen, argumentiert Helly, und vor dem Hintergrund von 1,8 Millionen Flüchtlingen, die mittlerweile innerhalb der Grenzen leben, auch humanitäre Hilfe, um den neuen Staat, den sie aufbauen wollen, zu unterstützen. Ihr Potential ist endlich, sagt sie, und jeder, der kämpfen kann, ist an der Front und tut sein Bestes. Das steht im Gegensatz zum IS, dessen raffinierte Social-Media-Propaganda tausende Freiwillige auf der ganzen Welt anzieht und ihnen ein scheinbar unendliches Reservoir an Dschihadisten beschert. Abgesehen von einigen Gruppen westlicher Söldner, haben die Kurden keine vergleichbare internationale Unterstützung.

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VICE: Die Peschmerga haben keine Angst vor ISIS

„Wie soll Kurdistan all diese Leute unterstützen und zur gleichen Zeit gegen den IS kämpfen?“, fragt Luv.

Auch für den Aufbau grundlegender Infrastruktur im irakischen Kurdistan wird dringend Hilfe benötigt und Luvs Reisen in die Region haben dazu geführt, dass sie ihre eigene NGO ins Leben gerufen hat: Luv House. Sie arbeitet daran, das Leben der Tiere in der Region zu verbessern. Sie hat zwar noch keinen Löwen vor dem IS gerettet, die Gruppe hat aber die Bedingungen für Tiere im Gilkant Zoo in Erbil extrem verbessert—der mal als schlimmster Zoo der Welt bezeichnet wurde.

„Natürlich wird ein Zoo nicht viel verändern, es gibt viel mehr, das Kurdistan braucht“, sagt sie. „Wir brauchen internationale Tierorganisationen, die herkommen und Projekte durchführen, doch viele Leute haben Angst, herzukommen.“

Aber auch mit minimaler Unterstützung durch westliche Hilfe fangen die Peschmerga an, im Kampf gegen den IS das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. „Vor ein paar Wochen habe ich die Front in der Nähe von Mosul besucht“, sagt Helly. „Von dem, was ich gehört und gesehen habe, hat es sich stark verbessert. Die Peschmerga waren definitiv sehr gut, sehr mutig und sie haben wirklich das Ruder übernommen. Der IS war recht ruhig—so wie ich es gesehen habe, werden sie sehr schwach.“

Als wir über eine schwache Skype-Verbindung mit Luv gesprochen haben, war sie nur ein paar Kilometer entfernt von der Front in Erbil. Die Unterhaltung wurde mehr als einmal von Internet- und Stromausfällen unterbrochen. Aber trotz der Gefahr und den Drohungen, die sie umgeben, bleibt sie erst einmal dort und trägt ihren Teil dazu bei, indem sie die Botschaft verbreitet.

„Ich hatte das Gefühl, dass ich als Künstlerin etwas als Teil dieses Krieges machen muss“, sagt sie. „Und ich sage oft, dass meine Waffe nicht die Waffe ist, meine Waffe ist meine Musik und meine Stimme.

„Ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Stimme Millionen andere Leute erreichen kann und genau das ist passiert, sonst würde ich gerade nicht mit dir reden.“

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