Ich bin mit Texten von Mario Barth beim Poetry Slam aufgetreten

Der Autor als er selber, der Autor als Poetry Slammer | Foto: VICE​

Als mich der Moderator mit einem Applaus auf die Bühne bittet, gibt es nichts mehr zu beschönigen. Ich bin jetzt Poetry Slammer, ein waschechter mit überdimensionalem Schal, Strickpulli und Schnürstiefeln aus Leder. Hektisch schraube ich den Mikroständer auf Mundhöhe. Vor mir in der ersten Reihe sitzen kaum Leute unter 50.

Ob es beim Poetry Slam eine inoffizielle Regel gibt, dass die höheren Fachsemester weiter vorne sitzen dürfen? Jetzt bloß nicht gleich zu Anfang mein Publikum beleidigen. Also tief Luft holen und los geht’s.

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“Als du zu mir zogst, war ich allein: Die Miete hoch, die Wohnung klein, die Frage aller Fragen: Willst du, willst du, willst du mein Mitbewohner sein?”

Kurze Pause, ich gucke hoch. Die mutmaßlichen Langzeitstudenten in Reihe 1 schauen mich neugierig an. Wie konnte es nur soweit kommen? Von vorne: Seit jeher fühle ich mich von Poetry Slams provoziert. Von den Künstlerinnen, die mit gespielter Überwindung ihr Seelen-Inneres preisgeben. Von den Zuschauern, die ganz unkonventionell auf Bierkästen oder Sitzkissen rumlümmeln.

Dabei einen Gesichtsausdruck aufsetzen, der unmissverständlich verrät: “Ich habe meinen Fernseher ja schon vor Jahren weggeschmissen.” Und ganz besonders provoziert mich Julia Engelmann, dieser fleischgewordene WG-Putzplan.

Aber es geht hier nicht um Einzelpersonen, sondern um das gesamte Genre. Um all das, was Poetry Slams zu sein behaupten: ungeschminkt und schonungslos, irgendwie verpeilt, aber doch liebenswürdig. Alles ein riesiger Bluff.

Von Nervosität bei den Slammenden keine Spur, dank der Teilnahme am Bundesfinale von “Jugend debattiert” sitzt jede Betonung im ab – ge – hack – ten Sla – mmerflow. Authentisch ist hier gar nichts. Das ist zumindest mein Eindruck. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nur einen Poetry Slam in meinem Leben besucht. Und den auch nur, bis ich mich zur Pause in eine nahegelegene Kneipe flüchtete.

Der Autor als Poetry Slammer auf der Bühne
Foto: mit freundlicher Genehmigung des Autors

Bei “Jugend debattiert” habe ich früher auch mal teilgenommen. Ich passe also genau ins Profil: Ich lebe in Berlin, dem Mekka aller Slams, studiere kunstloses Brot und trinke mein Bier in Kreuzberg.

Ob mein substanzloses Gepöbel einem Poetry-Slam-Abend standhält? Ob ich beweisen kann, dass die Künstlerinnen nicht mehr im Angebot haben als bissige Gesellschaftskritiken mit originellen Botschaften wie: “Unsere Generation bezieht ihr Selbstwertgefühl nur noch über Instagram-Likes”?

Oder mühsam konstruierte Anekdoten über peinliche Tinder-Dates, die drei überraschende Wendungen beinhalten, aber mit Sicherheit genauso passiert sind? Vor Jahren haben Jan Böhmermann und der Rapper Maeckes im Neo Magazin Royale Facebook-Posts von Carmen Geiss oder Mario Barth im Slamstil vorgetragen.

Das Aufeinanderprallen der zwei Welten kam beim Studiopublikum gut an. Aber wie käme der stumpfe Humor unter echten Wettkampfbedingungen an?

Ich vermute, dass die Unterschiede zwischen Cindy aus Marzahn und Emilia aus dem vierten Semester Germanistik gar nicht so groß sind. Wenn ich den “Kennste Kennste”-Humor von Mario Barth nur gut genug tarne, würde er auch bei einem Poetry Slam beklatscht werden.

Und zwar so: Ich tausche das Klischee der strunzdämlichen Frau gegen den verhipsterten Großstadt-Indianer aus, die weibliche Vorliebe für Schuhe gegen den Hang zu extravaganten Bauchtaschen. Das müsste im Berliner Studi-Milieu doch jeder fühlen.


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Auch Marios Schwärmereien über seine Singlejahre, als er noch “bei offener Tür kacken” konnte und nicht von seiner Freundin mit Deko-Artikeln terrorisiert wurde, lassen sich mühelos auf die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in einer WG ummünzen. Bei mir klingt das dann so:

“Jetzt ist alles anders, Duftstäbchen im Pfandglas. Nur ein Satz (Einsatz) in vier Wänden später, Welcome Home schmeichelt der Fußabtreter, Dekoterror brüll ich wütend in mein Inneres hinein, muss erst lernen mich zu zügeln, die Miete hoch, die Wohnung klein. Früher, ach früher war hier Totentanz, mittags fiel der Hosenzwang, bei offner Tür zum Klo gegang’, Verschimmeltes war Wohnbestand”

Gag für Gag klopfe ich Marios Gesamtwerk nach slamtauglichen Passagen ab. Die enorme Entwicklung vom ersten Bühnenprogramm (“Männer sind Schweine, Frauen aber auch”) bis zu den aktuellen Nummern (“Männer sind faul, sagen die Frauen”). Die Show im ausverkauften Olympiastadion vor 70.000 Menschen gucke ich mir in voller Länge an, zwei Mal.

Bei Wikipedia lese ich, dass Mario Barth in Kreuzberg aufwuchs. Wäre der “peinlichste Berliner 2008” ein erfolgreicher Slammer, wenn er zwanzig Jahre später geboren worden wäre?

In mein Gedicht baue ich alles ein, was Gender-Experte Barth zum Geschlechterverhältnis erforscht hat. Den Langenscheidt mit dem Titel Deutsch – Frau/Frau – Deutsch: Schnelle Hilfe für den ratlosen Mann. Aber vor allem Marios Freundin, die laut ihm zu blöd ist, um den Unterschied zwischen Nilpferd und Nashorn zu peilen.

Dass SIE “im Dialog kocht”, während ER “beim Fressen seine Ruhe haben will”. Eine feine Beobachtung: Für Männer ist Essen Nahrungsaufnahme, für Frauen Selbstverwirklichung. Lässt sich prima auf den prätentiösen Mitbewohner umschneidern, der die Gerichte aus der Netflix-Serie Chef’s Table nachkocht . Mein erfundener Mitbewohner hat selbstverständlich auch keine Ahnung von Filmen für die Zielgruppe “echte Kerle”. Den Lieblingsort einer jeden Frau, wie Barth sie sich vorstellt, nämlich Outletstores in den letzten Provinznestern, passe ich Berliner Verhältnissen an. Ich wähle einen angesagten Club, mit dessen Besuch man beim Mittagessen in der Mensa prahlen kann.

“Es gibt vieles, das uns im Weg ist. Du hältst 4 Blocks für ’nen Spielmodus bei Tetris und Nächte im KitKat für ein Erlebnis, tanzt da splitternackt im Käfig, auch ich hab’s versucht, beim Türsteher – vergeblich.”

Mein Gedicht soll aber nicht einfach lustig sein. Es muss auch ernste Momente geben, die ich mit brüchiger Stimme und Kloß im Hals vortragen kann. Auch Mario zieht ja nur über Frauen her, um ihnen am Ende zu sagen, dass wir Männer ohne sie einfach nicht können.

Ich beschreibe also, dass mich der streberhafte Lebensstil meines Mitbewohners anfangs tierisch nervt. Der Putzfimmel, das aufwändige Gekoche und die Spaziergänge über den Wochenmarkt – alles entnommen aus Marios Stand-ups.

“Dein Leben ist ein Berliner Untergrundfilm, der Titel: Ein Brustbeutel für jede Lebenslage , mein Leben ist ein VICE-Artikel: Wie ich 365 Tage dieselbe Unterhose trage.”

Dann aber, Achtung: Plot Twist, befreit mich mein Mitbewohner aus meinem selbstgewählten Gefängnis. Den Wochenenden, die ich ungewaschen hinter zugezogenen Gardinen verbringe. Gewärmt von der glühenden Konsole.

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Foto: Viktoria Grünwald

Noch ein paar Sprüche von Fanshirts im Gedicht verstecken (“Ich bin nicht faul, ich habe Geduld”). Nach einem Wochenende steht der Text. Jetzt muss ich nur noch den Mut zusammenkratzen, um mich tatsächlich auf die Bühne zu stellen.

Da trifft es sich gut, dass auch in Potsdam geslammt wird. Die Gefahr, dass sich mir bekannte Menschen in die Location verirren, ist relativ gering. Ich melde mich beim “HavelSlam” an und ergattere einen Platz auf der offenen Liste.

“Um 19:30 Uhr am Einlass und bitte zwei Texte mitbringen”, heißt es in der Info-Mail. Schaffe ich es ins Finale, brauche ich also zusätzliches Material. Mein Plan ist es, im zweiten Schritt alle Hüllen fallen zu lassen und einen originalen Mario zu präsentieren.

Dem zuvor begeisterten Publikum wird im Moment der Erkenntnis das Lachen im Hals stecken bleiben. Der angehenden Bildungsbürgerin begreift, welchen Ghostwriter er in der ersten Runde noch abgefeiert hat. So stelle ich mir das vor.

Ich erstelle ein Medley der besten Stand-ups. Darin philosophiert Mario über die genetisch bedingte Neugier von Frauen, die sie dazu verleitet, Männern beim Telefonieren immer dazwischen zu quatschen. Über maskulines Selbstbewusstsein, das unsereins beim Blick in den Spiegel trotz unübersehbarem Ranzen denken lässt: “Schlüppi hoch, ich bin eine Liebesmaschine.” Mein Auftritt endet mit den Worten: “Schüss Erfurt, ihr wart ein sensationell geiles Publikum”.

In der Nacht vor dem Slam schlafe ich schlecht. Ich gucke an die Decke und frage mich, ob Mario noch aufgeregt ist. Nach all den Auftritten in den größten Mehrzweckhallen dieser Republik. Wir hängen ja irgendwie gemeinsam in der Nummer drin.

“Und wenn mich schlaflose Nächte und Lampenfieber plagen, als müsste ich ein ausverkauftes Olympiastadion bespaßen, ich mich allein fühl dank all dieser Ängste, sagst du gelassen: Kennste, kennste, kennste.”

Auf der S-Bahn Fahrt nach Babelsberg stelle ich mir zwei Halbe gegen die Aufregung rein. Ich beäuge die anderen Fahrgäste kritisch. Alle könnten potenzielle Konkurrenz sein. Mein Gegenüber trägt einen Herschel-Rucksack: verdächtig. Kleine Generalprobe in der Bahn, meine Begleitung erteilt letzte Ratschläge.

“Der Berliner Dialekt gelingt dir nicht, also lieber weglassen, Paul.” Die Location für meinen Auftritt ist das Waschhaus in Potsdam. Zum Jahresende spielen hier noch Katrin Bauerfeind und Felix Lobrecht. Ich sehe mich absolut in dieser Kategorie.

Zum Havelslam sind etwa 60 Leute in das Kulturzentrum gekommen, größtenteils beschaltes Publikum. Mit meinem Outfit liege ich also goldrichtig: erste Erkenntnis des Abends. Beim Slammen ist alles ganz locker und ungezwungen. Selbst die Erklärung der Regeln, keine Instrumente oder Texte anderer Künstler und Künstlerinnen. Wer alles verstanden hat, macht mal ein lustiges Tiergeräusch.

So munter geht es dann auch los. Zum Intro spielt der Musiker Ben Drummer auf dem Keyboard, wir kennen uns schon von der Toilette. Drummer singt ein Lied über Martin Kupinski, einen ehemaligen Klassenkameraden, der seine Jugendliebe gevögelt hat.

Der erste Slammer dichtet auf Französisch, ohne die Sprache zu beherrschen. Das klingt dann so: “liberté, egalité, fritteuse; Voulez vous couchez avec moi, sexuel carambolage.” Das Publikum hält sich die Bäuche vor Lachen.

Ich fühle mich an Matze Knops Hommage an den ehemaligen Bayern-Stürmer Luca Toni erinnert. Der “Kult-Comedian” reimt im Song “Numero Uno”: “Tortellini, Cappuccini, Con Martini”. Aber der Poetry hat natürlich eine tiefere Ebene als Knops “Luca Toni, Telefoni, Berlusconi”.

Der Unterschied: Der Slammer gibt dem Vortrag einen pseudointellektuellen Anstrich und liefert eine Textanalyse mit. Die Gallizismen, also die eingedeutschten Begriffe, fehlten in der deutschen Sprache. Kulturelle Vielfalt bedeutet Bereicherung für uns, denn: “Wer immer nur Kartoffeln isst, wird auch nur Kartoffeln kacken.” Begeisterung.

Die Jury reckt die Bewertungsschilder von 1 bis 10 in die Luft: 9, 8, 7. Die Messlatte für meinen Auftritt ist damit gelegt. Der Weg aus der zweiten Reihe auf die Bühne kommt mir unendlich lang vor. Auf der Bühne angekommen stelle ich mich schüchtern vor.

Schon nach zwei Zeilen bin ich von meiner Performance so ergriffen, dass ich die Augen schließe. Vielleicht schäme ich mich auch einfach nur. Doch es läuft gut an, weder hetze ich noch verhaspele ich mich. Lasse Pausen an den richtigen Stellen, einundzwanzig, zweiundzwanzig.

“Und das ist noch nicht der Tiefpunkt unser sexlosen Beziehung. Ich sei bekloppt, weil ich die Wochenenden vor der Konsole verplemper, während du mit Weidenkorb im Arm über den Markt am Kotti schlenderst. Du sagst, ich sei primitiv, aber glücklich, und Mario Barth alles andere als witzig, wer sich an solch stumpfer Scheiße überhaupt erfreut – deutsch –Mitbewohner/Mitbewohner – deutsch.”

Die Gäste im Waschhaus rätseln noch, ob ich lustig sein will oder tatsächlich so ein tristes Leben führe. Vereinzelte Lacher bei einer Zeile, in der das Wort Sex vorkommt. Sonst mehr so geräuschvolles Schnauben durch die Nasenlöcher, man fühlt sich unterhalten.

Ein langgezogenes “Ihhh”, als ich erkläre, das ganze Jahr dieselbe Unterhose zu tragen. Dann kein überschwänglicher, aber motivierter Applaus. Und 29,5 Punkte. Na also, nur knapp hinter dem Paris-Korrespondenten. Für ein Dreier-Finale könnte das reichen.

Während Deutschlands “bedeutendster Lebensmittelslammer” über die Vorzüge von Blumenkohl rappt, flüstere ich den Einstieg des originalen Mario vor mich hin:

“Was mir immer wieder bei langen Beziehungen auffällt, sind bestimmt auch viele Pärchen heute Abend hier, die sich fragen: Lange Beziehung, wie macht man dat, mensch, lange Beziehung ?”

Ich schaue mich nach den Notausgängen um. Nach dem Liebesgedicht eines jungen Mannes, dessen Bedeutung sich in zu vielen Nebensätzen verliert, liege ich meinen Berechnungen nach weiterhin auf Finalkurs.

Eine Newcomerin kämpft sich mit zittrigen Händen durch ihre Gedanken zum Thema Schwangerschaftsabbruch und der Reform der § 218 ff. StGB. Sie kehrt die Verhältnisse um. Wie sich Frau Seehofer in einem Matriarchat wohl zu der Frage positionieren würde?

Bedächtiges Schweigen im Waschhaus. Als die Jury ihre Punkte verteilt, beginnt eine Diskussion, ob man über so ein wichtiges politisches Statement abstimmen kann, man einen Text schlecht bewerten kann, ohne den Inhalt abzulehnen. Nach einem Hin und Her zwischen Moderator und Veranstalter die Entscheidung: Man kann.

Das war es mit Platz drei und dem erhofften Finale. Gegen die Selbstbestimmung der Frau kommt ausgerechnet Mario nicht an. Vielleicht ist das auch ganz gut so. Ich bin trotzdem stinksauer und fühle mich in meiner Schreiberehre gekränkt.

Da lasse ich mich in einem literarischen Wettbewerb von einem Matze-Knop-Double und Yung Kohlrabi abziehen, das ist wirklich der Tiefpunkt.

Kurze Raucherpause zum Abreagieren. Mit Kippe im Mundwinkel raune ich meinem Kumpel wüste Beschimpfungen zu, bis mich der Moderator in den großen Gesprächskreis winkt: “Paul, super Text! Wann kommst du wieder?” Balsam auf meiner geschundenen Slammerseele.

Auch die spätere Gewinnerin, eine wirklich talentierte Poetin, stilecht mit Barett und rotem Lippenstift, sucht nach einem Kompliment für meine Performance: “Genialer … Schal”. Das haben Mario und ich nicht verdient. Mein Kumpel muss wiederholt erklären, dass es in dem Gedicht nicht um ihn ginge.

Vor dem Finale meldet sich Ben Drummer mit einer Liebeserklärung an die Frau zurück, die bei Helene-Fischer-Konzerten die Windmaschine bedient. Als bei der Siegerehrung ein Teeservice ausgelobt wird, überlege ich, wie Kanye West bei den Video Music Awards auf die Bühne zu stürmen und dem Moderator das Mikrofon zu entreißen. Mache ich natürlich nicht.

Auf dem Heimweg dann eine Mischung aus Erleichterung, den Auftritt hinter mich gebracht zu haben, und Ärger darüber, in der Vorrunde ausgeschieden zu sein.

Mario Barth hat zehn Comedypreise und die auch völlig zu Recht, denke ich trotzig. Und ich gewinne mit seinen Witzen nicht mal einen lausigen Poetry Slam. Ich spüre eine merkwürdige Verbundenheit zu dem allseits verachteten Comedian. Wie ich: ein verkanntes Genie. Meine ursprüngliche Motivation, Slammer als Mario Barths mit Immatrikulationshintergrund zu enttarnen, habe ich inzwischen ganz vergessen.

“Diese Neue in meinem Alten zeigt mir deutlich, was ich bin. Ein Verlierer zum Verlieben, ein zu groß gewordnes Kind. Und erkenne ich dich jetzt durch den hellen Schein, denk ich an den Anfang, die Miete hoch, die Wohnung klein.”

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