Das Schreckensszenario von 1984 ist Wirklichkeit geworden—Disappears im Interview

Disappears aus Chicago arbeiten wie die Gestörten im Akkord. Seit ihrer Gründung 2008 kommt jedes Jahr mindestens eine neue Platte von ihnen heraus, dazu gehen sie auf Tour und arbeiten nebenher noch in ganz normalen Berufen. Aber die oft als Krautrocker Kategorisierten liefern keinen replizierbaren Pop-Runk-Junk ab. Jede ihrer Platten ist ein rundes, eigenständiges Werk voll neuen Räumen und Begriffserkundungen, die die Imagination ausloten. Sie sind Getriebene, schweben zwischen Zukunftsoptimismus und panischer Angst vor der totalen Technodystopie. Ihre neue Scheibe, die am 19. Januar erscheint, heißt Irreal. Wie passend, dass sie Anfang Februar im Berghain spielen werden.

Noisey: Eure neue Platte habt ihr Irreal genannt. Warum habt ihr euch dafür entschieden und wie bildet es sich in den Lyrics ab?
Brian Case: Ich habe es irgendwann in einem Buch gelesen—vorher hatte ich es noch nie gehört. Im Englischen ist das kein sehr häufig benutztes Wort. Ich schaute also nach, was es bedeutet. Um ehrlich zu sein, fand ich es recht seltsam, denn es sah nicht wirklich wie ein echtes Wort aus und dann heißt es auch noch „unecht“. Also habe ich es mir notiert. Es schien uns eine gute Inspiration zu sein, so auf die neue Platte begrifflich zuzugehen. Unsere Idee war es, dass sie sich wie ein Traumzustand anfühlt, wie ein sanftes Schweben, wobei du runter auf die Erde schaust. Die Lyrics haben wir auch aus diesem Blickwinkel geschrieben. Sie handeln davon, wie du dich an Dinge erinnerst. Wie ein Beobachter von weit weg.

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Die moderne Dystopie scheint auch eines der Themen zu sein, das euch immer wieder beschäftigt. Warum, glaubst du, fantasieren die einen davon, dass die Technologie das Leben in einen paradiesischen Zustand versetzen wird, während andere denken, dass es vielleicht zur Hölle auf Erden wird?
Klar, viele meinen, Technologie wird alles vereinfachen und verbessern. Jeder will ein Stück davon abhaben und das nächste Teil entwickeln, das dann noch alles besser kann. Aber ich glaube, dass die fortschreitende Technologisierung die Gefahr birgt, dass die Menschen ohne Technik überhaupt nicht mehr zurechtkommen. Viel der neueren Technologie birgt auch wirklich dunkle Elemente—denk alleine an die Möglichkeit jeden jeder Zeit zu tracken, Zugriff auf all unsere Informationen und unser Privatleben zu haben, zu wissen wo und wann wir mit wem reden und vor allem worüber—das ist so ziemlich das Schreckensszenario von 1984. Nur es ist Wirklichkeit geworden. Das hat damit zu tun, meine ich, wie Technologie benutzt wird. Ich bin schon auch optimistisch was technische Neuerungen angeht. Aber es ist eben sehr leicht, alles Positive aus reiner Profitgier zu einer Gefahr für alle zu machen.

Auf eurer neuen Platte singt ihr auch über Eternalismus. Was hältst du davon?
Ich glaube wirklich daran. Das heißt, ich glaube, die Zukunft existiert bereits und wir bewegen uns nur auf sie zu und in sie hinein. Vielleicht bedeutet das, dass all unsere Handlungen, unser ganzes Leben schon feststeht… vielleicht auch nicht. Ich bin nicht sicher, ob ich das auch glauben will. Es ist ein schwieriges Konzept, aber es fasziniert mich sehr.

Roboterethik ist auch noch so eines eurer Themen.
Oh ja! Das liebe ich. Was für ein modernes Problem! Ich finde es krass faszinierend, neue Technologie zu entwickeln und dann darüber nachdenken zu müssen, wie wir mit diesen Produkten umzugehen haben. Welche Rechte und Pflichte sie haben. Das ist alles verrückt—künstliche Intelligenz ist schon unter uns.

Wie habt ihr euch denn eigentlich gegründet?
Das ist wahrscheinlich wie bei vielen anderen Bands auch gelaufen. Wir waren alle schon befreundet, hatten verschiedene Musikprojekte am Laufen und haben uns schlussendlich dazu entschieden, auch endlich einmal gemeinsam etwas zu machen. Es hat sich von Anfang an sehr natürlich angefühlt und wir entwickelten uns als Band auch schnell. Am meisten hat sich für uns ausgezahlt, dass wir leicht von anderen Bands zu unterscheiden waren.

Ihr seid eine der produktivsten Bands der letzten Jahre. Seit eurer Gründung 2008 habt ihr jedes Jahr mindestens eine neue Platte veröffentlicht und dazu tourt ihr auch noch ständig. Wie macht ihr das und was treibt euch an?
Zusammen Musik zu machen, ist uns sehr wichtig. Es ist unsere Kunst und unser Ausdruck, also arbeiten wir hart daran. Wir spornen uns gegenseitig an und loten unsere musikalischen Grenzen aus. So gelangen wir oft in völlig neue Situationen, lernen neue Konzepte kennen, die uns helfen, die Dinge anders zu sehen. Wenn du außerdem so häufig wie wir Platten veröffentlichst, kannst du ständig auf Reisen gehen. Das bedeutet für uns, dass wir von überall die verschiedensten Eindrücke sammeln können und dokumentieren so unser Leben.

Habt ihr eigentlich auch noch reguläre Jobs nebenher?
Wir arbeiten alle. Wir sind Barkeeper, Zimmerer, Grafikdesigner, Bühnentechniker, Eltern—hey, wir sind verdammt beschäftigte Leute!

Wie habt ihr euren Sound entwickelt und wie findet ihr euren Platz in der Musik?
Wir sind stark geprägt von Repetition und minimalistischen Strukturen. Deswegen werden wir wohl oft unter dem Label Krautrock vorgestellt. Wir verarbeiten aber auch traditionelle Blues-Strukturen in unseren Songs. Das sind wir also irgendwie auch. Uns gefällt aber auch Dub Style, von der Produktion her. Und wir arbeiten in unsere Musik negativen Raum ein. Das hält alles recht offen. Wir versuchen einfach Musik zu machen, die uns alle zufriedenstellt. Klar sind wir uns unserer Einflüsse bewusst, aber wir versuchen, sie immer neu zu kombinieren. Zumindest hoffe ich, dass wir das schaffen.

Ihr seid beim Label Kranky unter Vertrag. Wie hat denn eure Zusammenarbeit begonnen?
Wir waren schon lange Fans und Freunde des Labels, also haben wir ihnen unser erstes Album geschickt. Eher um zu sehen, was sie davon halten. Wir hätten nicht gedacht, dass sie es veröffentlichen wollen. Natürlich waren wir sehr glücklich darüber—es ist wirklich eines der besten Labels. Sie sind pragmatisch und ehrlich. Kranky hat eine echte Identität und eine gute Einstellung. Ich bewundere sie und vertraue ihnen komplett.

Ich frage seit ein paar Monaten alle erfahrenen Bands und Musiker, die ich interviewe, die eine Frage: Was ist Musik?
Musik ist die Weise des Menschen, sich die Dinge zu erklären und zu erzählen, die sie anders nicht ausdrücken könnten. Musik ist Gefühl, Antrieb, Verlangen und Sehnsucht. Ich glaube wirklich fest, dass Musik die ganze Welt zusammenbringen kann. Und dann wird die Religion wieder alles zerstören (lacht).

Irreal erscheint am 19. Januar bei Kranky. Holt es euch bei Amazon.

Disappears auf Tour:

01/02/2015 DE Hamburg – Hafenklang w/ Dope Body
02/02/2015 DE Berlin – Berghain Kantine w/ Dope Body
03/02/2015 DE Cologne – King Georg

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