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Kommentar

Weshalb die "SOKO Chemnitz" eine extrem doofe Idee ist

Das Zentrum für Politische Schönheit will "gesinnungskranke Problemdeutsche" bei den Protesten von Chemnitz identifiziert haben – und jetzt bei deren Arbeitgebern denunzieren.
Ein Screenshot der Website soko-chemnitz.de
Screenshot: soko-chemnitz.de | Verfremdung: VICE

Das Zentrum für Politische Schönheit hat Sachsens Strafverfolgungsbehörden ein unmoralisches Angebot gemacht. Ausgerechnet das linke Künstlerkollektiv, das einst Gräber vor dem Reichstag aushob, will nun die Polizei unterstützen. Dafür hat das Zentrum für Politische Schönheit (kurz ZPS) nach eigenen Angaben drei Millionen Bilder von 7.000 Verdächtigen ausgewertet, die bei den gewalttätigen Protesten in Chemnitz unterwegs waren. Sie sollen sich mutmaßlich fremdenfeindlich und rechtextremistisch geäußert haben.

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Das erklärte Ziel der "SOKO Chemnitz" benannten Aktion: Die Verdächtigen sollen bei ihren Arbeitgebern angeschwärzt werden. "Denunzieren Sie noch heute Ihren Arbeitskollegen, Nachbarn oder Bekannten und kassieren Sie Sofort-Bargeld", heißt es auf der Website. So würde Rechtsextremismus "unschädlich gemacht".

Ob Nazis ohne Existenzgrundlage friedfertiger oder gesprächsbereiter sind, darf bezweifelt werden. Aber einigen Twitter-Usern und -Userinnen reicht wohl schon die freudige Vorstellung, dass unter sächsischen Weihnachtsbäumen dieses Jahr nur Kündigungen liegen werden.

Wer den Leuten hinter der Website Hinweise auf eine der gesuchten Personen gibt, kassiert angeblich eine Belohnung. Die heißeste Ware, ein korpulenter Typ mit rasierten Schläfen und N.A.Z.I.-Shirt ("Nicht an Zuwanderung interessiert"), ist inzwischen wieder von der Seite verschwunden. Für einen älteren Herren mit Cowboyhut und Lederjacke gibt es aktuell 75 Euro. Die Summe können Spender beliebig mit Eingabe ihrer Kreditkartendaten aufstocken. Je nachdem, was ihnen der Kampf gegen Rechtsextremismus wert ist. Ob das Geld wirklich ausgezahlt wird, wissen wir nicht.

Auch warum ausgerechnet die abgebildeten Personen ins Visier der Hobbyfahnder geraten sind, ist unbekannt. Pauschal heißt es bei allen: "Verdacht auf unerlaubte Entfernung von der Demokratie".

Statt Details gibt es reichlich abstoßende Rhetorik. Die Rede ist von "Gesinnungskranken", "Problemdeutschen" und "#mobohnejob". Es scheint, als hätte sich das Künstlerkollektiv an den Parolen der Rechtsextremen orientiert, was die Provokation vielleicht verstärken soll. Vielleicht wollen sie der Polizei auch nur eine Retourkutsche für die fragwürdige Aufarbeitung des G20-Gipfels verpassen, im Zuge derer die Beamten Fotos von 104 Tatverdächtigen veröffentlichten.

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Die Erlaubnis zum Mithetzen

So oder so, der Plan geht gehörig schief. Denn die Künstler und Künstlerinnen haben offenbar so viel Zeit (angeblich "Hunderttausende Arbeitsstunden", was allein elf Jahre wären) in die Inszenierung der "Gesinnungskranken" gesteckt, dass ihre Ermittlungsergebnisse vergleichsweise mager wirken.

Jede bereits identifizierte Person hat einen eigenen Steckbrief, zum Beispiel "Der Begabte". Über Christian P. erfährt man, dass er Hooligans nahestehe und eine "Schule für besonders Begabte" besucht hätte. "Der Schalker" Dietmar R. rief im Netz angeblich zur Teilnahme an der "Pro Chemnitz"-Demo auf und teilt bei Facebook Beiträge, die sich an "Angela Merkel abarbeiten". Im Text über Sven Z. heißt es: "Der stolze Sachse skandiert gemeinsam mit seinem Hund 'Wir sind noch mehr – Aufstehen gegen linke Hetze!', lässt sich aber ansonsten schwer einordnen und wirkt eher friedlich". So weit, so uninteressant.


Auch bei VICE: Chaos in Chemnitz


Unter "Jetzt mithetzen" können die Besucher der Website angeblich die Arbeitgeber der Verdächtigen kontaktieren. Wie der Bayerische Rundfunk schreibt, landen die Nachrichten aber natürlich nicht bei den Vorgesetzten. Aber auch für die geouteten Demonstrierenden gibt es ein vergiftetes Friedensangebot. Damit der Eintrag gelöscht wird, müssen sie ein Schuldeingeständnis unterschreiben.

Wer "Zurück in die Bundesrepublik Deutschland" möchte, soll unterschreiben, dass er in Zukunft die freiheitliche, demokratische Grundordnung achtet und Straftaten mit rechtsextremistischer Gesinnung unterlässt, und eine Kopie des Personalausweises hochladen. Vielleicht ist die Aktion auch so angelegt, dass die Aktivistinnen darauf hoffen, somit tatsächlich an persönliche Details mutmaßlicher Rechtsextremer zu kommen.

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Die Aktion ist als Medienspektakel inszeniert

Aus jeder Zeile tropft die moralische und intellektuelle Überlegenheit des Kollektivs, und wie jede Aktion des Zentrums für Politische Schönheit ist auch die "SOKO Chemnitz" in erster Linie als Medienspektakel angelegt. Ein Liveticker informiert über die aktuellen Entwicklungen. Die Künstler und Künstlerinnen behaupten derzeit, die Polizei habe ihr "Recherchebüro Ost" in Chemnitz aufgebrochen. Auch vermummte Nazis wären vor Ort und drohten mit einem Vergeltungsschlag.

Rechtfertigen die spärlichen Informationen über mutmaßliche Demonstrierende diese zivile Öffentlichkeitsfahndung? Eine Frage, mit der sich auch ein VICE-Redakteur beschäftigte. Im Vorfeld der "SOKO Chemnitz" lud ihn das Zentrum für Politische Schönheit ein.

Eine der Künstlerinnen ließ sich von dem Journalisten die Ereignisse auf der Demonstration schildern und fragte, ob er beteiligte Personen identifizieren könne. Der VICE-Redakteur verwies auf bereits in der Szene bekannte Persönlichkeiten wie Martin Kohlmann oder Artur Österle, lehnte aber eine engere Zusammenarbeit aus Sorge über einen öffentlichen Pranger ab.

Und das zu Recht. Aussagen wie "Ich bin als Deutscher in Deutschland geboren und dafür schulde ich der Welt einen Scheiss!!!" mögen dem ZPS als Beleg einer menschenfeindlichen Einstellung reichen, trotzdem deckt sie das Grundgesetz. Beweise für die Beteiligung an schweren Straftaten, die eine öffentliche Fahndung rechtfertigen würden, gibt es nicht. Selbst wenn es sie gäbe, wäre statt eines Online-Prangers zunächst der Weg zu den Behörden die richtige Entscheidung.

Denn auch wenn die Handlungsunfähigkeit der Polizei bei den Demonstrationen in Chemnitz, wo Rechtsextreme unverhohlen Hitlergrüße zeigten, erschreckend ist: Scheinbar willkürliche Fahndungslisten zu erstellen und möglicherweise Unschuldige öffentlich bloßzustellen, ist und bleibt der falsche Ansatz. Zudem liegt VICE mindestens ein Fall vor, bei dem einem vom Verfassungsschutz beobachteten Rechtsextremen ein falsches Foto zugeordnet wird.

Mit dieser plumpen Herangehensweise erinnert die nach eigenem Selbstbild subversive Kunsttruppe eher an die Aktionen der AfD oder des Springer-Konzerns. Die AfD richtete zu Beginn des Schuljahres ein Portal ein, auf dem AfD-feindliche Äußerungen von Lehrerinnen und Lehrern gemeldet werden können. Die Bild-Zeitung druckte vergangenes Jahr das Foto einer mutmaßlichen G20-Straftäterin auf der Titelseite. In beiden Fällen ging es um maximale Provokation durch öffentliche Vorverurteilung – und wenig Substanz. Das hat nun auch das Zentrum für Politische Schönheit erreicht. Herzlichen Glückwunsch.

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