Zwischen Haftbefehl und Umschlagplatz – Aufwachsen in Offenbach
Foto: Julian Henzler

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Zwischen Haftbefehl und Umschlagplatz – Aufwachsen in Offenbach

Soufians Eltern aus Marokko haben in Offenbach ein neues Zuhause gefunden. Uns hat er erzählt, wie er zwischen Plattenbau und Gymnasium aufgewachsen ist.

Ich bin in Offenbach geboren, eigentlich unter guten Umständen. Beide Eltern verdienen ihren Lohn und haben Arbeit. Ich konnte also ganz normal die Schule besuchen und hab gerade meinen Abschluss gemacht. Das ist ja nicht bei jedem so.

Meine Mutter stammt aus Marokko, ist aber schon früh nach Deutschland gekommen. Also schon als Kind, als sie etwa sechs Jahre alt war. Mein Vater ist dann im Alter von 18 Jahren auch hier her gezogen. Sie waren schon in Marokko Nachbarn, die Familien kannten sich.

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Man muss wissen, bei uns ist das so, dass, wo eine Familie hingeht, da reist die nächste Familie nach. In Nador, unserer Stadt in Marokko, ist es so, dass die meisten in den Bereich Frankfurt oder Offenbach ziehen, weil vielleicht der Ur-Opa schon im frühen 20. Jahrhundert hierher gezogen ist. Denn natürlich geht man dort hin, wo sich schon jemand auskennt. Wenn du also Marokkaner in meiner Gegend fragst, wo sie herkommen, dann stammen die meisten aus Nador.

Ich fahre regelmäßig in die Heimat, einmal im Jahr etwa. Naja eigentlich ist es die zweite Heimat, mein Leben ist ja hier. Nador ist eben meine Heimat, weil ich dort nicht Urlaub mache wie ein Tourist. Ich fühle mich dort genau so zuhause wie hier. Schließlich habe ich in meiner Familie auch von klein auf beide Sprachen gelernt. Ich habe vier Geschwister und wir leben alle zusammen. Die Familie hält immer zusammen, das ist sehr wichtig bei uns. Auch die Religion, ich bin da sehr hinterher und trinke zum Beispiel auch nicht.

Jetzt hab ich meine Matura, aber ich hänge jetzt nicht rum und genieße nur die Zeit. Solange man jung ist, muss man so viel schaffen wie geht. So lange es eben geht. Ich mache meine Musik und ein Studium. Meine Eltern haben mir zu dem Studium geraten, Bildung ist in unsere Familie immer ein Thema. Liegt vielleicht auch daran, dass mein Vater hier ja recht niedrig angefangen hat. Man kann ja nicht in einer Bank anfangen als oberster Manager und 12.000 Euro im Monat verdienen. Er hat hier meine Mutter kennen gelernt und als LKW Fahrer gearbeitet.

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Dieses Gefühl, dass man hier trotzdem was erreichen kann und eine Perspektive hat, wie etwa mein Studium, das gefällt mir. In der Heimat ist das nicht so.

Ich wohne im Offenbacher Nordend und ich würde nicht unbedingt sagen, dass das ein Ghetto ist. Meine Gegend ist halt komplett multikulti. Es gibt in Offenbach viele Ecken, die sind nicht schön und da sieht man Sachen, die man lieber nicht sehen möchte. Es kommt aber sehr stark auf die eigene Stimmung an, ob man diese Sachen dann in den Vordergrund rückt oder eben nur als Teil des Ganzen sieht. Denn die Ecken, in denen alles gut aussieht, gibt es natürlich auch, da muss man sich nicht ekeln oder Angst haben.

Viele kennen ja die Hochhausblocks, in denen viele Migranten wohnen, die einfach überfüllt sind. Dort treffen viele Menschen mit verschiedenen Problemen aufeinander, dort werden auch Drogen gedealt und vieles passiert. In meinem Viertel ist es aber nicht so schlimm.

Der Marktplatz in Offenbach war früher ein richtiger Umschlagplatz, da ging's rund. Früher waren es dort eher die 25-Jährigen, die verkauft haben, heute sind es die Jugendlichen. Ab 15 geht es vielleicht los, die Leute wollen Geld, sie sind heiß und fangen an zu verkaufen. Einige haben es vielleicht auch nicht nötig, aber die wollen halt Geld. Aber es gibt auch viele Jugendliche, die verkaufen Gras und legen Mama Geld unters Kopfkissen. Das ist sehr unterschiedlich.

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Video: Der vergessene Krieg in der Sahara: Flucht vor der marokkanischen Besatzung.

Durch Zufall hab ich Haftbefehl kennengelernt. Das war in meiner Straße. Haftbefehls Bruder Capo hat in einem Song eine Line, die geht: „Ich roll mit meinem Abi im schwarzen Maserati" und an dem Tag hab ich einen schwarzen Maserati gesehen. Ich hab die Line laut gerappt, dabei hab ich gar nicht gesehen, wer da drin sitzt. Auf einmal ging die Scheibe runter und da sitzt Haftbefehl. Wir haben geredet und ich hab ihm von meiner Musik erzählt. Wir haben immer noch Kontakt und ich hab sogar in seinen Videos mitgespielt. Obwohl er viel zu tun hat, ist er noch oft hier unterwegs.

Er ist schon so etwas wie ein Vorbild, aber das ist auch ein bisschen durchwachsen. Er motiviert uns, weil wir sehen, dass jemand von ganz unten gekommen ist und es geschafft hat. Der Weg muss nicht der gleiche sein, aber für Leute, die es schwer haben, die motiviert es, dass man es schaffen kann. Auch mit einer Ausbildung, einem Job.

Man muss schon sagen: Spanier, Engländer, eben Leute, die aus dem anerkannten Westen kommen, haben hier einen anderen Stand, als etwa wir, die aus Afrika stammen. Marokkaner, aber auch Türken, Jugoslawen, und so, das ist schon eine andere Schublade an Ausländern. Ich hab in meinen 18 Jahren hier auch schon einige schlechte Erfahrungen gemacht, aber das frustriert mich nicht. Es motiviert mich. Nur weil du die Seiten rasiert hast, wirst du als Assi eingestuft. Also fängt es eigentlich schon beim Haarschnitt an. Für sich selbst weiß man ja, dass man was ist und dass das nur Oberflächlichkeiten sind.

Das Thema Integration wird hier natürlich viel diskutiert. Wer definiert denn, was Integration überhaupt ist? Manche sagen, Integration ist, wenn jemand die deutsche Sprache etwas beherrscht, hier zurecht kommt und nicht kriminell wird. Andere sagen, man muss die Sprache perfekt beherrschen, extra einen Deutschkurs besuchen, versuchen deutsche Freunde zu haben und sich ehrenamtlich zu engagieren. Ich finde man muss sich verständigen können. Integration ist, wenn man hier zurechtkommt.

Aber man stellt sich natürlich die Frage: Muss ich Currywurst mit Pommes essen um integriert zu sein? Oder bin ich nicht integriert, wenn ich Freitag mit der ganzen Familie Couscous mit den Händen esse? Passt man sich komplett an oder behält man etwas von seiner Kultur bei? Da haben Leute die merkwürdigsten Vorstellungen.


Alle Fotos: Julian Henzler