Heilige Völlerei als kulturelle Tradition. Carl Larsson: Weihnachtsabend (1904) (Wikimedia Commons)
Wir befinden uns mitten in den Feierlichkeiten und haben das erste und wahrscheinlich deftigste Mahl bereits hinter uns. Weihnachten. Eine Zeit der Besinnlichkeit, der Familie und der Traditionen—und somit auch das Ritual vom nicht enden wollenden Schlemmen aka. dem großen Fressen. Von herzhaften Gerichten zu Schokoladenweihnachtsmännern und all den fettigen Dingen, die man so in sich reinstopft, wenn man tagelang mit der Familie zusammenhockt.
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Ich selbst habe noch vor kurzem das absolute Gegenteil erlebt: 30 Tage habe ich nichts zu mir genommen außer einem Nahrungsmittelersatz-Cocktail. Seitdem freue ich mich besonders auf die besinnlichen Tage des Überfressens als physisch und konzeptionelles Kontrastprogramm zu Soylent.
Ein typisch-deutsches Weihnachtsmenus beinhaltet um die 3000 Kalorien und auch wenn es inzwischen unterschiedlichste Ausgestaltungen gibt, grundsätzlich verfällt das Land in eine Art Schockstarre sinnloser Völlerei. Während meines Soylent-Programms habe ich eine festgesetzte Anzahl an Kalorien zu mir genommen, keine Tiere kamen für meine Nahrung zu Schaden und der Genuss hat beim Verzehr von Nahrung eine deutlich untergeordnete Rolle gespielt.
Meine 30 Tage ohne Mahlzeit fühlten sich weniger wie ein Produkttest als wie ein Ausblick in einen dystopischen Zukunftsalltag an: geschmackloses, nährstoffreich-funktionales Essen, kaum soziale Aktivitäten, doppeltes Arbeitspensum und doppelt soviel Zeit im Haus und vor dem Computer. Von Feiertagen wünsche ich mir seitdem einen kulturellen Overkill: viele Menschen, lebendige Gespräche, duftendes Essen und feierliche Stimmung.
Diese Gedanken erinnerten mich stark an die klassische Szene aus dem Film Soylent Green, wo der Protagonist endlich vergnügt seine erste richtige, leckere Mahlzeit nach unzähligen nährstoffreichen Waffeln zu sich nimmt:
Eine Zukunft begrenzter Ressourcen ist nicht nur eine Prophezeiung aus Science Fiction-Filmen sondern auch eine fundierte Progrnose zahlreicher Wissenschaftler. 600-800 Millionen Menschen müssen heute schon jedes Jahr Hunger leiden. Während wir an den Feiertagen ausgiebige Mahlzeiten zu uns nehmen, ergeht es vielen Menschen ganz anders. Wir erleben eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, in den USA, genauso wie in Deutschland—und das kombiniert sich nicht sehr angenehm mit schrumpfenden Ernteerträgen durch den Klimawandel und eine wachsende Weltbevölkerung.
Wie in Soylent Green, und anderen dystopischen Klassikern, könnte es passieren, dass feierliche Mahlzeiten den Reichen vorbehalten bleiben. Ob es nun Soylent sein wird, oder nicht—welches dir all deine täglichen Nährstoffe für nur 8 Dollar liefert—oder anderes schnelles Essen, das nicht aussieht wie Essen: In der Zukunft besteht die Nahrung der Armen vielleicht aus wissenschaftlich verändertem Lebensmittelersatz.
Eigentlich wäre eine futuristische künstliche Nahrungsproduktion gar nicht nötig; wir verfügen bereits jetzt sowohl über die Mittel als auch über das Wissen, um genügend Nahrung für jeden herzustellen; dabei verschwenden reiche Nationen jedes Jahr viele Millionen Tonnen Nahrung. Um das Wohlergehen der globalen Bevölkerung zu sichern, bedarf es einer Neuorientierung innerhalb der Politik, eines Wandels der ökonomischen Grundhaltung und der Ansammlung genügender technologischer Innovationen im Ernährungssektor.
Völlerei ist schön. Georg Emanuel Opitz: Der Völler (1804) (Wikimedia Commons)
Die Soylent-Philosophie ist hier vielleicht schon auf dem richtigen Weg: Das Festtagsmahl ist womöglich das beste Symbol für ein archaisches und nicht mehr tragbares Ernährungsmodell. Egal wie sehr wir es lieben,–die allbekannte feiertägliche Völlerei im Kreise der Liebsten ist eine echte Belastung für die Umwelt: ob man nun mit dem Auto noch ins Restaurant fahren muss oder nicht—auf jeden Fall werden dafür Massen an Nahrungsmitteln transportiert, verarbeitet auch bis zum Weg auf unseren Teller verschwendet.
Natürlich ist das Festtagsmahl auch eine wundervolle soziale Tradition. Über mehrere Generationen hinweg versammelt sich eine Gruppe von Menschen – Kinder, Teenager, Erwachsene, Familie und Freunde – an einem Ort, um sich gemeinschaftlich die Bäuche vollzuschlagen. In meinem Fall reichten die Gespräche von uralten Familiengeschichten, über das Aufkommen von Kryptowährungen, bis hin zu typischen Problemen des Studentenlebens. Es gab feierliche Momente mit zum Anstoß erhobenen Gläsern, aber auch einige traurige und peinliche Augenblicke; es war ein zu tiefst menschliches Ritual und es ereignete sich inmitten von deftigen Schmatz- und Schluckgeräuschen.
Bild: Flickr
In einer idealen Welt könnte man beide Ideologien miteinander vereinen; weniger verschwenderische und effizientere Nahrungsmittel und das soziale Vergnügen von Ritualen und Traditionen. In der Vorstellung des Erfinders Rob Rhinehart, versucht Soylent genau das zu leisten. Weil Soylent so billig ist, wird es uns helfen, das Festagsmahl als beliebtes menschliches Ritual zu erhalten. Während der Woche werden die Leute einfach nur Soylent essen und so in der Lage sein, sich einen echten Braten leisten zu können, so lauten zumindest seine Überlegung.
Hoffentlich gelingt es uns aber, eine Zukunft zu erschaffen, in der das nicht nötig sein wird. Reformen im globalen Ernährungssektor, Reduzierung des Energieaufwandes bei der Essensproduktion, weniger Fleischkonsum im Allgemeinem, und eine ausgeglichenere Einkommensverteilung könnten dazu führen, dass dystopische Lösungen für das Ernährungsproblem überhaupt nicht erwogen werden müssen. Es sei denn, wir wollen es. Für diejenigen, die ein Surrogat konsumieren wollen, wird es Soylent auch weiterhin geben. Die Firma hat mit ihrem Produkt bereits 2,2 Millionen Euro verdient und die Konsumenten scheinen Soylent nicht einfach nur zu mögen, weil es billig ist, sie scheinen von dem Konzept fasziniert zu sein.
Die Zukunft unserer Essenskultur wird sich nicht zwischen Soylent oder dem Festtagsmahl entscheiden—sondern darin wie viel wir uns von den verschiedenen Ernährungskonzepten leisten können und wollen.