“Ich kann kein Russisch”, schallt es uns entgegen. Vor uns steht ein älterer Mann, als Security erkennbar macht ihn nur der Aufdruck seiner Jacke. Ein solcher Satz wäre normalerweise überflüssig – heute jedoch nicht. Denn Leningrad haben geladen, Russlands wohl bekannteste Band. Am Eingang des Berliner Tempodrom: Flyer in kyrillischen Buchstaben. Am Merchandise-Stand: Russen verkaufen T-Shirts – natürlich an Russen. Würden keine Euros über den Tisch wandern, man würde nicht erkennen, dass sich diese Szene mitten in Deutschland abspielt.
Der Magnet, der die Zuschauer in die Mitte Berlins zieht: Sergej Schnurow, 45, eine Ikone. Nur ein 1.70 Meter großer Kreml-Bewohner ist in Russland noch bekannter als er. Beliebter ist wohl Schnurow. Von Schlagerparaden im Staatsfernsehen bis zum oppositionellen Fernsehsender im Ausland: Schnurow ist überall. Er ist so etwas wie der Kultur-Papst Russlands.
Videos by VICE
VICE-Video: “Russische Oligarchen lassen es krachen”
In Berlin sitzt er in einem kleinen Raum vor der Behinderten-Toilette, unauffällig ist er nicht. Knalloranger Rollkragenpullover, überbreite Jogginghose, Kippe im Mund. “Ich bin nur der Direktor einer Zirkusband”, sagt er, “es geht bloß um den Wow-Effekt.” Dass er damit untertreibt, weiß er selbst. Über 100 Konzerte hat die 28-Personen-Crew dieses Jahr schon hinter sich, Wolgograd steht dabei ebenso auf der Liste wie New York, Sydney, Paris. Schnurow ist in jeder Stadt Superstar – auch wenn nur für den Teil der Bewohner, die eben Russisch spricht.
Die Verbindung zwischen ihm und den Zuschauern seiner Konzerte geht dabei zwanzig Jahre zurück. Kaum ein Musiker hat die Russen durch das Auf und Ab seit den 1990ern so begleitet wie er. Als Deutschland zur Wiedervereinigung die Korken knallen ließ, stand Russland vor dem Nichts. Die propagierte Weltanschauung, der Kommunismus, war kollabiert. Die Wirtschaft brach zusammen. Großstädte und Bodenschätze wurden wie Kuchen zwischen Oligarchen und Mafia-Gangs aufgeteilt. Wer konnte, verließ das Land. Wer nicht, träumte davon. Auf diesem durcheinander baute Schnurows Musik auf.
Er gründete “Leningrad”, eine Hommage an die so ungeliebte Sowjetunion: 1990 stimmte die Mehrheit der Stadt für eine Umbenennung in St. Petersburg – Schnurow krallte sich später die aussortierte Stadtbezeichnung für seine Band und füllte die Hülle mit eigenem Inhalt.
Dabei beschäftigt er sich kaum mit dem Hickhack zwischen einer kleinen und unterdrückten Opposition und dem übermächtigen Staatsapparat. Wenn doch, dann eher ironisch. Er erschafft lieber sein eigenes Land, ein überspitzt und überzeichnetes Russland, detailverliebt und derb zugleich. Wie auf einem Präsentierteller stellt Schnurow den russischen Zeitgeist heraus. Die Punchline ist dabei immer die gleiche: Es interessiert mich nicht. Lasst mich in Ruhe. Es wird sich nie etwas ändern. Eine ziemlich deprimierende Einstellung, doch viele Russen verstehen sie nur allzu gut.
“Wir können uns doch nicht immer nur gegenseitig auf die Fresse hauen!”
Dass er deswegen oft als Repräsentant der russischen Kultur, als Sprachrohr der Russen gesehen wird, ist Schnurow klar. Er hat damit kein Problem. “Ich wäre sehr gerne russischer Kulturbotschafter”, erklärt er und lacht. Es gibt da nur ein Problem: Politik interessiert ihn nicht – und zwar überhaupt nicht.
“Wo ist denn bitteschön Merkel? Wo ist Putin? Die sind irgendwo da oben. Aber wir sind hier unten.” Mehr Politik gibt es im Universum Schnurows nicht. Wenn er erzählen will, dann über das, was zwischen den Menschen passiert. “Wir können uns doch nicht immer nur gegenseitig auf die Fresse hauen!”
Schnurow widmet sich den abgebrochenen Charakteren, taucht kurz in ihre Wirklichkeit ein und gibt sie in seiner eigenen Mischung aus Song und Kurzfilm wieder. Da gibt es den Kleinstadtgangster, der die Tochter eines Dorfpolizisten dated, sich nachts mit dem Vater prügelt und ihr zum krönenden Ende die Handtasche ihrer Träume klaut. Eine plakative Erzählung voller Stereotype, könnte man meinen. Aber viele Russen sehen darin eine destillierte Form ihres eigenen Landes – so etwas wie ein hochprozentiges Russland, konsumierbar in einem Schluck. Dann geht der Alltag weiter.
Das Schnurow dabei so viel näher als andere Bands an der Unter- und Mittelschicht ist, liegt auch an seiner Sprache: Russki Mat – eine von Schimpfwörtern geprägte Sprache, die Schnurow fast zum Dialekt erhebt. Spätestens, seitdem das Fluchen 2014 für offene Veranstaltungen verboten wurde, ist Schnurow deswegen auch im ständigen Konflikt mit den Offiziellen. Mal ruft die orthodoxe Kirche zum Boykott, mal droht der Moskauer Bürgermeister mit harten Strafen. Schnurows Antwort: “Wenn in Russland etwas verboten ist, heißt es nicht, dass man es nicht machen darf. Es heißt nur, dass es etwas teurer wird.” Sich dagegen wehren? Sich gegen die Staatsmacht stellen? Ohne Schnurow – er macht einfach weiter. Sollen sich andere mit den Behörden streiten.
Dass sein Anarcho-Lifestyle so unpolitisch ist und er gar nichts an der Situation verändern will, wird in Russland von vielen Seiten komisch beäugt. Wirkt seine Musik zu kritisch, wenden sich Putin-Freunde und Konservative ab – und das sind nicht wenige. Wird es zu seicht und poppig, stempeln freiheitliche Kräfte ihn als staatstreuen Systemling ab. “Selbst wenn du Gedichte schreibst, alle werden es sofort als eine politische Message interpretieren,” erzählt er. Es sei kaum möglich, in Russland unpolitisch zu sein. Dafür sei die Gesellschaft zu stark geteilt, in politische Lager. Doch er selbst versucht sich davon abzusetzen. “Was sie mir erzählen, ist egal. Schau, wenn es regnet, dann regnet es. Scheißegal, ob sie mir Sonne versprochen haben.”
Dieses Anarcho-Gefühl ist es auch, das den Nerv des Berliner Publikums trifft. Sie alle scheinen sich von einer Last zu befreien, während sie zusammen mit Schnurow mit Schimpfwörtern um sich schmeißen: “Bljad”, “Chui”, “Pisdez”, oder “Suka”, was sonst absolut intolerabel wäre, ist hier OK – Schnurow ist da. In diesem Moment sind sie keine Halb-Deutschen und Halb-Russen, keine potentiellen AfD-Wähler, keine Putin-Versteher. In diesem Moment sind sie sie selbst – Schnurow ist so etwas wie ihr Katalysator.
Gerade ein Song, der diese Gefühl beschreibt, war es auch, der Leningrad in Deutschland bekannt machte. Schuld daran: ein russischer Exil-Autor und ein sehr junger Matthias Schweighöfer. Wladimir Kaminer veröffentlichte 2000 sein Buch Russendisko, gleichzeitig startete er eine Party-Serie und einen Sampler. Später kam ein Film dazu – mit Schweighöfer in der Hauptrolle. Die Musik dort: alles, was der Osten zu bieten hat. Schnurow war damals mit Leningrad Stammgast auf den Plattentellern. Heute sähe das wohl anders aus.
“Leningrad ist vorgestern”, sagt Kaminer auf meine Anfrage. Ja, beinahe jedem Russen imponiere seine Haltung, dieses “Fick dich in der Tasche”, wie ein russisches Sprichwort sagt. “Alles schön und gut, aber als Schriftsteller frage ich mich, wo ist das Happyend?” Für Kaminer scheint es, als sei die Zeit um Schnurow stehengeblieben. Jemand, der durch das Leben geht, ohne daran wirklich Anteil zu haben.
Tatsächlich wirkt sein Schaffen oft zeitlos, als hätte sich Russland in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Was nicht heißen soll, er habe sich nicht verändert. Ausstellungen, Fernsehshows, Werbespots – Schnurow ist schon lange kein Musiker mehr, sondern eine Sehnsuchtsfigur der Russen: Derjenige, der sich von dem ganzen politischen und gesellschaftlichen Schlamassel befreit hat und zwanglos von Pseudo-Normen und Propaganda-Einflüssen sein ganz eigenes Leben lebt. Dass er sich diese Freiheit auch mit seiner unbeteiligten Art erkauft – geschenkt. Schnurow ist so etwas, wie der russische Traum.