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Sexuelle Unterdrückung

50.000 Frauen in Deutschland sind Opfer von Genitalverstümmelung – Eine von ihnen erzählt

"Sie banden meine Hände zusammen, damit ich mich nicht wehren konnte. Eine alte Frau drückte meine Beine auseinander und setzte das Messer an. Ich wurde nicht betäubt."
Foto: imago | Friedrich Stark

Foto: MONUSCO Photos | Flickr | CC BY-SA 2.0

Wir denken immer, Genitalverstümmelung von Frauen sei in Deutschland kein Thema, doch auch hier leben knapp 50.000 Frauen, die Opfer ritueller Gewalt geworden sind. Das geht aus einer Studie hervor, die das Familienministerium zum internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung am 6. Februar erstmalig durchgeführt hat. Zwischen 1.500 und 5.700 weitere Mädchen sind von Eingriffen bedroht, sollten sie ihre Herkunftsländer in den Ferien besuchen.

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Genitalverstümmelung findet hauptsächlich in Eritrea, dem Irak, Somalia, Ägypten und Äthiopien statt, aber auch andere Länder Afrikas sind betroffen. In Guinea sind 90 Prozent der Frauen beschnitten.

Die Beschneidung führt oft die Stammesälteste, ein Familienmitglied oder eine Hebamme durch. Sie entfernen die sichtbaren Teile der Klitoris. Bei stärkeren Formen der Beschneidung werden sogar die Schamlippen entfernt oder die Vaginalöffnung verengt. Betroffene Frauen leiden physisch und psychisch oft ihr Leben lang. "Nur wenige möchten wirklich darüber sprechen. Sie fühlen sich gedemütigt", sagt ein Sprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Häufige Folgen sind Infektionen, Inkontinenz oder Unfruchtbarkeit.

In Deutschland ist die Tradition deswegen illegal. Organisationen wie TABU e.V. bieten Betroffenen psychische Unterstützung oder setzen sich für Aufklärungsprojekte in Afrika ein.

K. (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) hat uns ihre Geschichte erzählt. Sie kommt aus einem kleinen Dorf in Guinea und wurde mit rund sechs Jahren beschnitten. Vor zehn Jahren wanderte sie alleine nach Deutschland aus. Die 27-Jährige lebt heute mit ihren drei Kindern in Dortmund. Bei VICE erzählt sie ihre Geschichte:


Auch bei VICE: Zu Besuch in den kenianischen Dörfern, in denen ausschließlich Frauen leben


Meine Erinnerung ist verwischt, aber den Schmerz vergesse ich nie.

Es war Nacht, als sie mich weckten. Vielleicht war ich sechs, ich weiß es nicht mehr genau. Auf jeden Fall war ich zu jung, um zu verstehen, was passierte. Sie gaben mir einen Schluck Wasser, redeten sanft auf mich ein. "Wir gehen raus", sagten sie mir – also bin ich ihnen gefolgt. Wir sind weiter von meinem kleinen Heimatdorf in Guinea weggegangen. Meine Eltern waren in dieser Nacht nicht da, nur meine Oma begleitete mich. Ich habe ihr vertraut.

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Sie brachten mich zu einer älteren Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Als Nächstes erinnere ich, wie sie meine Hände zusammenbanden, damit ich mich nicht wehren konnte. Ich habe nur geschrien. Dann drückte die alte Frau meine Beine auseinander und setzte das Messer an. Die Schmerzen sind unvorstellbar, vielleicht wie bei einer Geburt. Ich wurde nicht betäubt.

In den kommenden Wochen habe ich nur Blut gepinkelt. Nach und nach verstand ich, was mit mir und den anderen Mädchen im Dorf passiert war. Meine Nachbarn sagten zu mir: "Wenn das nicht passiert wäre, dann wärst du nichts wert, dann wärst du einfach ein Mädchen für die Männer." Und meine Eltern: "Du willst doch auch nicht, dass die Nachbarn schlecht reden, oder?"

Als ich vor zehn Jahren nach Deutschland kam, wusste ich zwar, dass die Frauen hier nicht beschnitten sind, aber es war trotzdem ein Schock. Es machte mich wütend und traurig zu sehen, wie selbstverständlich hier alle mit ihrer Sexualität umgingen. Die Untersuchung bei der Frauenärztin bestätigte mir offiziell, dass ich anders war – und auch immer anders bleiben würde. Ich weiß, dass ich nichts dafür kann, aber ich habe trotzdem noch immer das Gefühl, dass mit mir etwas falsch ist.

Ich schäme mich. Deswegen fällt es mir noch immer schwer, mit anderen über die Beschneidung zu sprechen. Selbst mit meinem Freund spreche ich nicht darüber. Er kommt auch aus Guinea, wir haben uns aber in Dortmund kennengelernt. Ich weiß nicht, ob er vor mir jemals mit einer beschnittenen Frau geschlafen hat – oder mit einer Unbeschnittenen. Ich weiß auch nicht, ob er überhaupt etwas merkt. Er fragt nicht, er möchte mich vielleicht nicht in Verlegenheit bringen.

Bei meinem ersten Mal wollte ich mir beweisen, dass ich normal bin, dass ich genauso mit meinem Freund schlafen kann wie alle anderen Frauen. Heute weiß ich, dass das unrealistisch ist. Manchmal spüre ich kurz das Verlangen nach der Nähe eines Mannes, doch das geht schnell vorbei. Die Schmerzen sind zu groß. Die Wunde brennt noch immer. Trotzdem ist Sex für mich keine Verpflichtung, sondern Teil einer normalen Beziehung. Deswegen versuche ich es immer wieder. Mein Freund und ich habe eine stillschweigende Vereinbarung: Wenn die Schmerzen zu groß werden, dann stoppen wir.

Wir haben nun drei Kinder, sie sind neun, acht und ein Jahr alt. Erst war es nicht geplant, Kinder zu bekommen, aber ich bin nun sehr glücklich. Viele Frauen können nach dem Eingriff nicht mehr schwanger werden. Ich hingegen bin nun in Elternzeit und habe die Möglichkeit, die 10. Klasse nachzuholen und danach eine Ausbildung anzufangen. Meine Eltern leben noch in Guinea. Wir telefonieren ab und zu. Sie wissen, was ich in Deutschland mache, und dass ich Kinder habe. Ich möchte sie mit den Kindern aber vorerst nicht in Guinea besuchen – erst wenn es dort sicher ist.

Ich bin immer noch wütend. Aber wer hat Schuld? Mir bleibt nur das Wissen, dass meine zwei Töchter auf keinen Fall so aufwachsen werden. Meine Kinder werden normal sein. Dafür gebe ich alles!

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