Eine junge Frau liegt auf dem Boden und hält ein Tamagotchi-Ei in die Kamera, die 24-Jährige hat über 100 der virtuellen Haustiere gesammelt.
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Zu Besuch bei einer Tamagotchi-Züchterin

"Ich habe meine Tamagotchis ständig neben mir auf dem Tisch. Meine Kollegen wissen, dass das ein Teil von mir ist", sagt Alicia Kostoglou.

Alicia Kostoglou lebt in einem ruhigen Vorort der belgischen Stadt Charleroi. Die Menschen hier sprechen Französisch mit einem bezaubernden Dialekt, Backsteinhäuser säumen die Straßen. Die 24-Jährige arbeitet als Sportlehrerin für Kinder mit Behinderung, den Großteil ihres Tages nimmt allerdings ihr Hobby in Anspruch.

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"Jeden Morgen wecke ich sie auf und schaue, ob sie hungrig sind. Dann mache ich sauber, wenn sie Kacka gemacht haben", sagt Alicia. "Ich bade sie, dann räume ich für sie auf oder spiele mit ihnen." Die junge Frau redet hier nicht etwa von Kindern oder Hundewelpen, sondern von Tamagotchis – virtuelle Haustiere, die Ende der Neunziger- und Anfang der Nullerjahre in keinem Kinderzimmer fehlen durften. Aktuell kümmert sich Alicia um vier Plastikeier gleichzeitig. Während unserer Unterhaltung hält sie in jeder Hand eins, zwei weitere trägt sie wie Uhren um ihre Handgelenke.


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Die 1996 vom japanischen Spielzeughersteller Bandai auf den Markt gebrachten Tamagotchis sind digitale Haustiere, die in einem eiförmigen Gerät leben. Sie waren ein weltweiter Erfolg. Jedes Kind wollte eins und kurz nachdem es eins bekommen hatte, durfte es schon den ersten virtuellen Tod betrauern. Wie echte Lebewesen erfordern Tamagotchis nämlich Aufmerksamkeit, Hingabe und Routine. Sie haben Bedürfnisse und werden diese nicht erfüllt, sterben sie.

Zwei Hände, die Tamagotchi-Eier halten

Aber Alicia ist Profi: In ihren Händen hält sie die Ur-Ur-Urgroßenkel ihrer Ursprungs-Tamagotchis. Als Züchterin will sie die Kreaturen nicht nur am Leben halten, sondern sie, sobald sie erwachsen sind, mit anderen Tamagotchis verkuppeln. Sie sorgt dafür, dass sie Kinder haben, damit auch diese aufwachsen und sich fortpflanzen können. Alicias bisheriger Rekord sind 65 aufeinanderfolgende Generationen. Das beweist sie uns sogar, indem sie in ein Gerät der Vorfahren Batterien einsetzt. 

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"Wenn ich alle vier gleichzeitig eingeschaltet habe, kann es schon mal eine halbe Stunde dauern, bis ich frühstücken kann", sagt Alicia. Selbst während der Arbeit muss sie sich um ihre Tiere kümmern, in der Regel macht sie das während der Mittagspause. "Ich habe meine Tamagotchis ständig neben mir auf dem Tisch. Ich kann sie im Blick behalten und gleichzeitig eine Geschichte erzählen", sagt sie. "Meine Kollegen wissen, dass das ein Teil von mir ist, dass ich so funktioniere." Auch während unserer Unterhaltung blickt sie immer wieder auf die Eier, wie andere vielleicht andauernd auf ihr Handy schauen.

Alicia nimmt uns mit nach oben, um uns ihre Tamagotchi-Sammlung zu zeigen – 23 Plastikeier, alle ausgeschaltet. Ein Gewusel aus Pink, Gelb und Lila, einige mit Kettchen. In jedem einzelnen davon schlafen Dutzende Generationen virtueller Haustiere. Wenn Alicia die Zahl ihrer Herde vergrößern möchte, schaltet sie die alten Tamagotchis wieder ein und führt deren Stammbaum fort. 

So langsam fragst du dich wahrscheinlich: Wie wird man Tamagotchi-Züchterin? Für Alicia begann alles, als sie sieben war. Es war das Jahr 2004, "Yeah!" von Usher lief auf Rotation und Tamagotchis waren überall. Nur Alicias Mutter war von den digitalen Haustieren nicht überzeugt. Sie wollte, dass ihre Tochter draußen spielt und nicht vor einem kleinen Plastikei hockt.

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Zum Glück war da noch die Großmutter, die Alicia zum Geburtstag ihr erstes Tamagotchi schenkte. Zwei Wochen später waren bereits 25 Tamagotchi-Generationen in dem kleinen pinken Ei geschlüpft.

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"Ich habe so viel mit diesem Tamagotchi gespielt, dass die Speicherkarte durchgebrannt ist", sagt Alicia. "Ich konnte es nicht reparieren – egal, was ich versucht habe." Zum Glück kam ihr wieder ihre Großmutter zur Hilfe und gab ihr eine zweite Chance. "Das ist aber das Letzte!", habe sie ihre Mutter gewarnt. Das war es natürlich nicht. Das zweite Tamagotchi veränderte dann alles für Alicia, als ihr klar wurde, dass sie die virtuellen Kreaturen jetzt auch züchten kann. Es war die Geburtsstunde ihres kleinen Imperiums.

Eine Frau greift in zwei Taschen voll mit Tamagotchi-Eiern

Ein Teil von Alicias Sammlung

In den vergangenen drei Jahren hat Alicia ihre Tamagotchi-Zucht noch einmal intensiviert. Inzwischen arbeitet sie mit einem System: Akribisch druckt sie die Stammbäume ihrer virtuellen Haustiere aus und klebt sie in ein Notizbuch. Vor allem die schier unzähligen Möglichkeiten des Spiels haben es ihr angetan. "Ich versuche, ungewöhnliche Mischlinge zu züchten", sagt Alicia. "Manchmal habe ich versucht, eine Figur zu schaffen, die genauso wie ihr Vater oder ihre Mutter ist. Das ist allerdings unmöglich." Sie hat jedoch eine Reihe von Cheat-Codes zur Hand, mit denen sie verschiedene versteckte Objekte freischalten kann.

Ihre Leidenschaft teilt Alicia mit einer lebendigen Community von 300 Tamagotchi-Fans, die sich in einer französischen Facebook-Gruppe austauschen. Auf Instagram folgt sie spanisch- und englischsprachigen Tamagotchi-Liebhabern, mit denen sie regelmäßig Play-Dates arrangiert, um ihre virtuellen Geschöpfe bei Laune zu halten.

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Eine Frau hält ein Notizbuch mit handschriftlichen Notizen in die Kamera

Hier hat Alicia alle Cheat-Codes aufgeschrieben

Alicia lebt mit ihrem Freund Jean-Michel Bertinchamps zusammen. Der 31-Jährige brauchte erstmal etwas Zeit, um sich an das Leben mit den Plastikeiern zu gewöhnen. "Das ist mehr als ein Hobby, das ist eine Obsession", sagt er. "Sie spielt den ganzen Tag lang mit ihnen – egal, was wir machen oder wohin wir gehen." Er hat sie gebeten, "wenigstens während der Mahlzeiten und nachts" Pausen einzulegen, um die Beziehung nicht unnötig zu strapazieren. Vor ein paar Monaten wurde er noch nachts von aufmerksamkeitsbedürftigen Tamagotchis geweckt. 

Alicia wiederum hat sich in den Kopf gesetzt, ihren Freund vom Spiel zu überzeugen. Immer wieder legt sie ihm eins ihrer heißgeliebten virtuellen Haustiere in die Hand. Jean-Michel findet jedoch, dass er zu alt für das Kinderspiel sei. Er zockt lieber FIFA auf seiner PS4. "Das ist weniger monoton", sagt er. Alicias Mutter hat die Leidenschaft ihrer Tochter inzwischen akzeptiert. So wirklich verstehen will sie Alicias Faszination allerdings bis heute nicht.

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