Es gibt Menschen, die keine Lust mehr haben, sich an die Spielregeln der Gesellschaft zu halten. Es gibt Menschen, die die Schnauze voll haben und sich vom alles bestimmenden kapitalistischen Leben verabschieden. Gustav (Name geändert) bezeichnet sich selbst als U-Boot, das von der sichtbaren Oberfläche der Gesellschaft verschwunden ist. Vor mittlerweile sieben Jahren ist der heute 51-Jährige untergetaucht und somit im geregelten System „de facto nicht mehr existent”, wie er selber sagt.
Bis auf seinen Führerschein hat Gustav alle Dokumente und Urkunden, die seine Identität belegen könnten, vernichtet. Geburtsurkunde, Meldezettel, Staatsbürgerschaftsnachweis, eCard … alles ist im Müll gelandet—und den Führerschein hat er auch nur behalten, weil er am leichtesten zu transportieren war. Das ist seine Seite der Geschichte. Das System auf der anderen Seite vergisst natürlich nicht so schnell. Entsorgte, private Dokumente bedeuten nicht, dass Gustav nicht trotzdem irgendwo in den systemischen Datenbanken aufscheint. Zwar mit veralteten oder falschen Informationen, aber zumindest noch immer registriert.
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Weil ich mir eine Vorstellung davon machen wollte, wie der Alltag eines Aussteigers aussieht, habe ich mich mit Gustav getroffen, um mit ihm über das Jagen, Geld und sein Leben vor und seit dem Ausstieg zu sprechen. Als ich zum Treffpunkt in die Büros der Wiener Tafel kam, begrüßte mich ein gepflegter, höflicher Mann. Ich fragte ihn, wo ich Gustav treffen könnte. „Das bin ich”, sagte er.
„Wozu mache ich das alles eigentlich?”
Als Grund für seinen Ausstieg nennt Gustav kein bestimmtes, einschneidendes Erlebnis oder einen einzelnen Umstand. Er hat in normalen Verhältnissen gelebt, hatte eine Wohnung und einen gut bezahlten Job im Controlling. Er war dennoch irgendwie unzufrieden, aber konnte sich nicht erklären, woran es wirklich lag. Er wollte primär weg—weg von einfach allem.
Raus aus dem bestehenden System und kein automatisiertes Wesen mehr sein, das nur funktionieren kann, wenn es sich selbst und seine Leistungen verkauft. Dabei ging es ihm nicht um ein mehr oder weniger gutes Gehalt, sondern um den Umstand, dass es immer jemanden gibt, der ein Vielfaches an deiner Arbeit verdient als du selbst dafür kriegst. „Es war ein generelles Hinterfragen und Zweifeln an der Funktionsweise der Gesellschaft. Die Frage, ,wozu oder für wen genau mache ich das jetzt eigentlich?’ ist mir mehr und mehr im Kopf herumgegeistert. Das habe ich viele Jahre, fast Jahrzehnte mit mir herumgetragen.”
Was für manche nach der ausgeprägtesten Form einer Midlife-Crisis klingt, war für Gustav Grund genug, alles hinzuwerfen. Genau das tat er auch. Mit einem Rucksack und 10 Euro, aber ohne weiteren Plan hat er die Verbindungen zu seinem bisherigen Leben gekappt und ist ausgestiegen. Der Job wurde gekündigt, die Wohnung aufgegeben, der Kontakt zum Umfeld quasi über Nacht gekappt. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, wo er die nächste Nacht verbringen oder wie er an Essen kommen würde.
„Ich habe diesen Schritt nicht so drastisch wahrgenommen wie mein Umfeld. Wenn ich den Ausstieg geplant oder angekündigt hätte, hätte ich es mir vielleicht wieder anders überlegt”, meint Gustav. Sein Leben hat sich mit dieser Entscheidung schlagartig auf die unmittelbaren Bedürfnisse reduziert. Essen, Trinken, Kleidung und Unterschlupf. Wobei letzteres überwiegend den Schutz vor Wetter meint.
Auf die Jagd gehen
Die Suche nach Essbarem nennt Gustav „jagen”. Tipps, wo es etwas zu essen gibt, hat er sich nie geholt—learning by doing war die Devise.
Schritt 1: Instinkte einschalten, warten und beobachten. Wo ist meine Beute und wie komme ich an sie heran?
Schritt 2: Auf mein Timing achten und schneller sein als meine Mitbewerber.
Schritt 3: Zugreifen und essen.
Er hatte schnell herausgefunden, dass in Food-Courts, wie zum Beispiel in der Millennium City, und Fast-Food-Lokalen, sowie bei öffentlichen Veranstaltungen, wie dem Filmfestival am Rathausplatz, tonnenweise Essbares weggeschmissen wird. „Wenn du dich nicht extrem auffällig verhältst, kannst du an solchen Orten locker Reste essen gehen.” Und auffällig ist Gustav nicht. Er ist ein gepflegter, höflicher, normal gekleideter Mann. Das Auffälligste ist wahrscheinlich der winzige Marienkäfer-Sticker auf seiner Brille.
Er erzählt mir, dass während dem Filmfestival täglich locker 10 bis 15 Hungrige um den Rathausplatz kreisen und auf Essensreste hoffen. „Ich nenne das aber nicht Konkurrenz, sondern Mitbewerber, weil ja grundsätzlich genug für alle da ist. Existenzangst hatte ich zu keinem Zeitpunkt.” Gustav hatte für die Zeit nach dem Ausstieg zwar keinen Plan, aber eine eindeutige Richtlinie: Er würde niemals eine soziale Einrichtung in Anspruch nehmen. Er war sich seines freiwilligen Ausstiegs von Anfang an klar und würde sicher niemandem irgendwo den Platz wegnehmen. „Wenn es nicht wirklich sein muss, verzichte ich darauf. Und es musste bis jetzt nicht sein.”
Bei meinem Gespräch mit ihm wird schnell klar, dass Gustav eine Art Grundvertrauen in seine Problemlösungfähigkeiten hat. Das sei auch der Grund, warum er noch nie so etwas wie Futterneid empfunden hat. Klar, er isst heute bei weitem weniger als früher, aber wenn man mit offenen Augen durch den Tag geht, ließe sich in unserer Überflussgesellschaft immer etwas Essbares finden. Einschlafen musste er zumindest noch nie hungrig.
Übernachten
In den ersten drei Monaten nach seinem Ausstieg hat Gustav im Rathauspark auf Parkbänken geschlafen. Er hatte Glück, denn es war Sommer und draußen war es warm und trocken. Solange das Wetter mitgespielt hat, war das Übernachten im Freien für ihn kein Problem. Sobald es kälter wurde, musste ein Plan her und so ist er auf die so genannten Tauschkreise gestoßen. Das sind gemeinnützige Vereine, in denen man via Zeitwert-Karten Dienstleistungen und Waren bargeldlos tauschen kann. Neben Kleidung und Handys gibt es dort auch Angebote wie „Du darfst bei mir wohnen und dafür hilfst du mir im Haushalt.” So hat Gustav die ersten Wintermonate überstanden.
Über solche Kontakte ist Gustav auf einen netten Menschen gestoßen, der ein Fitness-Center besitzt und ihm angeboten hat, dort jederzeit übernachten zu können. Er durfte die paar wenigen Stunden zwischen den Öffnungszeiten dort verbringen—heute macht er das nicht mehr. Das hat er so lange getan bis ihn jemand gefragt hat, ob er nicht gerne auf diverse Katzen aufpassen würde. Ja, würde er und tut er auch heute noch.
Wenn du nichts hast, kannst du auch nichts verlieren.
Das Grundbedürfnis ,Wohnen’ kann Gustav seither mit Katzen-, Post- oder Blumen-Sitting befriedigen. Menschen mit Geld fahren auf Urlaub und stellen ihre Wohnungen vertrauenswürdigen Leuten zwischen drei Tagen und vier Wochen zur Verfügung, die dann im Gegenzug ein Auge darauf werfen. Für Gustav ein guter Tausch.
Das bedeutet auch, dass er ständig „umziehen” muss, was einen großteils Besitzlosen wie Gustav nicht unbedingt stört. Wenn noch dazu jemand meint, er müsse Gustav den Kühlschrank voll machen oder ihm sogar ein wenig Taschengeld hinterlassen, sagt er natürlich nicht nein. Das ist aber dezidiert nicht sein Anspruch.
Geld
Bis zum Katzen-Sitting hat Gustav weitgehend ohne Geld gelebt und sein Leben mittels Tauschkreisen und „Jagen” geregelt. Dabei hat sich mit der Zeit aber—er sittet teilweise vier Wohnungen gleichzeitig—so viel Geld angesammelt, dass er heute sogar eine Öffi-Jahreskarte besitzt und sich mit dem übrig geblieben Geld auch ab und zu eine Kleinigkeit zu essen kaufen kann.
State of mind
Der Wechsel vom betriebsamen Berufsleben zum Leben als Aussteiger hat Gustav eine ganze Menge Zeit verschafft. Diese Zeit hat ihn ganz automatisch dazu gebracht, sich auf sich selbst und auf das Leben im Jetzt zu konzentrieren. Er hat gelernt, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft loszulassen. Weg vom ferngesteuerten Handeln, hin zum bewussten Treffen von Entscheidungen. Er nennt das Mentalhygiene. Mit der Devise „wenn du nichts hast, kannst du auch nichts verlieren” hat Gustav auch die Angst vor vielen Dingen verloren. Genau so wie das Wort „müssen”. Das hat er sich abgewohnt, weil es sein Denken behindert. Auf die Frage, ob er ein wenig esoterisch sei, meinte er nein.
Arbeit und Eigentum
Wichtig für Gustav ist es, selbst entscheiden zu können. Er möchte auf keinen Fall für Geld arbeiten, sondern nur, wenn er Spaß an der Tätigkeit hat. Weil er ein Zahlen-Freak ist, arbeitet er heute zwar wieder im Controlling, aber diesmal ohne Gehalt bei der Wiener Tafel. Früher war er auch Mitglied des Lieferanten-Teams und hat Essen an Bedürftige ausgeliefert, jetzt hat sich das Ganze auf den administrativen Bereich verlegt, wobei er dort auch Vorträge für Schulklassen hält.
Gustav kommt mit nur zwei kleinen Taschen durch das Jahr. Zwei Jeans, eine kurze Hose und ein paar T-Shirts reichen. Der Fitness-Center-Deal hat ihm nämlich auch Zugang zu einem Spind verschafft, wo er Saison-Ware verstauen kann. Im Winter kommt da die Sommerkleidung hinein, im Sommer die Winterkleidung. Das ist eine sehr große Erleichterung für ihn. Durch die Tauschkreise kommt Gustav für eine entsprechende Arbeitsleistung relativ leicht zu fast allen Produkten, die er braucht. So hat er sich auch ein Handy erarbeitet.
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Zum Abschluss erklärt mir Gustav noch einmal, dass das A und O zum erfolgreichen Ausstieg das Mindsetting ist. Ein echter Aussteiger ist ein freiwilliger Aussteiger und sieht sich nicht als Opfer oder bestimmte Situationen als Bestrafung. Ihm ist allerdings auch klar, dass er nur aus der privilegierten Sicht eines freiwillig Ausgestiegenen sprechen kann und dasselbe nicht auf Menschen zutrifft, die diese Entscheidung nicht freiwillig getroffen haben. Gustav ist kein Obdachloser, sondern hat es geschafft, Ordnung in sein weitgehend besitz- und geldloses Leben zu bringen.
Er nennt die Zeit vor seinem Ausstieg oft „altes Leben”, das mit vielen „müssen” vollgestopft war. Heute ist er ein einsamer Wolf und will keine Verpflichtungen mehr eingehen, sondern jederzeit sagen können, dass er „nicht mehr will”. In dem Wissen, dass sein Gegenüber genau weiß, dass Gustav nichts mehr müssen möchte. Bis heute hat er seinen Ausstieg keine Sekunde lang bereut und sieht momentan absolut keinen Grund, in das System zurückzukehren.
„Mein Leben war ein Puzzle und der Ausstieg war das letzte Puzzlestück, das das Bild vervollständigt hat”, sagt Gustav abschließend.