“Wir gegen den Westen”: Warum die neue Generation ostdeutscher Fans so hungrig ist

RB Leipzig ist der Vorzeigeverein in Ostdeutschland—was für viele Fans wie ein Affront klingen mag, ist sportliche Realität. Wenn am 3. Oktober die Bundesrepublik Deutschland zum 26. Mal den Tag der Deutschen Einheit feiert, spielt mit RB nur ein Verein aus dem Gebiet der ehemaligen DDR in der ersten Bundesliga. Die ehemaligen Topklubs der DDR-Oberliga haben sich entweder mit viel Kraft zurück in die zweite Liga geackert, kämpfen in der dritten Liga um ihre Existenz oder dümpeln in der Regionalliga Nordost und tiefer herum. Die unsichtbare Mauer durchzieht aber auch immer noch die Zuschauerränge, Ost-West-Klischees werden bis heute propagiert.

Marco Bertram kennt beide Fan-Realitäten in Ost und West. Der in Ostberlin geborene Autor und Fotograf zog nach der Wende nach Leverkusen und besuchte hunderte Spiele in der Region, ehe es ihn wieder in die Heimat zog. Seit 2009 bereist er für das Magazin turus.net bis zu 130 Spiele im Jahr und berichtet über das Geschehen in den Fankurven zwischen Rostock und Aue sowie Magdeburg und Cottbus. Die allgegenwärtigen Klischees über die Fans in den Stadien, die er Woche für Woche besucht, nerven ihn. VICE Sports sprach mit ihm über das besondere Gruppengefühl ostdeutscher Fans, “Wessi-Schweine”-Rufe und warum RB Leipzig eine bessere Stimmung als so mancher Traditionsverein hat.

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VICE Sports: I n Magdeburg oder Dresden hüpfen und singen die Fans lauthals auch auf der Haupttribüne. Gibt es einen Unterschied zwischen ostdeutschen und westdeutschen Fans?
Marco Bertram: Einerseits ist es dieser Hunger auf Erfolg. Die meisten Ostklubs vereint die jahrelange Versenkung in den unteren Ligen. In Magdeburg haben sie zum Beispiel 25 Jahre Amateurfußball gespielt. Der Zusammenhalt im Block U ist die eine Geschichte, aber auch das normale Publikum mit Kindern, Frauen oder auch Rentnern geht voll mit. Auch in Dresden geht ein Ruck durch die Stadt, wenn Dynamo nach so langer Zeit endlich wieder höherklassig spielt. Auf gut Deutsch gesagt: Die haben richtig Bock und gehen mit, weil alles etwas ganz Neues ist. Das macht die Fans im Osten teilweise fanatischer als die im Westen.

Und andererseits?
Durch die aktiven Fanszenen kam um die Jahrtausendwende langsam dieses Gruppengefühl auf und das sorgte für eine unglaubliche Geschlossenheit.
In den 90ern gab es zwar ab und zu mal mehr Zuschauer oder auch Krawalle, aber selbst in der Bundesliga gab es diese Geschlossenheit in Dresden oder Rostock damals noch nicht—auswärts fuhren lange nicht so viele Fans wie heute mit. Was ist der Unterschied zu den 90er-Jahren?
Dort liefen in den Innenstädten von Dresden oder Magdeburg die Leute mit Schals von irgendwelchen Bundesligisten herum. Jetzt sieht man Kinder in den Städten, die stolz ihre Schals eines Drittliga-Klubs tragen. Klar standen in den 90ern die Hauer oder ein paar andere Fans für ihre Städte gerade, aber das waren wenige. Mit den jungen Leuten, die oftmals gar nicht mehr in der DDR geboren wurden, hat das eine ganz neue Dimension erlangt. Die regionale Verwurzelung und die Besinnung auf die Tradition ist unglaublich.

Marco Bertram schrieb neben einer Fußballfibel über Hansa Rostock auch eine über den DDR-Rekordmeister BFC Dynamo. (Bild: privat)

Liegt es auch daran, dass sich trotz der Wende viele junge Leute in Ostdeutschland immer noch abgehängt fühlen und dies im Fußball zusammen anprangern können?
Ja, oftmals schwingt da dieses „Wir gegen alle” und das „Wir gegen den Westen” mit. Die denken sich: Wir wurden damals ausverkauft und vom Verband oder von irgendwelchen Investoren verarscht. Das steckt sehr tief in der ostdeutschen Mentalität drin. Auch wenn es die junge Generation nicht selbst miterlebt hat, wird das weitergegeben. In Magdeburg oder Dresden ist es eben schwerer, zahlungskräftige regionale Sponsoren zu finden, als in Ingolstadt oder Hoffenheim.

Ein anderer Werksverein mit viel Geld ist RB Leipzig. Deren Fans werden als Kunden beschimpft, doch auch dort ist die Stimmung bei Heimspielen besser als bei so manchem Traditionsverein . Liegt das auch am „Osten”?
Es war von Red Bull ein wirklich cleverer Schachzug, sich Leipzig auszusuchen. Die Stadt ist unglaublich interessiert und sportbegeistert—das war schon zu DDR-Zeiten so. Auch bei Lok und Chemie merkt man diese Leidenschaft. Und trotz aller Kritik für Red Bull ist in Leipzig über Jahrzehnte der Hunger nach Erfolg gewachsen: Der normale Leipziger freut sich auf Bundesligafußball. Ich glaube nicht mal, dass er sich groß identifiziert.

Wie meinst du das?
Der normale Zuschauer freut sich, dass er vor Ort so tollen Fußball schauen kann und der Klub für die eigene Stadt Werbung macht. Aber ich glaube, er wird das einfach als Leipzig ansehen, aber nicht sein Herz an Klub und Energy Drink verlieren. Dafür ist es zu künstlich erschaffen.

Für die aktive Fanszene von RB scheint der Klub eine wirkliche Herzenssache zu sein…
Sich da so richtig in die Kurve zu stellen und auswärts zu fahren, bereitet mir dann doch irgendwie Bauschmerzen. Es fällt mir ein bisschen schwerer, das nachzuvollziehen, wie man sich da so zum Eimer macht und Retortenkleidung kauft. Als normaler Fan ist das ja in Ordnung, aber in der Kurve ist das schon etwas anderes.

Du hast einige Jahre in NRW gelebt und dort ebenfalls viele Stadien besucht. Woher kommt das gängige Klischee von westdeutschen Fans, dass im Osten die Fanszenen rechts sind?
Das nervt mich persönlich. Vor allem in Rostock ist das beispielsweise schon länger nicht mehr so. Ein Großteil der aktiven Szene geht bei Hansa sogar in die andere Richtung, aber viele Leute haben noch die Rivalität mit den linken Fans vom FC St. Pauli im Kopf. Natürlich ist es bei Hansa martialisch und rau, aber es ist dort unpolitisch. Natürlich gibt es aber immer irgendwelche rechten Flügel und es wird oder wurde versucht, Fuß zu fassen in vielen Stadien. Oft reguliert sich das aber—bei Hansa wurden schon öfter Rechte aus dem Stadion rausgeprügelt oder auch bekannte Gesichter einiger Parteien haben auf der Süd schnell den Weg herausgefunden.

Foto: Imago

Im Spiel zwischen Magdeburg und Eintracht Frankfurt soll es neben dem Gästeblock zu antiziganistischen Parolen und auch rechten Provokationen gekommen sein…
Ich war da selbst nicht vor Ort. Es wird an der Nahtstelle dort sicherlich auch problematisch gewesen sein. Ein Großteil wird dort unpolitisch sein, aber natürlich kann es bei so einem Spiel zu verbalen Entgleisungen kommen. Da wird wohl auch die Anwesenheit von linken Chemie-Leipzig-Fans provoziert haben. Die Oldschool-Fraktion mit ein paar BFC- oder Braunschweig-Fans steht dann da und die hat in so Spielen Bock—wie sie es auch gegen Dresden oder Rostock haben. Und die wollen den Gegner aus der Reserve locken, um einen Blocksturm oder so zu provozieren. Dann ist denen jedes Mittel recht—gegen Frankfurt ist da sicherlich eine Grenze überschritten worden.

Du sprichst von „unpolitischen Fans”. Was meinst du damit?
Es gibt beispielsweise in Magdeburg die blau-weiße Einheitsfront und das zählt erst mal. Natürlich ist ein Fußballstadion ein Querschnitt der Gesellschaft und im Osten sind vielleicht Parteien wie die AfD oder die Linke etwas stärker vertreten, aber das ist Quatsch, das auf ganze Fanszene herunterzubrechen. Was die Leute zu Hause machen ist egal, solange sie es nicht im Stadion ausleben.

Viele Fanszene laden dich für Vorträge ein, aber reden fast nie mit Medien. Warum ist das so?
Es gibt zwei Probleme: Manchmal können die Medien es nicht anders wissen, weil Auseinandersetzungen oftmals sehr komplex sind und meistens beide Seiten nicht ganz unschuldig an ihnen sind. Andererseits gibt es Medien, die bewusst etwas zu ‚Krawallen’ oder ‚Randale’ hochschreiben oder Infos zurückhalten. Zudem fühlen sich die Fans oft falsch verstanden.

Inwiefern?
Ich glaube, weil alles immer sehr auf die Goldwaage gelegt wird. Das private und oft raue Vergnügen des Fußballs mischt sich schließlich mit der Öffentlichkeit. Wenn auf einer Auswärtsfahrt mal ein Spruch gegen den Dicken in der Gruppe oder gegen die einzige Dame im Bus fällt, wird alles immer gleich als sexistisch oder diskriminierend abgestempelt. Viele Fans sind jedoch gar nicht diskriminierend gegenüber Homosexuellen, Ausländern, Frauen oder dicken Menschen und sehen sich verschaukelt.

Im Osten wirft man den „Wessis” oft vor, sie würden die Vorurteile von Ost und West aufrechterhalten. Gegen Eintracht Frankfurt riefen aber die Magdeburger „Wessi-Schweine”. Ist das die vielzitierte Mauer in den Köpfen?
Im Liga-Alltag ist das ja schon lange nicht mehr der Fall. Die meisten Fans, die ich im Osten so treffe, respektieren genauso die Kölner, Dortmunder oder Nürnberger Fanszene und schwärmen vielleicht sogar davon. Beim DFB-Pokal oder solchen Highlight-Spielen, wenn man sich endlich mal mit den großen Fanszenen wie den Ultras Frankfurt messen kann, wird natürlich mit Klischees gespielt und es noch mal ausgepackt. Aber es gibt ja für Hansa oder den FCM auch „Sachsen-Schweine”, wenn sie gegen Dynamo spielen. Es ist also weniger Hass gegen den Westen, sondern eher eine Provokation und die Verbundenheit mit der eigenen Region.

Das Interview führte Benedikt Niessen, folgt ihm bei Twitter: @BeneNie