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Durch das Nachtleben des Westberliner Undergrounds der 80er

Wir waren in der längst vergessenen Bar Ex'n'Pop, wo Nick Cave, Blixa Bargeld und Co. ihre Nächte verbracht haben, und sprachen mit dem Ex-Besitzer Harry Hass über das verflossene Nachtleben und die Subkultur Berlins.
Foto: Wikipedia | Dirk Ingo Franke | CC-BY-SA 3.0

Foto: Wikipedia | Dirk Ingo Franke | CC BY 3.0

Das Gespräch ist ein Substrat aus dem Mikro-Hörspiel ‚Wir waren alle verlorene Countryboys' von Julian Spaan und Daniel Sigge, das auf dem diesjährigen transmediale Festival für Medienkunst und digitale Kultur im Rahmen der Installation Atlas of MediaThinking and MediaActing in Berlin" abgespielt wurde.

Nasser Beton war noch nie sonderlich schön anzusehen. Im Schatten der Häuserfassaden Berlin-Schönebergs stapelt der Besitzer eines türkischen Supermarkts gerade Obst und Gemüse zu Obst- und Gemüsebergen. Verdammt, es ist fünf Uhr morgens. An einem Donnerstag. Ich muss bald zur Arbeit. Doch vorher trinke ich noch was mit Harry Hass im Ex'n'Pop. Hass war mal Besitzer dieser Bar und der Westberliner Underground der 80er sein Gast. Die Einstürzenden Neubauten, Gudrun Gut, Die tödliche Doris, Wim Wenders, Ben Becker, Nick Cave, Mick Harvey—sie alle haben sich hier die Kante gegeben. Selbst Rod Steward soll mal aufgetaucht sein. Die Liste lässt sich ewig fortführen.

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Detlef Kuhlbrodt nannte Hass einst den letzten Poeté Maudit, den längst vergessenen Burroughs und eine Ikone des damaligen Berliner Nachtlebens. Hass selbst bezeichnet sich als Freund des Lumpenproletariats. Den Drogen nie fern gewesen, klamm und verkopft, hat der Existenzialist Harry Hass ein einziges Buch herausgebracht. Wir wollen über seine Erinnerungen reden, oder, mit mehr Pathos: Sein Berlin. „Durch die Verführung einer Frau" ist er an den Laden gekommen, erzählt er mir noch vor der Eingangstür. Das Ex'n'Pop entstand 1984, ist mehrmals umgezogen und liegt heute in der Potsdamer Straße in Berlin-Schöneberg.

Die Fenster sind zugenagelt. Man muss an der Tür klingeln, ein Schieberegler öffnet sich. Es folgt eine kurze, aber scharfe Beäugung und anschließender Einlass. Heute sitzen eine Handvoll Nachtarbeiter und Nachtigallen am Tresen. Das Ex'n'Pop ist längst vergessen. Ab und zu soll hier noch ein Konzert stattfinden, ein Poetry Slam und ein Flohmarkt. Die Bar ist als Absacker-Lokal bekannt. Aber die goldenen Zeiten sind vorbei. Nichtmal im jüngsten Berlin-Film B-Movie: Lust and Sound in West Berlin fand die Bar noch Erwähnung. „Das mag daran liegen, dass das Ex'n'Pop für uns immer ein Rückzugsort war. Wir haben die Leute lieber über das Risiko reden lassen, das war das heißeste Pflaster der damaligen Zeit. Für den Underground war das Ex'n'Pop der intimere Treffpunkt." Es gibt keine offiziellen Aufnahmen aus und von der Bar, auch Harry Hass ließ sich selten fotografieren. „Ich bin eher ein Mann des geschriebenen Wortes."

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Der Underground Westberlins, die Anklage an die Gesellschaft und das künstlerische Forschen nach neuen Ausdrucksformen. Die Avantgarde, die sich von der Hausbesetzerszene der 1980er abgehoben hat. Genialen Dilletanten. Nie vergessen wird Hass das Konzert der Einstürzenden Neubauten im SO36, bei dem sie mit Bosch-Hämmern die Wände zertrümmert und Ziegelsteine herausgeholt haben. „Das ist auch die Musik des Ex'n'Pop, das ist Anti-Architektur, das ist Anti-Musik! Denn erst wenn Dinge wahrhaftig zerstört sind, weißt du um ihre wahre Bedeutung." Das Risiko, das SO36, das Fischlabor, die Blechbüchse, der Dschungel. Diese Berliner Lokale und Clubs gibt es heute nicht mehr—zumindest nicht in ihrer damaligen Form. „Das waren alles Läden, wo du dich mit Drogen volldröhnen und auch saufen konntest."

Harry Hass Stimme ist geil, sie scheppert beim Lachen und beim Joint drehen gleichermaßen. Wir bestellen zwei Screwdriver, Wodka mit Orangensaft. „Das war früher unser Getränk. Wir haben den Wodka Stoli Schneider aus dem U-Bahn-Tunnel der Friedrichstraße bekommen. Das weiß kaum einer, dass man für vier oder fünf Minuten auf das Territorium der DDR konnte, ohne etwas mit der Mauer zu tun zu haben. Richtig gutes Zeug, zollfrei für drei Mark Fünzig. Aus einem Intershop, der hat der DDR gute Devisen eingebracht und uns den Rausch. Natürlich haben wir immer gesagt, dass wir den Wodka für Privatpartys brauchten."

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Ich war damals noch nicht geboren, also schweige ich mehr und hefte mich an seine Worte. „Berlin war damals noch eine Insel, als die Mauer stand. Eine untergehende Stadt. Da hast du deine Freiheit gebraucht. Jedes dritte Haus war kaputt, jedes zweite. .. oder jedes erste. Wer weiß das schon?" Ohje, schwinden da etwa seine mentalen Kräfte?

Weit gefehlte Einschätzung. Hass' Erinnerungsvermögen funktioniert tadellos, auch wenn er in diesen Morgenstunden drei Joints vor der Tür rauchen wird. „Keiner kannte irgendwen, als wir hier auftauchten. Das hatte was damit zu tun, dass wir ganz frisch desillusioniert waren." Und ein Lyriker ist er immer noch. Die Art, wie er Wörter aneinanderreiht, irritiert. Er macht lange Pausen, in denen sein Kopf auf die Brust sinkt. Man hat das Gefühl, er verliert sich in Erinnerungen, aber dann kommt es immer wieder aus ihm heraus. „Die meisten von uns waren eigentlich Künstler—Musikertypen …, auch Maler und Schreiberlinge. Wir hatten ganz frisch erfahren, was das hier für eine Heuchelei ist." Die große Heuchelei also. Die Mauer, die Nato und der Warschauer Pakt, West und Ost. Der Mauerfall und die Macht der Moden hat das Ex'n'Pop und den Underground aufgelöst und zerstreut. „Atomisiert", sagt Hass.

„Das Nachtleben war purer Rausch für uns. Oder war es Bildung? Oder Erforschung?" Ein Hinterzimmer, zu dem nur das Stammpublikum Zutritt hatte, war der eigentliche Haupt-Schauplatz der Bar. „Da konntest du abgetrennt vom Rest alle Drogen nehmen. Viel Speed, viel Kokain. Ab und zu LSD. Über einen Projektor liefen Filme stumm vor sich hin. Für uns war das die Wahrnehmung und das Bewusstsein von silberschneller Geschwindigkeit. Der Wahnsinns-Speed, der um dich knallt!"

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Grenzen zwischen Publikum und dem Kollektiv, das die Bar bespielte, waren fließend. Wim Wenders hat hier Nick Cave kennen gelernt und ihm eine Rolle in seinem Film Der Himmel über Berlin angeboten. „Blixa kam öfter mit Nick vorbei und hat sich neue Aufnahmen über unsere Anlage angehört. Er stand auch selber ab und zu hinter der Bar, hat sich aber meistens nur die Drinks selber gemixt. Hacke (Anm.: Alexander Hacke, Bassist und Gitarrist der Einstürzenden Neubauten) hatte jeden Dienstag seine Schicht. Aber mit Blixa wollte ich eigentlich nichts zu tun haben. Kann 'ne ganz schön steife Brise sein."


Nick Cave im Gespräch über sein Buch:

Es folgt eine längere Auseinandersetzung über („radikale!") Verlage und die („radikale!") Beat-Generation. Die Amerikanisierung der jungen, deutschen Pop-Literaten in den 70ern merkt man ihm immer noch an. „Es ist auch der… Drive der Time—Tell me the story, and you know, it's like this!", säuselt er friedlich vor sich hin. Dann knallt es aus ihm heraus. Die Story des Morgens. „Wir haben noch gar nicht über das Interieur des Ex'n'Pop gesprochen. Wir wollten den ganzen Laden so richtig schwarz haben. Und N.U. Unruh von den Neubauten hat sich ein T-Shirt von der Berliner Feuerwehr angezogen. Wir haben die Wände mit in Spiritus getränkten Zeitungen geklebt und haben das Ganze angezündet—was meinst du, wie das gebrannt hat! Dann ein paar Spritzer Gold an die Wände, aber wenige. Das Ex'n'Pop war plötzlich da."

Was war das Besondere am Nachtleben in Westberlin? Typische Antwort des Lyrikers: „Die Nacht mit ihrem Charme und ihrem Albtraum, mit ihrer Versponnenheit und auch mit ihrer Einsamkeit. Sie hat uns damals zusammengeschweißt." Bevor wir uns davon machen, frage ich ihn noch, was heute besser geworden ist, im Berlin 2016. „Das Essen", sagt er, und rümpft die Nase. Was ein feiner Kerl, dieser Harry Hass.

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