Das Fernsehprogramm des 22. November 1987 ließ bis 21:14 nichts Ungewöhnliches erahnen. Seichte Unterhaltung, Nachrichten und Game Shows: Auf den Bildschirmen der Chicagoer Zuschauer war alles wie immer. Der Sportmoderator von Kanal 9, Dan Roan, verlas auch an diesem Abend die Neun Uhr Nachrichten und berichtete vom Sieg der Bears über die Detroit Lions. Doch dann plötzlich und ohne Vorwarnung flackerte das Fernsehbild für einen Augenblick auf, nur um sich kurze Zeit später in völlige Dunkelheit zu hüllen.
Im Kontrollraum von WGN-TV starrten die diensthabenden Techniker stumpfsinnig auf die leeren Bildschirme ihrer Kontrollmonitore. Von ihrem Studio am Bradley Place aus übermittelten sie das Fernsehsignal zunächst an die Antenne des hundert Stockwerke hohen und sieben Meilen entfernten John Hancock Wolkenkratzers. Von dort schließlich wurde das Signal an zehntausende Haushalte in der gesamten Stadt geschickt. Die Zeit blieb stehen, als sie realisierten, dass ihr Signal gerade von Unbekannten gekidnappt worden war.
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Aus dem Dunkeln sahen sie, wie plötzlich eine gedrungene Figur auf die Bildfläche sprang und dort manisch umher hüpfte. Der unheimliche Eindringling, der eine groteske Gummimaske mit einer Sonnenbrille trug, schein ein in sein Gesicht gemeißeltes Grinsen zu haben und sah aus wie eine Mischung aus Richard Nixon und Joker. Ein Rauschen begleitete seine Fernseherscheinung und hinter der im Anzug gekleidete Person drehte sich hypnotisch eine Wand aus Wellblech als Hintergrund. Ganz sicher war das nicht Teil des regulären Programms.
Schließlich schaltete die Satellitenfrequenzen wieder um und das Nachrichtenstudio erschien wieder auf den Bildschirmen. Die Kamera zeigte Roan an seinem Tisch, während er überrumpelt in die Kamera glotzte.
„Wenn Sie sich fragen, was gerade passiert ist, dann frage ich mich das auch,” sagte der Moderator mit einem nervösen Lachen.
Die erste Signalinfiltration auf Kanal 9, um 21:14.
Innerhalb weniger Stunden erschienen die ersten Bundesbeamten, um den verrücktesten Fall der Kriminalgeschichte zu untersuchen – eine Signalübernahme ohne eindeutiges Motiv, ohne Methode und ohne klar erkennbare Übeltäter. Genauso hätte der Angriff auch aus einer anderen Dimension kommen können.
Für viele Zuschauer in dieser Nacht, war das Gesicht von Max Headroom sowieso schon unverwechselbar. „Der weltweit erste computergenerierte TV-Host” wie er sich wohl selber voller Stolz genannte hätte, war ein spitzzüngiger fiktionaler Fernsehmoderator, der 1985 als Veejay für die britische Musik Television Show das erste Mal in Erscheinung trat. Sein sarkastischer Humor und seine exzentrische Vocoder-gestützte Vortragsweise hatten ihn schnell zu einer Kultfigur gemacht.
Die Werbekampagne für New Coke steigerte den ikonographischen Bekanntheitsgrad
Der Cyber-Charakter, der die Beschränktheit der westlichen Mittelklasse-Moderatoren entlarven wollte, erlangte auch als Werbegesicht für New Coke, mit seiner Late Night Talkshow auf Cinemax, mehreren TV-Specials, sowie schließlich mit seiner großen eigenen Fernsehserie. Berühmtheit. Ab dem 31. März 1987 wurde die Max Headroom Serie über die Abenteuer eines TV-Journalisten und seines digitalen Alter Egos in einer dystopischen Zukunft ausgestrahlt. In Chicago konnte man im Herbst des selben Jahres ganze elf Episoden über den ABC Tochtersender Kanal 7 empfangen. Allerdings wurde die Sendung schließlich abgesetzt, weil Miami Vice sie im Quotenranking überholt hatte.
Die ständig zuckende und effektverzerrte Mimik und Stimme von Max waren schwer zu vergessen. Allerdings war die fiktionale Moderatorenfigur keine Kreation eines Computers—auch wenn er wahrlich den Eindruck abstrakter, künstlicher Intelligenz vermittelte—sondern das Ergebnis mühevoll aufgetragener Schminke und Silikons auf das Gesicht des Komikers Matt Frewer. Vor dem Hintergrund einer Fernsehlandschaft, in der Nachrichten und Unterhaltung immer mehr miteineinander verschmolzen, reichte das aber schon, um die unheimliche Karikatur eines echten Nachrichtensprechers abzugeben.
Max Headroom war der Cyberpunk der Hauptsendezeit und er verwies auf eine digitale Zukunft, die in der Welt von 1987 gar nicht so weit entfernt lag. Die Datumsangabe zu jeder Sendung, glich einem Motto und lautete: „zwanzig Minuten in der Zukunft. Zu der Zeit als die Sendung eingestellt wurde, hatte sich die sarkastische Visage des digitalen Quadratschädels so in das Bewusstsein der Fernsehjunkies der späten 80er Jahre eingebrannt, dass man die Bekanntheit wohl aus heutiger Perspektive mit der Guy Fawkes Maske innerhalb der Twittercommunity vergleichen könnte.
Um 21:16, kurz nachdem die Max Headroom Figur das Signal von WGN am 22. November übernommen hatte, vermuteten die Techniker einen Insider am anderen Ende der Leitung. Daraufhin begann man damit, das Gebäude von oben bis unten nach dem Angreifer zu durchsuchen. Aber Max war nicht da. Und er war noch längs nicht am Ende.
Fast genau zwei Stunden später, etwa um 23:15, als auf Kanal 11, dem PBS Tochtersender WTTW, die Dr. Who Episode „The Horror of Fang Rock” ausgestrahlt wurde, unterbrach ein gurgelndes Rauschen die Übertragung. Lesestreifen, wie sie bei Videoaufnahmen üblich sind, erschienen plötzlich auf dem Bildschirm. Im Gegensatz zum ersten Vorfall auf WGN, hatte dieses Video eine Tonspur, die man aber inmitten des Rauschens und der kakophonischen Verzerrung kaum verstand. Das Video dauerte eine ganze Minute und zwanzig Sekunden.
WTTW Chicago, Kanal 11, 23:15 am 22 November 1987, der zweite Max Headroom-Hack.
„Er ist ein verdammter Nerd,” kreischt Max mit einer Stimme, die an die eines Cartoon-Bösewichts erinnert. In einer Tirade gegen den Chicago Bulls Live-Reporter Swirsky sagte er anschließend: „Ich denk´, ich bin besser als Chuck Swirsky, der verdammte Liberale.” Die sich drehende Wand aus Wellblech war eine gelungene Imitation des computergenerierten Bitmap-Studios von Max Headroom aus der Serie. Mit einem Gummipenis hantierend, johlt der Eindringling den Coca-Cola Slogan „Catch the Wave” und summt das Thema des 1960er Jahre Gonzo-TV-Cartoons Clutch Cargo.
„Eure Liebe schwindet dahin!” schreit er, bevor er den Phallus zu Boden wirft. „Ich sehe das X immer noch!” sagt er, eine eindeutige Referenz auf die letzte Episode von Clutch Cargo. .
„Ich habe grade ein großes Meisterwerk für die größten Zeitungen dieser Welt hingeschissen,” fügt er hinzu und attackiert damit offensichtlich nochmals das Fernsehestablishment Chicagos. Das Akronym des Senders, WGN, ist eine Abkürzung für „World Greatest Newspaper,” ein Slogan entliehen aus den ersten Tagen der Chicago Tribune, der Zeitung, der WGN einst gehörte.
Dann verändert sich der Kamerawinkel und zeigt Max von der Seite, mit dem Kopf außerhalb der Bildausschnitts und vornübergebeugt. Die Maske baumelt vor der Kamera; sein Gesicht ist nicht zu sehen und eine Frau versohlt etwas gelangweilt mit einer Fliegenklatsche das entblößte Hinterteil, das langsam in die Bildmitte rückt. „Komm schon, zeig´s mir du kleine Schlampe!” johlt die Stimme. Das Gebrüll wird zu einem verstörenden symphonischen Dröhnen. Und dann genauso schnell wie er auftauchte, verschwindet der unheimliche Besucher auch. Und ganz Chicago wurde entlassen in die seltsam anmutende Stille der regulär laufenden Sendung Dr. Who.
„Soweit ich das überblicken kann,” bemerkt Dr.Who, in dem Moment als wieder zur Sendung zurückgeschaltet wird, „handelte es sich um einen heftigen elektrischen Schlag. Er muss auf der Stelle tot gewesen sein.”
WTTW, Kanal 11, 23:15: der zweite Max Headroom Fernseh-Hack, diesmal sogar mit Untertiteln.
„Zu der Zeit als unsere Leute anfingen, den Vorfall zu untersuchen, war das Ganze schon vorbei,” sagte ein Sprecher von WTTW der Tribune, deren Sendegebäude sich etwa 3 Kilometer südöstlich von WGN befindet. Für tausende Fernsehzuschauer in Chicago kam das alles schon zu spät. Die Erfindung der World Wide Web war zwar noch einige Jahre entfernt, doch für einige Augenblicke bekam das Chicagoer Fernsehpublikum in dieser Nacht einen Eindruck davon, wie ein Proto-Troll, ein Hacker, es schaffen konnte, nicht nur einmal, sondern zweimal hintereinander, die Fernsehübertragung zweier großer Sender zumindest für kurze Zeit zu übernehmen.
Bei WGN und WTTW standen die Telefone nicht mehr still. Verwirrte und sympathisierende Zuschauer ließen die Leitungen glühen. In den folgenden Wochen erfuhr die Geschichte des Fernseh-Hacks schnell virale Verbreitung. Lokale Zeitungen und Nachrichtensendungen berichteten von dem Vorfall mit einer Art Verstörung und Belustigung. (Die Schlagzeile der Tribune lautete: Powerful Video-Prankster c-c-c-could become Max Jailroom.”) WGN machte den Vorfall zu ihrer Top-Story und betitelte das Ganze mit „TV VIDEO PIRAT.”
„Ich war so angewidert, dass ich mein TV-Set kaputtschlagen wollte,” sagte ein Mann in Anzug und Krawatte einem Reporter. Eine junge Frau, offenbar ein Fan von Dr. Who, war wenig beeindruckt von dem Vorfall. „Wir werden die Aufnahme auf unserer VHS Kassette wohl überschreiben müssen,” jammerte sie. Ein älterer Mann verglich den Fernseheindringling mit einem Hooligan, der einen Ziegelstein durch ein Fenster schmeißt. Und ein kleiner Junge strahlte den Reporter an und resümierte: „Das war sehr, sehr, sehr lustig.”
Zum zweiten und dritten Teil über Max Headroom:
TV-Hacking is not a Crime — Die verzweifelte Jagd der Behörden nach Max Headroom