Ein Ode an das Apollo Kino

Es gibt nicht viele Gebäude in Wien, die der trashigen Erhabenheit des Apollo Kinos ebenbürtig sind. Nach außen hin ein lachsfarbener Klumpen, der aufmüpfig zum Haus des Meeres-Flakturm aufschaut und die Gumpendorfer Straße penetrant mit seiner leuchtenden IMAX-Potenz beglückt, innen ein architektonischer Irrgarten mit der farblichen Optik eines 90er-Trainingsanzugs.

Das Apollo ist eines der ältesten Kinos der Stadt. Erbaut im Jahre 1904 war es zunächst ein renommiertes Varieté, in dem unter anderem Größen wie Marlene Dietrich und Charlie Chaplin aufgetreten sind, ehe es 1929 zum Lichtspielhaus umfunktioniert wurde. Vom einstigen Glanz des Etablissements scheint heute nicht viel übrig—zumindest auf den ersten Blick. Aber der Reihe nach.

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“Ja hallo, ich hätte gerne große Nachos mit beiden Soßen und fünf Liter Cola!” Falsche Zurückhaltung hat an einer Kino-Snackbar meiner Ansicht nach nichts verloren. Kino-Snackbars dienen, wenn überhaupt, nur einem einzigen Zweck: Völlerei. Wer eine kleine Tüte Popcorn bestellt, belügt sich nur selbst. Und ja, bitte auch die Sportgummi dazu.

Meine Apollo-Abende enden deshalb vielleicht regelmäßig in stechenden Bauchschmerzen und Salsa-Flecken, aber niemals in Reue. Dieses Kino ist mir jeden Käsesoße-bedingten Magenkrampf wert—auch wenn man in seinen Gemäuern öfter mal die Orientierung verliert. Die meiste Zeit verbringt man im Apollo nämlich damit, panisch herumzuirren.

Wenn man nicht gerade hier aufgewachsen ist, ist es eine der ersten großen Prüfungen, die man als Neo-Wiener durchlaufen muss: Dem verworrenen Apollo-Labyrinth entkommen. Endlose Gänge, die ins Nichts führen, verwinkelte Abzweigungen, ein zwielichtiges Harry Potter-Stiegenhaus und überall diese dunklen Ecken, die immer ein bisschen zu viel Rape-Charakter abstrahlen.

Findet man doch mal auf wundersame Weise einen Weg nach draußen, ist es jedes Mal wieder ein anderer, von dem man bis dahin gar nicht wusste, dass er überhaupt existiert. In meiner Vorstellung hat das Apollo irgendwann ein eigenes Bewusstsein entwickelt und öffnet in unregelmäßigen Abständen immer wieder Portale zur Außenwelt, um seine Opfer damit in die Irre zu führen.

“Das, was die Gäste sehen, sind vielleicht 30 Prozent des ganzen Gebäudes”, entgegnet man uns vor Ort auf die Frage, ob es im Haus noch irgendwo sehenswerte Räumlichkeiten gebe, die man als gewöhnlicher Kinobesucher nicht zu Gesicht bekommt. Wie sich bei unserer späteren Führung herausstellen sollte, kommt das tatsächlich ungefähr hin.

Zunächst mal hätten wir nicht damit gerechnet, dass das Apollo insgesamt über drei Innenhöfe verfügt. Oder dass es im Dachgeschoss zwei Eigentumswohnungen gibt, deren Bewohner sich den Lift mit den Kinobesuchern teilen müssen. Oder dass es mal einen unterirdischen Weg vom Apollo rüber zum Flakturm gab, der inzwischen allerdings nicht mehr begehbar ist. Oder dass tatsächlich noch Räumlichkeiten aus dem Varieté-Zeitalter erhalten sind. Wobei, eher Tapeten, aber trotzdem.

Ich habe mir früher immer gerne vorgestellt, wie alle Mitarbeiter des Apollo-Kinos in Wahrheit einfach nur hilflos umherwandernde Seelen sind, die den Weg nach draußen nicht mehr gefunden haben und irgendwann aus Verzweiflung angefangen haben, Karten abzureißen. Frei nach dem Motto: Wer nicht rausfindet, wird angestellt. Fluchtversuche sind zwecklos. Stony ist keiner von denen.

Stony erwähnt nicht, warum ihn alle Stony nennen, aber so nennen ihn nun mal alle, also tun wir das auch. Es ist schwer, ihn zu beschreiben—sagen wir einfach, wenn das Apollo eine Person wäre, dann wäre es Stony. Er ist die Essenz dieses Hauses. Eigenen Angaben zufolge arbeitet er bereits seit mehr als 20 Jahren im Apollo und stößt immer noch regelmäßig auf bisher unerforschte Räume.

Für die verwinkelte Architektur hat auch Stony keine Erklärung. Die meisten dieser finsteren Ecken haben sich einfach zufällig ergeben, als die ursprünglich großzügig gehaltenen Theater-Räumlichkeiten für ein Kino angepasst werden mussten. Einen richtigen Grund für die Rape-Winkel gibt es also nicht—manche sind allerdings mit Holztüren verkleidet und werden noch als Abstellkammer genutzt. In einer davon hat jemand “help” an die staubige Wand geschrieben. Ich schwöre.

Wie komplex dieses Haus wirklich ist, wird uns erst richtig bewusst, nachdem Stony uns ein dunkles Lüftungsrohr zeigt, das scheinbar einen Stock tiefer führt. Am anderen Ende kann man Fliesenboden erkennen—niemand weiß, welches Zimmer dort ist, niemand weiß, wie man dort hinkommen soll. Eines Tages, so Stony, wird er aber auch diesen Raum ausfindig machen. “Und wenn ich dafür durch dieses Rohr klettern muss.”

So wie jetzt sieht das Apollo schon seit 20 Jahren aus—und sobald man das weiß, fällt einem erst das unweigerliche 90er-Farbschema auf, das sich durch das gesamte Haus zieht. Gelb, Türkis, Lila, Schwarz. Und noch mehr Gelb. Der Architekt, der das zu verantworten hat, wohnt laut Stony sogar selbst im Haus—der markante Spitzturm des Gebäudes sei demnach sein Esszimmer. Man sehe ihn jedoch nur selten.

Wir müssen ein bisschen klettern, um durch die altehrwürdige Gold-Kuppel auf Saal 2 hinunterblicken zu können—der einzige Saal im Kino, der ganz in Lila gehalten ist. Ich stelle mir vor, wie ich da unten sitze und eine möglichst dunkle Szene im Film abwarte, um heimlich meine Nachofinger ablutschen zu können. Oder wie ich eine möglichst helle Szene abwarte, um zu sehen, in welcher Ecke die restliche Käsesoße liegt.

Die richtigen Apollo-Schätze bleiben aber erst mal im Verborgenen: Hinter dieser üppigen Ausbuchtung, die für die lange Kurve am Weg zur Toilette verantwortlich ist, steckt zum Beispiel ein Stück Geschichte—wortwörtlich. Darin ist laut Stony der alte Fahrstuhl eingemauert. Auch die Überreste der Orgel des ehemaligen Varietés sollen noch irgendwo in den Apollo-Mauern zu finden sein—aber “nur Gerüchten zufolge.”

Wir stoßen immer mehr ins Innere des Kinos vor und eigentlich rechne ich an diesem Punkt jeden Moment damit, bald auf einen verwahrlosten Mann mit Bart zu treffen, stumm in einer Ecke kauernd, nicht wissend, welches Jahr wir schreiben. Es soll durchaus öfter vorkommen, dass sich Besucher im Stiegenhaus verlaufen, in Panik geraten und um Hilfe rufen. Ebenso wie sich neue Mitarbeiter nach ihrer Einschulung fast schon routinemäßig verirren und über Funk gerettet werden müssen.

Vieles im Apollo scheint so willkürlich charmant. Die hauseigene Bar etwa musste nach ihrem Bau in den 90ern notgedrungen “Apollo 2” getauft werden, nachdem es vis-à-vis in der Barnabitengasse bereits ein Café Apollo gab, das inzwischen aber wieder geschlossen hat. Zudem ist “Apollo 2” fast immer menschenleer—was allerdings mit den Öffnungszeiten zu tun haben könnte, die sich auf drei Tage die Woche beschränken, jeweils nur für ein paar Stunden. In Anbetracht der Deko ist das schade—die wirkt auf den ersten Blick ein bisschen so, als hätte der Innenarchitekt sich nicht zwischen Piratenschiff und Ägypten entscheiden können, und letztendlich einfach beides genommen.

Dass das ursprünglich mal eine “Erlebnis-Bar” war, dass der Boden auf Knopfdruck vibrieren konnte, dass da allen Ernstes Nebelmaschinen im Einsatz waren und die Mumie im Eck nicht nur so leblos dastand, sondern mit Spezial-Effekten in Szene gesetzt wurde, das wussten wir alles nicht. Aber so ergibt diese ägyptische U-Boot-Ästhetik auch endlich Sinn.

Warum ich immer noch am liebsten ins Apollo gehe, werdet ihr euch jetzt fragen, wo ich doch genauso gut auch im Gartenbaukino herumsandeln könnte. Warum so viel Geld in einem Cineplexx-Tempel raushauen, wo man doch auch in eines der kleineren Programmkinos gehen könnte, die meine Unterstützung viel dringender brauchen würden?

Ja, irgendwie ist das Apollo wirklich so was wie der Ride Club unter den Kinos. Aber hier erlebe ich schon einen kleinen Adrenalinrausch, wenn ich mich auf halbem Weg zur Toilette mal wieder mit dem Gedanken anfreunde, wohl den Rest meiner Tage hinter diesen Mauern verbringen zu müssen. Hier muss ich nicht an den Stadtrand pilgern, um IMAX zu bekommen. Hier ist eine kleine Cola ein halber Liter. Apollo, ich liebe alles an dir.

Außer Aktionen wie “Men’s Night” und “Ladies Night”. Es ist 2016.

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