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Die sächsische Polizei erklärt einen Studenten per Post für drogenabhängig

Außerdem werde er höchstwahrscheinlich in die Beschaffungskriminalität abrutschen, schreiben die Leipziger Beamten in ihrer bizarren Begründung für eine erkennungsdienstliche Behandlung.
Symbolfoto: imago | AllOver-MEV

Wenn man ein Drogenproblem hat, wird man das früher oder später merken. Zum Beispiel wenn einem beim Kaffeekränzchen mit Oma Blut aus der Koksnase tropft. Dass man davon beim Öffnen des Briefkastens erfährt, ist dagegen wohl eher unwahrscheinlich. Trotzdem ist genau das einem 32-jährigen Studenten in Leipzig passiert. Etwas verwundert las er Mitte August in einem Brief folgende Zeilen: "Ihr multipler Konsum unterschiedlichster Rauschgiftarten […] lässt auf eine Drogenabhängigkeit schließen. Durch ihre Sucht und ohne erfolgreiche Therapie ist nicht zu erwarten, dass Sie sich in naher Zukunft von den verbotenen Substanzen lösen können." Diese düstere Prognose stammt allerdings nicht von einer Suchtberatung oder einer anderen Fachstelle, die über die nötigen Kompetenzen für so eine Diagnose verfügt – sondern von der Kriminalpolizei Leipzig. Und sie ist nur der Anfang einer absurden Argumentationskette der Beamten.

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Die Leipziger Kriminalpolizei hatte ihre Schlüsse zunächst aus dem gezogen, was sie einige Wochen vorher bei dem Studenten gefunden hatte: 3,7 Gramm THC-haltiges Marihuana, sechs mutmaßlich amphetaminhaltige Tabletten, sowie 8,6 Gramm getrocknete Pilze. Abgesehen davon, dass der Fund wohl eher auf einen gelegentlichen Feierabend- oder Partykonsum hindeutet, blickte die Polizei in dem Schreiben noch weiter in die Zukunft.

Denn neben einer vermutlichen Drogenabhängigkeit sei es "gemäß kriminalpolizeilicher Erfahrung" wahrscheinlich, dass der Student in Zukunft "Delikte der direkten oder indirekten Beschaffungskriminalität" begehen werde, erklärte die Polizei in dem Schreiben, das VICE vorliegt. Und dafür fand sie noch weitere Hinweise.

Verdächtig wegen eines Streits bei eBay Kleinanzeigen

In dem amtlichen Schreiben erwähnt die Polizei einen Konflikt, den der Student mit einem Käufer seiner bei Ebay Kleinanzeigen angebotenen Sopranos-DVD-Box im Jahr 2016 hatte. Offenbar, um damit das beschaffungskriminelle Potential des Studenten zu belegen. "Ich hatte die Box damals wohl nicht schnell genug rausgeschickt. Dann habe ich dem Käufer einfach das Geld per Paypal zurücküberwiesen und die Sache war eigentlich geklärt. Dass er deswegen vorher wohl bei der Polizei war, wusste ich bis heute nicht", kommentiert der Student gegenüber VICE die Geschichte, die von der Polizei in dem Schreiben nun als möglicher Betrugsfall deklariert wird. Ob es wegen dieses mutmaßlichen Betrugs je zu einem Ermittlungsverfahren kam, lässt das Schreiben offen. Stattdessen fordert die Polizei den Studenten darin auf, sich einer "erkennungsdienstlichen Behandlung" zu unterziehen. Dabei sollen Finger- und Handabdrücke gespeichert sowie mehrere Fotos aufgenommen werden. Die Polizei räumt in dem Schreiben zwar ein, dass man bei Online-Betrug die Nutzer einfach über den Provider ermitteln kann. Gleichzeitig erklärt sie, dass Fingerabdrücke hilfreich seien, um festzustellen, "wer den Computer tatsächlich genutzt hat". Wozu die Polizei das wissen muss? Auch dafür liefert sie eine abenteuerliche Begründung.

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"Es ist anzunehmen, dass ihre legalen Geldmittel nicht ausreichen, um neben dem Drogenkonsum auch noch den Lebensunterhalt zu bestreiten", schreiben die Leipziger Beamten. "Aufgrund der vermutlich weiter andauernden Drogensucht muss davon ausgegangen werden, dass Sie sich auch zukünftig durch die Begehung von Straftaten um rechtswidrige Vermögensvorteile bemühen werden." Die Leipziger Polizei sagt also voraus, dass der Student – der neben dem Studium arbeiten geht – höchstwahrscheinlich Verbrechen begehen wird. Inwiefern sich die Beamten über sein tatsächliches Einkommen informiert haben, um zu schlussfolgern, er könne WG-Miete, Lehrmaterialien und gelegentliche Drogentrips nur durch Kriminalität finanzieren, wollte ein Sprecher der Polizeidirektion Leipzig auf Anfrage von VICE nicht kommentieren. "Zwischen Betäubungsmittelkonsum, Finanzierung einer Suchterkrankung, sozialer Verelendung und Beschaffungskriminalität besteht ein direkter und untrennbarer Zusammenhang", bekräftigt er hingegen das "anhand diverser Personen aufgebaute kriminalpolizeiliche Erfahrungswissen".

Ob ein einmaliger Fund von Betäubungsmitteln im Wert einer gut erhaltenen Sopranos-DVD-Box und ein zwei Jahre alter einzelner gespeicherter Vorgang ausreichen, um jemanden unter "potenzieller drogensüchtiger Beschaffungskrimineller" einzuordnen, darf man entgegen der mehrfach betonten kriminalpolizeilichen Expertise zumindest anzweifeln.

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Den drohenden Abstieg in die Beschaffungskriminalität sieht Dirk Peglow, stellvertretender Bundesvorsitzender des Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), nicht ganz so eindeutig als unausweichliche Konsequenz wie die Leipziger Polizei. Er halte es für sehr schwierig anzunehmen, ein Student könne sich keinen gelegentlichen Betäubungsmittelkonsum aus legalen Mitteln finanzieren, sagt Peglow gegenüber VICE. Bei Kokain im Wert von mehreren hundert Euro oder wohnungslosen Heroinabhängigen könne man sich durchaus fragen, wo das Geld herkomme. Da reiche es vermutlich nicht mehr, "Regale bei Aldi einzuräumen, um sich seinen Konsum zu finanzieren", sagt Peglow. Grundsätzlich zukünftige Beschaffungskriminalität zu vermuten, sei aber nicht zielführend. Er fordere stattdessen, Drogenkonsumierende zu entkriminalisieren und in einem solchen Fall "lieber Hilfsangebote zu vermitteln, statt mit Repression zu arbeiten".

Rechtsanwalt: Behörden schießen bei mutmaßlichen Drogenkonsumierenden häufig über das Ziel hinaus

Noch sieht der übliche polizeiliche Umgang mit Drogenkonsumenten allerdings anders aus als in der Vorstellung des BDK. Rechtsanwalt Tommy Kujus sagt, dass es mittlerweile "nahezu zum guten Ton" gehöre, repressiv gegen mutmaßliche Drogenkonsumierende vorzugehen. Der Leipziger Strafverteidiger vertritt häufig Mandanten, denen vorgeworfen wird, gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verstoßen zu haben. Kujus sagt gegenüber VICE, es sei auffällig, dass Behörden auch bei kleineren Verstößen immer öfter erkennungsdienstliche Behandlungen anordnen. Dabei würden sie regelmäßig über das Ziel hinaus schießen, "um ihre Datenbanken mit Informationen der Bürger zu füllen". Die polizeiliche Schlussfolgerung, "ein BTM-Konsument werde zukünftig wegen Straftaten auffallen", hält Kujus für zu kurz gegriffen: "Viele Beschuldigte, gegen die wegen eines Verstoßes gegen das BtMG ermittelt wird, werden nicht erneut straffällig."

Auch Niema Movassat, drogenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, sagt, dass die strafrechtliche Verfolgung bei einem Großteil der Drogenkonsumierenden in Deutschland ungerechtfertigt sei, da diese Menschen keiner dritten Person schaden würden. Auch deshalb wundere er sich über die in Leipzig gezogenen Schlussfolgerungen: "Der Besitz von Betäubungsmitteln und die mutmaßliche finanzielle Situation eines Konsumenten lassen weder einen Schluss auf dessen Konsummuster – und damit ob eine Drogenabhängigkeit vorliegt – noch auf dessen monatliche Ausgaben für Betäubungsmittel zu", schreibt Movassat auf Anfrage von VICE.

Die Polizei teilt mit, der Beschuldigte könne gerne das Gegenteil beweisen

Die Leipziger Polizei hält währenddessen an ihrer ursprünglichen Einschätzung fest. "Wenn der Betroffene also mit im Konjunktiv formulierten Schilderungen und zugehörigen Grundangaben nicht einverstanden ist, kann er gern sein ihm eingeräumtes Widerspruchsrecht nutzen und den Beweis des Gegenteils antreten", teilte ein Sprecher auf erneute Anfrage mit. Das soll vermutlich bedeuten, der Student müsste nachweisen, dass er in Zukunft nicht straffällig werden könnte. Wie genau das gehen soll oder wie hoch das regelmäßige Einkommen sein muss, um neben dem Lebensunterhalt auch Gras und Pillen abzudecken, bleibt fraglich. Auch ob er aus seiner kriminalpolizeilichen Erfahrung einen ungefähren Handelswert der gefundenen Drogen angeben kann, um daraus Schlüsse über den finanziellen Bedarf des Studenten zu ziehen, beantwortete der Polizeisprecher nicht.

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