Die 90er waren extrem

Ich sah Marlene McCartys Arbeiten zum ersten Mal in den 90ern. Sie zeigte ein Reihe riesiger Porträts von jungen Mädchen, die ihre Mütter ermordet hatten und neben denen Texte hingen, in denen die Morde in allen grausigen Einzelheiten beschrieben waren. Die Mädchen waren mit HB-Bleistiften und Kugelschreibern—den Zeichengeräten von Kindern, die während des Unterrichts in ihre Hefte kritzeln—und bis ins winzigste Detail genau gezeichnet und ihre Kleider waren durchsichtig, was sie gespenstisch und gleichzeitig bedrohlich und verletzlich aussehen ließ. Eine Art tragische Monster. 

Seitdem hat sich der Themenkreis von Marlenes Zeichnungen etwas vergrößert und umfasst jetzt alle möglichen Mörder: Mädchen, die ihre ganze Familie umgebracht haben, Gruppen von Mädchen, die einen Freund umgebracht haben, evangelikale Christen, die ihre Kinder umgebracht haben (weil Gott es ihnen gesagt hat), eine auf gruselige Weise sexuell aufgeladene Serie von Kindern und Familien beim Beten und eine ganz neue Serie über die Beziehung von Wissenschaftlerinnen zu den Affen, die sie studieren (ebenfalls sexuell aufgeladen). 

Videos by VICE

Vor diesen Arbeiten, in den späten 80ern und frühen 90ern, basierten Marlenes Arbeiten vorwiegend auf Text, darunter große Leinwände, die mit schmutzigen Wörtern bedruckt waren. Außerdem arbeitete sie mit dem AIDS-Aktivistenkollektiv Gran Fury zusammen, wobei ikonische Poster von sich küssenden gleichgeschlechtlichen Paaren oder Paaren unterschiedlicher Hautfarbe (neben denen der Slogan stand: „Sex tötet nicht. Gier und Ignoranz töten“) entstanden, die 1989 auf New Yorker Bussen klebten und Touristen aus Iowa irritierten. 

Die politische und feministische Kunst war in den 90er-Jahren im Aufwind und Marlene McCarty ist ein wichtiger Teil dieser Geschichte. In New York ist ein Teil dieser Werke diesen Monat in der 80WSE Gallery der New York University in einer ersten großen Übersichtsausstellung ihrer Arbeiten zu sehen. Wenn ihr es dort nicht hinschafft, könnt ihr euch den Katalog der Ausstellung besorgen, in dem auch ein toller Essay von Kathleen Hanna ab­gedruckt ist—die Marlene kennenlernte, als sie vor zwei Jahren gemeinsam ein Graduiertenseminar an der New York University abhielten. Ich hätte meine Mutter ermordet, um an diesem Seminar teilnehmen zu können. 

Hier folgt eine Auswahl früherer Arbeiten von Marlene aus der Ausstellung—mit Kommentaren von ihr zu jedem Bild.

Als Erstes gab es diese LOVE-Skulptur von Robert Indiana und dann machte das Kunstkollektiv General Idea daraus eine Version, bei der es AIDS hieß, was wiederum Mitglieder von Gran Fury wütend machte, weil sie fanden, dass das eine sehr passive Art sei, mit der AIDS-Krise umzugehen. Also machten sie als Antwort eine Version mit RIOT. Und meine Antwort darauf war dann: ,Oh Mann, fickt euch doch einfach …‘—also FUCK. Die Leute haben sich damals so leicht aufgeregt. Die 90er waren extrem.“

In vielen dieser Arbeiten ging es um bestimmte Posen, die ich genderkritisch hinterfragte, um so auf den männ­lichen Mythos in der Kunst zu reagieren. Was heißt es z. B., wenn ein Mädchen sagt: ‚I fucked Madonna‘, und was könnte das in der Realität heißen?“

„Oh, der Maispenis. Die Arbeit heißt Colonel. Es ist ein Stück vertrockneter Maiskolben, der in der Mitte einer Leinwand klebt. 1990 schrieb die Kunsthistorikerin Anna Chave einen Essay mit dem Titel „Minimalismus und Machtrhetorik“, in dem es darum ging, dass der Minimalismus behauptet, seine Macht läge darin, dass er stumm ist, wohingegen sie schrieb, dass Minimalismus eher zum Erhalt des Status quo beiträgt. Anna und ich saßen beide in einer Jury des Whitney und das ist die Arbeit, die sie auswählte, um mich zu repräsentieren. Sie passte gut zu ihrer Behauptung, dass stumme Objekte eine Menge aussagen können.“

„Das ist Gina Grant. Meine Recherchen drehten sich zunächst um Mädchen, die ihre Mütter umgebracht hatten. Ich wollte Situationen finden, wo die Beziehung zwischen Frauen, die ja so wichtig sein soll, kollabiert. Später recherchierte ich dann auch zu Mädchen, die nicht nur ihre Mütter, sondern manchmal auch ihre Väter und ihre gesamten Familien umgebracht hatten. Also ging es dann allgemein um den Hass auf die Familie—den verzweifelten Versuch dieser Mädchen, sich von der Struktur ihres Umfelds zu befreien, in der sie gefangen sind. Ich habe diese Art Zeichnungen sehr lange gemacht und sie alle mit Bleistift und Kugelschreiber gezeichnet, weil ich mich gern selber quäle. Wenn man so lange mit einer Zeichnung zubringt, verschmilzt man auf eine Weise mit dem Bild, die nicht normal ist.“

„Als Teil meiner Recherchen für die Murder-Girl-Serie bin ich auch zu den ganzen Tatorten hingefahren und habe kleine Zeichnungen von ihnen gemacht. Ich musste einfach wissen, wie es sich anfühlt, an diesen Orten zu sein. Außerdem war es eine gute Ausrede, um quer durchs Land zu fahren. Das war das gruseligste Haus. Es war Gina Grants Haus in South Carolina. Sie war eine 14-jährige, sehr begabte Schülerin und sie zerschlug ihrer Mutter mit einem Kerzenständer den Schädel, nachdem sie sich wegen eines Jungen, den Gina mochte, gestritten hatten. Das Haus hatte eine sehr lange Auffahrt und wenn man die einmal hinuntergefahren war, fühlte man sich dort wie in einer Falle. Das Haus hatte etwas wirklich Unheimliches an sich. Ich wollte so schnell wie möglich wieder von dort weg, aber als ich versuchte, rückwärts wieder rauszufahren, kam ich die Anhöhe nicht hoch und das Auto blieb stehen. Ich drehte fast durch.“

„,Honk if your body is not yours‘—hier ging es um die Frage, wem dein Körper eigentlich gehört: deinem Vater, deinem Mann, deinem Staat? Das war Teil dieser ganzen AIDS-Diskussion; wie viele Pharmazeutika sie in deinen Körper packen können, um ihn zu kontrollieren. Ich machte eine Serie, die 1990 im White Columns in New York zu sehen war, wo ich Autoaufkleber sammelte und in der Galerie auslegte, damit die Leute sie mitnehmen konnten. Sachen wie ‚I heart fags‘, ,I break for queers‘, ,Pray for RU-486‘. Ich kam damit gleich nach Jenny Holzer und Barbara Kruger, die damals die Größ­ten waren. Sie waren so explizit in ihren Forderungen, und ich wollte mit der Sprache etwas indirekter und humorvoller umgehen. Nicht, dass ich dabei immer so erfolgreich gewesen wäre.“

„Ich habe zwischen 1980 und 1982 ungefähr acht dieser Farbinstallationen in einem Club namens Kulturhaus Palazzo in der Nähe von Basel in der Schweiz gemacht. Es ist Farbe, die an Plastikbahnen, die ich im Raum verteilt hatte, hinunterläuft. Alle großen zentraleuropäischen Punk- und New-Wave-Bands spielten dort, wie LiLiPUT, Yello und Der Plan. Es war toll, denn ich war einfach eine kleine Designstudentin und konnte dort machen, was ich wollte.“

„Das war eine Bodenskulptur, die aus 15.000 Streichholzbriefchen bestand. Es waren ganz normale Streichholzbriefe, die man per Katalog bestellen konnte. Auf der einen Seite sind Pin-up-Fotos und auf der anderen ließ ich sie folgendes drucken: ,I got a clit so big I don’t need a dick.‘ Wie ihr seht, sind ‚clit‘ und ‚dick‘ per Hand geschrieben. Eine Frau von der Firma rief mich an und sagte: ,Ähmm, wir haben ein Problem. Wir können zwar ‚dick‘ drucken, aber nicht DAS ANDERE WORT.‘ Sie sprach das Wort ‚clit‘ noch nicht mal aus. Also sagte ich: ,OK, nehmt die Druckvorlage—denn das war ja noch die Zeit, bevor digital gedruckt wurde—und entfernt ‚dick‘ und ‚clit‘.‘ Dann holte ich ein paar Freunde zusammen und wir schrieben es überall per Hand rein. Ich lasse die Sachen gerade für meine Retrospektive neu produzieren, aber der Kurator ist sich nicht sicher, ob wir die Studenten 15.000 Mal ‚dick‘ und ‚clit‘ schreiben lassen dürfen. Er sagt: ,Vielleicht können es die älteren Semester machen.‘“

„In den spätern 80ern und 90ern machte ich viele Bilder mit Text. Ich legte Bahnen von diesem Aufbügelmaterial nebeneinander und bügelte sie dann auf riesige unbehandelte Leinwände. Dabei ging es mir um die Vorstellung von der Malerei als ein männliches Medium und darum, was passiert, wenn der Inhalt dem widerspricht. Also habe ich diese sehr weibliche Position eingenommen und die Methode des Bügelns benutzt, also einer eindeutig weiblichen Tätigkeit.“

„Ein Großteil der Texte, die ich verwendete, waren gefundene Zitate, wie Graffitis, oder Sachen, die ich irgendwo gehört hatte. Diese Arbeit heißt Factory Wall in Cincinnati. Ich war in Cincinnati zur Schule gegangen und hatte das tatsächlich als Graffiti auf einer Fabrikwand gesehen. Es hängt in Tittenhöhe an der Wand. Leider wird die Arbeit nur im Katalog zu sehen sein, denn sie wurde 1991 von jemandem bei Metro Pictures gekauft und sie haben in ihren Unterlagen nur einen Namen und wir können diese Person nicht finden. Ich hoffe, dass derjenige, der sie gekauft hat, sie noch hat, und sich an ihr erfreut.“