Dieser Text erschien zuerst in der ‘The Hello Switzerland Issue’ – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.
Von der Seite schaut mich ein 14 Kilo schweres altes Scharfschützengewehr an. Ich bin umgeben von hunderten Schweizer Waffen. Robert Sonderegger und ich sitzen uns gegenüber: er, der Mann mit der grössten Schweizer Privatsammlung an historischen Waffen. Und ich, die bis vor kurzem noch nie eine Feuerwaffe in der Hand gehalten hat. Erst für die Recherche zu diesem Text war ich vor ein paar Wochen mit der schweizerischen Armeepistole eines Freundes, der SIG P 220, in Berührung gekommen.
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Auch bei Robert Sonderegger darf ich Waffen anfassen. In der idyllischen Gemeinde Bauma im Zürcher Oberland hat der Waffensammler im Erdgeschoss seines Hauses ein kleines Museum errichtet. Seine Sammlung an schweizerischen Verteidigungswerkzeugen vom 15. bis ins heutige Jahrhundert ist beeindruckend. An der Wand sind mittelalterliche Hellebarden befestigt: sogenannte Stangenwaffen, eine Kombination aus Speer und Axt. Die vielen Armeegewehre im Raum stehen in Reih und Glied in Regalen vertikal nebeneinander. Ich erspähe Armbrüste und Bajonette. In den Vitrinen ruhen Robert Sondereggers besondere Spezialitäten: Steinschlosspistolen aus dem 17. Jahrhundert, die man mithilfe eines Feuersteins betätigt. Im Flur bewachen drei kleine Artilleriegeschütze den Waffenraum.
“Ihr Artikel wird doch kein Schnellschuss?”, fragt mich der 79-Jährige und zwinkert mir zu. Was mich zu diesem Sammler mit dem weissen Ponyhaarschnitt und den wachen skeptischen Augen geführt hat? Ich will die Waffenliebe der Schweizer verstehen. Als Deutsche mit Schweizer Wurzeln wunderte ich mich oft über die Selbstverständlichkeit der Waffe im schweizerischen Alltag: Die Schiessstände neben den idyllischen Kuhwiesen. Das Sturmgewehr im Kleiderschrank der Grosseltern. Die Pistole samt Munition in der Schreibtischschublade eines Freundes. Das kannte ich von Deutschland nicht. Was hat es mit dieser Waffenleidenschaft auf sich? Ich erhoffe mir von Robert Sonderegger Aufklärung. Kaum ein anderer verkörpert altschweizer Werte so wie dieser Mann: Er ist Patriot. Er ist Militärfan. Und er schätzt den Schutz, die Ordnung und die Ansammlung von Eigentum.
Robert Sonderegger lässt mich in seinem Privatmuseum eine Holzwand mit Hellebarden beiseite schieben – und zum Vorschein kommt eine schwere Tresortüre: Der Luftschutzkeller! Eine aktuelle Studie der NGO Small Arms Survey geht von 3.4 Millionen Schusswaffen aus, die sich in Schweizer Haushalten befinden. Damit rangiert die Schweiz weltweit auf Platz 4 – hinter den USA, Serbien und Jemen. Während die einen ihre Bunker, die eigentlich für den Kriegsfall gedacht sind, zu Musikräumen umfunktionieren, hortet Robert Sonderegger darin seine wertvollsten Waffen. Seine Leidenschaft für Waffen entfachte sich mit 17: das „Chlöpfen” am 1. August fand er toll. In der Rekrutenschule lernte er die Freude am Schiessen und an der Waffentechnik. Als Waffenmechaniker erstand er bald darauf seine ersten Gewehre. Innerhalb von 50 Jahren ist aus einem Hobby ein stattliches Privatmuseum entstanden, das seinesgleichen sucht.
Wie gross seine Waffensammlung ist, weiss Robert Sonderegger gar nicht genau. Er schätzt sie auf etwa 1.000 Waffen. Zu den ganzen Schusswaffen hat er auch die passende Munition in den Schubladen parat. „Jede einzelne der Waffen funktioniert noch”, sagt Robert Sonderegger stolz. Kein Wunder: Er hat sich auch als Restaurator antiker Waffen einen guten Ruf bei Sammlern und Museen erarbeitet. „Alle meine Waffen sind gebraucht, hauptsächlich von Soldaten im Militär.” Im Nachbarort betreibt er ein kleines Waffengeschäft, in dem er hauptsächlich antike Waffen und Zubehör verkauft.
Wie die Mehrheit der Schweizer (genauer gesagt 73.2 Prozent des Stimmvolkes 2013), befürwortet der Militärwaffensammler die bestehende allgemeine Wehrpflicht: „Das Militär ist ein wertvolles Kulturgut.” Mir dagegen schien es bisher leicht absurd, dass die Schweizer Armee im Land meiner Mutter fast den Stellenwert einer Heiligkeit einnimmt. Obwohl oder gerade weil dort seit genau 170 Jahren kein Krieg mehr ausgefochten wurde. Seit 1989 und dem Prosastück von Max Frisch Schweiz ohne Armee – ein Palaver hat sich nicht viel verändert. Der Schweizer Schriftsteller lässt darin einen alten Armeeveteranen zu seinem Enkel sagen: „Eine Schweiz ohne Armee, das ist nicht denkbar, Jonas, unsere Bevölkerung glaubt an diese Armee seit Napoleon.”
Für Robert Sonderegger liegen die Wurzeln des militärischen Phänomens viel tiefer: „Wir mussten uns ja schon früh freikämpfen, 1291, gegen die Habsburger.” Er zeigt zu einem Morgenstern, der hinter mir drohend an der Wand befestigt ist: Eine relativ primitive lange Holzkeule, mit eisernen, spitzen Dornen am Ende. Jeder Bauer und Bürger konnte diese Waffe selbst herstellen und sollte sie zuhause haben. „Seither ist die Schweizer Bevölkerung bewaffnet”, sagt Robert Sonderegger.
Ich frage ihn, wie er den heutigen Privatbesitz an Schiesseisen in der Schweiz einschätzt. Es seien zwar in den letzten 50 Jahren weniger geworden, antwortet er, aber noch immer habe fast jeder Schweizer Haushalt eine Waffe zuhause.
Es mögen viele Waffen für Jäger und Sportschützen darunter sein, aber hauptsächlich ist der private Waffenbesitz der Schweizer bekanntermassen eine Armeewaffe: das Sturmgewehr 90 oder die Armeepistole 75. Nach dem Ende der Dienstzeit dürfen Schweizer Soldaten – bei einwandfreiem Leumund – ihre Militärwaffe traditionsgemäss mit nach Hause nehmen. In Deutschland wäre das undenkbar.
Die Privatwaffentradition der Eidgenossen wird aber seit einigen Jahren mehr und mehr angefochten. Regelmässig flammen Debatten um den privaten Waffenbesitz in der Schweiz auf. Wie derzeit: Das EU-Parlament hat Mitte März, als Reaktion auf die jüngsten Terroranschläge, eine Verschärfung der Waffenrichtlinie verabschiedet, die auch für das Schengenland Schweiz gilt.
„In Deutschland besteht ja ein viel strengeres Waffengesetz als in der Schweiz”, klärt mich Robert Sonderegger in seinem Waffenraum auf. Das schweizerische Waffenrecht gilt als eines der liberalsten weltweit. Nicht, dass in der Schweiz Wilder Westen herrschen würde: Für seine Waffen brauchte Robert Sonderegger einen einwandfreien Leumund und Genehmigungen. Ausser für die antiken Waffen vor 1870, die sind bewilligungsfrei. Doch die Auflagen, um an eine Waffe zu kommen, sind in Deutschland deutlich höher als in der Schweiz. Das haben zumindest meine Gespräche mit dem Verband Deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler als auch mit der Kantonspolizei Zürich ergeben.
In Deutschland etwa muss man stichfest mit Belegen einen der drei Gründe vorlegen, warum man eine Waffe erwerben will: Jagd, Sportschiessen oder Sammlung. Ein Jäger muss eine Ausbildung vorzeigen und Sportschützen eine mindestens einjährige Mitgliedschaft in einem Schützenverein sowie eine Prüfung für Waffenbesitzer. In der Schweiz sind solche Zeugnisse nicht notwendig. In Deutschland sind Waffenbesitzer verpflichtet, Waffen in einem speziellen Waffenschrank einzuschliessen. In der Schweiz heisst es nur: „Sorgfältig aufbewahren und vor dem Zugriff unberechtigter Dritter schützen.” Hat das lockerere Waffengesetz etwas damit zu tun, dass Waffen von Gewalttaten in Deutschland oftmals aus der Schweiz stammen? Die Waffe des Berlin-Attentäters Amri, die des NSU-Trios und einige Waffen der RAF sollen in der Schweiz beschafft worden sein.
In seinem privaten Militärwaffenmuseum sinniert Robert Sonderegger mit mir über die Unterschiede zwischen Deutschen und Schweizern in punkto Waffenbesitz: „Deutschland ist ein viel obrigkeitsgläubigerer Staat als die Schweiz”, sagt er, als ich ein Gewehr in die Hand nehme. „Die deutschen Bauernunruhen wurden von den Fürsten im 16. Jahrhundert geschlagen. Seitdem waren die Mächtigen voller Angst, dass es wieder zu Aufständen kommt, wenn die Bürger Waffen besitzen. Wir dagegen hatten ja schon frühzeitig Demokratie. Das hat die Kantone zusammengehalten.” Und er fügt zwinkernd hinzu: „Ausserdem kennt ihr ja den Adolf.”
Die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sei umstritten, fügt der sehr geschichtsversierte Waffensammler hinzu. „Fast hätte Deutschland uns auch einbezogen. Von den Nazis gab es diesen Spruch: ‚Die Schweiz das kleine Stachelschwein, nehmen wir im Rückzug ein.’ Aber wir hatten einen Deal mit Deutschland: Die Schweizer bekamen Kohle vom deutschen Ruhrpott, während sie den Deutschen Munition und technische Geräte lieferten.”
Obwohl auch Deutschland ein Land der Waffen ist, besteht in der Gesellschaft, wie mir Ingo Meinhard vom Verband Deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler sagt, ein enorm gespaltenes Verhältnis zur Waffe. „Das hat natürlich mit den zwei Weltkriegen zu tun. Dass es hier deshalb höhere Restriktionen gibt, und Waffen kritischer betrachtet werden, verstehen wir. Es ist für uns in Ordnung, aber wir beneiden die Schweizer diesbezüglich.”
Die tief verwurzelte Waffenkultur und ein liberales Waffenrecht haben die Schweiz mit den USA gemeinsam. Und doch sind die Schweizer deutlich weniger von Waffengewalt betroffen als die US-Amerikaner. Das hänge mit der sehr in der Gesellschaft eingebetteten und geregelten Waffenkultur der Schweizer zusammen, meint Jérôme Endrass am Telefon. Er ist Armeepsychologe und Leiter des forensisch-psychologischen Dienstes des Justizvollzugs Zürich.
Häufig werde im Rahmen des „Obligatorischen” geschossen. Die Obligatorischen sind regelmässige Schiessübungen, an denen Wehrpflichtige teilnehmen müssen. Dabei sei der Prozess des Schiessens äusserst genau geregelt: wann man am Schiessstand das Gewehr aus der Hülle nimmt, sich hinlegt, die Munition einführt, das Gewehr durchlädt, und schliesslich schiesst. Wie man die Waffe anschliessend auseinandernimmt, sie fettet und wieder zusammensetzt. Diese ganzen Schritte seien vorgeschrieben und laut Jérôme Endrass „eher nichts für Chaoten”.
Der Schiesssport ist in der Schweiz beliebt: Die Schützenvereine zählen zu den grössten und ältesten Vereinen der Schweiz. Die Regierenden, wie der Waffensammler Sonderegger erzählt, „haben die Schützen richtig gefördert, zum Beispiel mit verbilligter Munition, damit sie im Falle des Krieges treffsicher waren.” Seit 1450 gibt es Schützenfeste, in Basel und Zürich etwa. Als eines der wichtigsten Nationalfeste der Schweiz gilt das Eidgenössische Schützenfest, das alle fünf Jahre stattfindet.
Das Schiessen hat für Schützen auch eine sinnliche Komponente, sagt der Psychologe Endrass: „Der Geruch des Öls, mit dem die Waffe eingerieben wurde. Vor dem Schiessen die hohe Konzentration und die Aufregung. Der Versuch, diese Aufregung zu reduzieren. Die sofortige Rückmeldung nach dem Schuss über Misserfolg oder Erfolg des Zielens. Der Geruch des Schiesspulvers nach dem Schuss.”
Und der Waffenliebhaber Robert Sonderegger? Er schiesst zwar gerne hin und wieder, doch noch lieber kauft er Waffen, auf Waffenbörsen, an Auktionen und bei Privatpersonen.
Robert Sonderegger ist ein Waffenliebhaber, keine Frage. Aber meine These, dass besonders viele Schweizer waffenvernarrt sind, sieht der Psychologe Jérôme Endrass skeptisch: „Man muss differenzieren. So kann man zum Beispiel zwischen Waffensammlern und Waffennarren unterscheiden. Während ich absolut keine Probleme damit hätte, wenn mein Nachbar ein passionierter Waffensammler ist, fühle ich mich in der Nachbarschaft eines Waffennarren möglicherweise nicht mehr wohl.” Wer sich regelmässig in der Schweiz aufhält, dem fällt auf, dass Schweizer gerne sammeln. Die Hochburg der Kaffeerahmdeckel-Sammler liegt in der Schweiz. Mein Schweizer Grossvater hatte eine riesige Briefmarkensammlung. „In der Schweiz leben viele vermögende Menschen, die sich Sammlungen leisten können. Nicht nur Waffen werden begeistert gesammelt”, sagt der Psychologe Jérôme Endrass.
Abgesehen vom Sammeln an sich kann die Leidenschaft an der Waffe Jérôme Endrass zufolge bei Menschen vielerlei Gründe haben: die Faszination an der Macht, an der Präzision, am Material, an der Mechanik. Robert Sonderegger hat es vor allem die Mechanik und die Geschichte der Waffen angetan, und auch die Schönheit, die er im handwerklichen Kunstwerk mancher Waffen sieht.
„Meiner Frau habe ich vor 50 Jahren ein Gewehr geschenkt, das sie besonders schön fand.” Er zeigt mir ein elegantes Damengewehr mit Zinnverzierungen. Was hält seine Frau von der aussergewöhnlichen Waffenleidenschaft ihres Mannes? „Sie schafft’s mit Freuden und Leiden”, sagt Robert Sonderegger.
Doch auch ein Waffenfan wie Robert Sonderegger sagt: „Meine Sammlung bedeutet mir sehr viel. Aber irgendwann muss ich mich von ihr lösen. Meine drei Kinder sind nicht an Waffen interessiert.” Sein Wunsch ist es, dass die Gesamtsammlung ein Museum oder eine Stiftung übernimmt. Was seine zukünftigen Projekte sind, frage ich Robert Sonderegger. Der 79-Jährige schmiedet an einem Pistolenbuch: „Da gibt es nämlich noch Nachholbedarf.”
Meine Reise in die Schweizer Welt der Waffen hat hier vorerst ein Ende. Durch den Besuch bei Robert Sonderegger wurde mir wieder bewusst, dass viele eigenartige gesellschaftliche Phänomene aus der Geschichte heraus zu verstehen sind. Hängen geblieben ist mir neben dem Einführungskurs in Waffenkunde die Beobachtung, dass sich eine Menge Schweizer an traditionellen Strukturen festhalten. In diesen Strukturen wähnen sie sich in Sicherheit und Freiheit.