Als Teilzeit-Streetworker in der Downtown Eastside (DTES) von Vancouver, Kanada, verbringe ich jede Woche ein paar Tage damit, mich mit Hunderten der insgesamt ungefähr 18.000 Drogenabhängigen und Obdachlosen der Gegend zu unterhalten. Ich begann vor Kurzem, ein paar dieser Männer und Frauen zu fotografieren, und zwar bevor und nachdem sie sich für eine Nacht der Arbeit, der sie eben nachgehen, zurechtgemacht hatten. Dazu gehören Prostitution, Zuhälterei, Betteln, Autodiebstahl, Müllsammeln oder Klauen. Fast immer hat es auch etwas mit der Beschaffung von Drogen zu tun.
Die sieben Frauen in dieser Serie sind alle von irgendwelchen Drogen abhängig und fallen alle in mindestens drei der folgenden offiziellen Kategorien: HIV- oder Hepatitis-C-positiv, schizophren, bipolar, Transvestit, Krebspatient, Drogendealer, Sexarbeiter, Niedrigverdiener und Opfer sexuellen Missbrauchs. Die exzentrischen, wenn auch nicht immer sonderlich komplexen Verkleidungen, die sie benutzen, sind ebenso transformativ wie funktional: Was einem hilft, einen Dollar zu verdienen, kann einem auch Schutz vor allzu zudringlichen Cops bieten, die sich für die schändlichen Umtriebe der DTES-Bewohner interessieren. Während unserer Gespräche bat ich die Frauen, die Vorzüge ihrer jeweiligen Verkleidung zu erläutern und mir zu erzählen, was hinter ihrem Spiel mit den Perücken und Kostümen steckt.
[Anmerkung: Nicht alle der sieben Frauen gehen kriminellen Aktivitäten nach—sie tragen die Perücken und verkleiden sich aus sehr unterschiedlichen Gründen. Manche von ihnen sind noch nicht einmal wirklich Frauen, und alle verwenden hier geänderte Namen.]
„Ich mache mir die Haare und schminke mich ungefähr seit ich elf bin. Ich benutze große Mengen Theaterschminke, wie die Leute im Fernsehen oder auf der Bühne. Ich mache es fast jeden Tag. Ich bezeichne mein Make-up gerne als „Prinzessinnenlook“. Es ist sehr speziell. Ich werde als Freak oder Spinnerin bezeichnet. Keiner, den ich je gesehen habe, trägt Make-up wie ich. Mein wichtigstes Ziel, wenn ich mich schminke, ist, dass keiner das, was ich trage, nachmachen kann. Ich liebe Glitter, wie du ja siehst. Ich liebe viel Farbe. Ich mag aber auch Schwarz. Schwarz ist wahrscheinlich eine meiner Lieblingsfarben—Schwarz und Weiß. Ich nenne mich gern ‚Sparkle‘, weil ich so oft Glitter trage. Ich fühle mich dadurch leichter, freundlich und warmherzig. Der Glitter zieht viel Aufmerksamkeit auf sich. Und in der Sonne sieht er einfach nur fantastisch aus. Er macht Spaß, ist einzigartig und attraktiv und oft fühlt man sich besser, wenn man ihn trägt.

CHERYL
„Ich habe früher Drogen verkauft und wollte das von meinem Privatleben trennen. Mit dem extremen Make-up konnte mich keiner, der mich mit meinen Kindern kannte, wiedererkennen. Die Polizei hat mich einmal zu Hause verhaftet und sie waren sich nicht sicher, ob sie die richtige Person erwischt hatten—bis sie meine Fingerabdrücke nahmen. So fing das also bei mir an. Ich finde, dass ich von Natur aus schön bin, und jetzt ist es eher eine spielerische Art, die Leute zu schockieren—sogar meinen Freund. Ich bin mutiger, wenn ich geschminkt und verkleidet bin. Ich probiere mehr Sachen aus, gehe z. B. in ein schickes Restaurant. Wenn ich nicht geschminkt bin, bin ich schüchterner. In letzter Zeit lasse ich mich von meiner Kultur inspirieren. Ich bin eine Native und mein Vater war Medizinmann. Ich habe darüber nachgedacht, eine Modelinie mit Elchfellen und solchen Sachen herauszubringen. Es hat so was Urmenschenhaftes. Ich finde das sexy.“

CAROL „Ich bekam vor sechs Jahren Krebs und begann meine Haare zu verlieren. Und nach so etwas will eine Frau natürlich ihre Mähne wiederherstellen, also besorgte ich mir eine Perücke. Ich trage sie auch jetzt noch gerne. Du kannst jederzeit ein anderer Mensch sein. Und sie sind noch dazu billig—außer, wenn es menschliches Haar ist. Es gab diesen Typen, ein Müllsammler, der 30 wirklich hochwertige Perücken fand. Sie waren traumhaft. Ich kaufte drei. Ich kann nicht wirklich darüber sprechen, weil die Untersuchung noch läuft, aber er hat einen ziemlich großen Raubüberfall abgezogen und trug dabei eine davon. Sie hatten ihn auf der Kamera, aber wegen der Perücke haben sie ihn immer noch nicht gekriegt.“

TIFFANY
„Ich möchte jeden Tag jemand anderes sein. Das ist, als wäre ich ein Superheld. Man zieht sich einen Mantel über und verwandelt sich—man kann jemand anderes sein und so verschwindet die Depression. Es ist, als würde man sein gesamtes Ich komplett ändern. Ich kaufe gern in Secondhandläden ein und nähe auch manchmal Sachen selber. Ich trage nicht gerne Dinge, die alle anderen auch haben, also halte ich immer nach anderen Dingen Ausschau. Ich wechsle von einem Extrem ins andere. Die Perücken, die man hier kriegt, scheinen alle gleich auszusehen, also schneide ich sie, verändere den Look, färbe sie, oder mache Strähnchen in sie rein. Sie sollen mehr nach mir aussehen.“
SHELLY
„Ich kaufe normalerweise lange, glatte, schwarze Perücken. Ich kenne Mädchen, die bei der Arbeit Perücken tragen, aber ich habe das nie gemacht. Wenn man nicht wirklich gut auf seine Perücken achtet, halten sie nicht lange. Das lerne ich gerade. So wie ich sie davor gekämmt habe, habe ich alle Haare ausgerissen. Dann sagte mir eine Dame, was für eine Art Kamm ich kaufen soll, aber sie hat mir nicht gesagt, wie man sie wäscht. Ich habe mir gerade eine neue gekauft und nachdem ich sie gewaschen hatte, war sie völlig verfilzt und es war total nervig. Ich trage sie nur, wenn sie neu sind und noch gut aussehen. Es ist teuer, sie nur zweimal zu tragen und dann wegzuwerfen, aber ich mach es so.“

KAREN
„Wenn man eine Perücke trägt, kann man seinen Look und sogar seine Stimmung komplett verändern. Man bekommt Komplimente. Wenn die Leute deine innere Schönheit bemerken … das macht einfach Spaß! Wenn Leute sagen: ‚Wow!‘ Jedes Mal, wenn ich meine Frisur ändere, zaubert es mir ein Lächeln ins Gesicht. Meine eigenen Haare gingen mir bis zu den Knien, aber ich habe sie den Kindern, die Krebs haben, gespendet. Ich trage seit 15 Jahren immer wieder Perücken. Am Anfang hatte ich Angst, dass die Perücke runterrutschen könnte. Ich dachte, dass mich die Leute komisch ansähen, weil ich eine Perücke trug. Aber inzwischen bin ich erwachsen und es ist mir egal, was die Leute denken.“

LIZA „Auf die Idee mit den Perücken brachte mich meine beste Freundin, Antoinette, ein 55-jähriger Transvestit. Ich hatte immer lange Haare gehabt, bis sie mir irgendwann jemand abschnitt, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte. Das hat alles an mir verändert—meine Sinnlichkeit, meine Sexualität, einfach alles. Irgendwann steckte ich mich dann mit MRSA, mit superresistenten Bakterien an. Es ist eine Entzündung des Zellgewebes, bei der einfach ganze Fleischstücke absterben. Ich habe dadurch mein eines Auge verloren. Ich hatte permanent Kokain an den Fingern und bekam Kokain in die Augen. Weil meine Nerven betäubt waren, merkte ich es nicht. Ich ging zu einem Optiker und der sagte, es sähe aus, als hätte ich zehntausend kleine Kratzer auf der Oberfläche der Hornhaut meines Auges, sodass die MRSA-Bakterien sich da problemlos einnisten konnten. Eines Tages traf ich zufällig jemand, dem ich ein BMX-Rad verkauft hatte. Er tat so, als hätte ich das Fahrrad geklaut und machte eine riesige Szene. Er schlug mich dreimal ins Gesicht. Dadurch wurde meine Augenhornhaut noch mehr verletzt und so konnte die Infektion ins Innere des Auges vordringen. Mein Auge ist im Prinzip explodiert.“