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Wenn virtuelle Gewalt von rechts real wird

Eine Stiftung gegen Rechtsextremismus wird zur Zielscheibe von rechten Hetzern, die virtuellen Hass in die reale Welt tragen.

Screenshot: Twitter

"Terror geht ohne Hassbilder nicht. Die Bilder braucht einerseits der Täter, um sein Handeln zu rechtfertigen, und die Gesellschaft braucht sie, um begangene Straftaten irgendwie verstehbar zu machen. Und beides liegt hier vor." Mit "hier" meint der deutsche Historiker und Politikwissenschaftler Dr. Jander die Amadeu-Antonio-Stiftung—nein, um genau zu sein, meint er konkret Anetta Kahane. Sie ist die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Stiftung, die am Montag zu einem Pressegespräch geladen hatte. Neben den Mikrofonen der ARD und Deutschlandradio Kultur liegen Kekse, Laugenstangen und Croissants auf dem runden Tisch; auch Kaffee und Wasser gibt es. Die Mitarbeiter der Stiftung lächeln viel, obwohl es verständlich wäre, wenn sie es nicht täten. Vor wenigen Tagen wurde unter dem Slogan "Sie betreten den Überwachungsstaat" eine Aktion direkt gegen das Büro der Stiftung verübt. Die rechte "Identitäre Bewegung Berlin Brandenburg"—ein deutscher Ableger der auch in Österreich vertretenen Identitären—hatte Fotos von Plakaten und Flugblättern in Stasi-Optik an die Eingangstür des Stiftungsbüros geklebt und mit mehreren Metern Absperrband den Zutritt zum Gebäude versperrt.

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Die Amadeu-Antonio-Stiftung setzt sich schon seit Jahren für Ausländer, Flüchtlinge und gegen Rechtsextremismus ein; wie viele ähnliche NGOs war auch sie schon immer Ziel rechtsradikaler Bemühungen, doch mittlerweile haben die Angriffe auf die Mitarbeiter der Stiftung und insbesondere Anetta Kahane eine neue Dimension erreicht. Es bleibt nicht mehr bei Beschimpfungen in den sozialen Medien, zum Beispiel im großteils unkontrollierten russischen Netzwerk VK, wo etwa auf der Seite des rechtsverschwörerischen Compact-Magazins Kahane als "Transe" oder "Sau" beschimpft wird:

Screenshot: VK

Direkt an die Stiftung gesendete Hassbriefe und -Mails mehren sich und im Februar erfolgte eine DDoS-Attacke auf die Webseiten der Stiftung, deren Aufruf vom "Anonymous.Kollektiv" unterschrieben war.

Hier der Aufruf und die Anleitung zu den DDos-Attacken. Screenshot bereitgestellt von der Amadeu-Antonio-Stifung, die tatsächliche Seite wurde gelöscht.

Mittlerweile wurde auf rechten Facebook-Seiten ein Bild des Stiftungsteams mit einem Link zur Namensliste geteilt. Wenn man wisse, wo MitarbeiterInnen wohnen, "ergebe sich alles weitere von selbst". Grund für das bisher nicht dagewesene Ausmaß rechter Hetze ist die von Bundesjustizminister Heiko Maas getroffene Entscheidung, eine Task-Force zum Thema "Umgang mit rechtswidrigen Hassbotschaften im Internet" zu gründen, zu der auch die Stiftung gehört.

Die rechten Diffamierungsbemühungen gegenüber der Stiftung haben sich ganz besonders auf Anetta Kahane eingeschossen. Das Prinzip, nach dem hier verfahren wird, ist das anfangs beschriebene: Es wird ein Hassbild erzeugt, das einen Übergang zur konkreten Gewalt rechtfertigen soll. Im Falle von Kahane zielen die rechten Bemühungen auf die Konstruktion eines Hassbildes, das Kahane als eine jüdisch-kommunistische Volksverräterin zeigt, als einen früheren Ex-Stasi-Spitzel, der heute im Auftrag von Heiko Maas die Meinungsfreiheit und damit das Deutsche Volk als solches unterdrückt.

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Foto: http://incogman.net/2015/10/commie-jewish-left-des…

Foto: https://pbs.twimg.com/media/CggKozoUsAAUzKI.jpg

Screenshot von einem Twitter-Account mit dem Titel: Anetta Kahane Watch

Über den hier in aller Deutlichkeit auftretenden Antisemitismus und die widersinnige Frage, inwiefern der jüdische Hintergrund ein Argument gegen Kahane in ihrer Funktion als Vorstandsvorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung ist, muss hier nicht diskutiert werden—das Perfide erklärt sich von selbst.

Die Stasi-Vergangenheit dagegen lässt sich nicht so leicht abfertigen. Es ist richtig, dass Kahane 1974 im Alter von 19 Jahren als IM (Inoffizielle Mitarbeiterin "Victoria") in der damaligen DDR von der Stasi angeworben wurde. 1982 beendete sie allerdings aus eigener Initiative die Kooperation und ist seither darum bemüht, ihre Vergangenheit für sich selbst und die Öffentlichkeit aufzuklären. Eigens hierfür hat sie ein unabhängiges Gutachten bei Dr. Müller-Enbergs, einem langjährigem IM-Forscher, in Auftrag gegeben. Das komplette Gutachten kann hier nachgelesen werden.

Als Fazit gelangt Enbergs zu folgendem Schluss: "Anhaltspunkte dafür, dass Frau Kahane im Rahmen ihrer inoffiziellen Kooperation mit dem MfS in den Jahren 1974 bis 1982 Dritten Nachteile zugefügt hat, ergeben sich im Ergebnis des Aktenstudiums, anderer Überlieferungen und der umfänglichen Interviews nicht."

Doch die Frage, ob und in welchem Maße Anetta Kahane sich in ihrer Funktion als ehemalige IM schuldig gemacht hat, ist an dieser Stelle weit weniger entscheidend, als man meinen würde, denn diese Frage stellen ihre Gegner gar nicht erst. Es scheint für sie nicht wichtig zu sein, welche Stasi-Vergangenheit Kahane hat, wichtig ist, dass sie überhaupt eine hat. Das rechte Lager strebt gar keine Aufklärung an, denn im schlimmsten Falle könnte genau das bewiesen werden, was sich nach dem Gutachten von Dr. Müller-Enbergs abzeichnet: Ihre Harmlosigkeit als IM. Das bloße Faktum um eine Stasi-Vergangenheit genügt den Rechtsradikalen als Stigma, um mit Schlagworten wie "Stasi-Spitzel" oder "IM Viktoria" eine Vorabverurteilung und moralische Disqualifikation der gesamten Person Kahane zu bezwecken.

Zudem wird hier über die Diffamierung der Einzelperson Anetta Kahane gleich das gesamte Werk der Amadeu-Antonio-Stiftung und ihrer Mitarbeiter zu kompromittieren versucht. Und dieser Methode bedienen sich nicht nur einschlägig als rechtspopulistisch bekannte Medien wie die Epoch Times oder das Compact-Magazin, das fälschlicherweise behauptete, Kahane sei "von Heiko Maas engagiert und von der Bundeskanzlerin Merkel beauftragt worden, 100 Blockwarte anzuheuern, um unliebsame Kommentare und Beiträge auf Facebook zu zensieren" und deshalb eine Gegendarstellung veröffentlichen musste, nein, auch die AfD bedient sich der diffamierenden Rhetorik aus den rechten Lagern:

— Jürgen Riedel (@Hevellia64)25. März 2016

Diese Diffamierung zeigt allmählich ihre Wirkung. Natürlich könnte man die kläglich ausgeführte Aktion mit dem Klebeband vor den Türen der Stiftung als einen lächerlichen Aufschrei von ein paar rechten Spinnern betrachten und das Veröffentlichen von Namenslisten samt Wunsch, die entsprechenden Adressen der Stiftungsmitarbeiter zu erfahren, als einen Einschüchterungsversuch; vielleicht aber werden wir hier auch gerade Zeuge eines Moments, in dem sich der Übergang von bloßen Hassbild-Konstruktionen zu tatsächlichen, gewalttätigen und körperlichen Angriffen vollzieht, vielleicht spielt sich gerade das vor unseren Augen ab, wovon Dr. Jander eingangs sprach: Die erneute Geburt des rechten Terrors, die Legitimierung zur Straftat, weil Terror ohne Hassbilder nicht geht.

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