Depression & kleine Bühnen – Wir waren eine Nacht mit einem ehemaligen Indie-Star unterwegs

Indie-Star Bill Ryder-Jones beim Konzert in München und im Interview über Sex und den Brexit

Bill Ryder-Jones steht auf, nimmt mein Diktiergerät und geht zum WC. Vor der Schüssel setzt er sich, zündet sich die Zigarette an, und erzählt, wie er die Klanglandschaften seines neuen Albums Yawn gestaltet hat.

Wir sind backstage im stillgelegten Muffatwerk in München. Bevor Jones unseren Interviewschauplatz spontan auf die Toilette verlegt, sitzt er auf einer zerschlissenen Couch, Locken quellen aus der Kapuze seines blauen Hoodies, während er sich die Zigarette dreht. “Du musst eine Farbpalette haben”, erklärt er mir murmelnd seine Arbeitsweise. “Wenn du ein Maler bist und das Meer malen willst, benutzt du nicht viel Violett oder verdammtes fluoreszierendes Orange . Aber manche Leute sind so innovativ, dass sie Violett und fluoreszierendes Orange in einer Seelandschaft verwenden können.”

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Bill Ryder-Jones im Interview über Indie, sexuelle Lustlosigkeit und Brexit_2
Benjamin Stolz

Aufstieg und Abgrund

Eine halbe Stunde später steht Bill alleine auf der Bühne des Ampere in München. Die orangefarbene Barbeleuchtung erlischt, eine überschaubare Gruppe Zuhörer wartet auf Musik. Vor ihnen steht ein Mann, der Understatement ausstrahlt. Als er unauffällig wie ein Bühnentechniker seine schwarze Fender Jaguar stimmt, könnte man die künstlerische Laufbahn des 35-jährigen Musikers fast für einen Scherz halten.

Als Teenager war Bill Ryder-Jones Gitarrist bei den Indie-Legenden The Coral. Nach fünf Alben stieg er aus, arbeitete mit Alex Turner und den Arctic Monkeys, komponierte einen orchestralen Soundtrack zu Italo Calvinos Literaturklassiker “Wenn ein Reisender in einer Winternacht” und produzierte Bands, die bei BBC 6 regelmäßig auf Empfehlungslisten erscheinen.

Nun steht der ehemalige Indie-Held hier, solo, vor einer Handvoll Menschen in München. Er schlägt den ersten Akkord an, stoppt, entschuldigt sich, und zieht sein Handy aus der Tasche – eine Erinnerungsnachricht. Seine Tabletten habe er vergessen. Die Leute lachen, für Bill ist es ernst.

Was zwischen den Zeilen einer Bilderbuch-Karriere hängt, ist Verlust und Krankheit.

“Leute kommen zu mir und reden mit mir. Sie kennen mich ein bisschen und meinen, dass sie mir Dinge erzählen können, die man bei einem ersten Treffen eigentlich nicht erzählen würde. Das kann sehr eigenartig sein”, erklärt mir Bill. In seinen Songs geht es meist um ihn selbst. Der Track “Daniel” auf einem früheren Album erzählt zum Beispiel vom tragischen Tod seines Bruders. Ryder-Jones verarbeitet intime Details seines Lebens und fordert die Identifikation mit seiner Person heraus. Seine Fans reagieren darauf und wollen ihre Erfahrungen mit einem Menschen teilen, der offen über sein Schicksal spricht. Auch wenn das für ihn unangenehm werden kann, ist dieser Effekt Teil seiner Kunst: “Das ist es, was Musik tun muss.”

Das Album Yawn geht diesen Weg subtiler als sein Vorgänger West Kirby County Primary. Geschichten und Monologe werden zwar verschleiert, fußen aber fast immer auf wahren Begebenheiten. “Jahrelang ging ich nicht offen mit meiner Sexualität, meiner Drogenvergangenheit und meinen psychischen Krankheiten um. Schließlich habe ich mich geöffnet, und es hat sich besser angefühlt”, sagt Bill und bläst Zigarettenrauch gegen die weißen Badfliesen.

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Foto: Benjamin Stolz

Machismo und fehlender Sexualtrieb

Auf der Bühne stimmt er “There’s Something on Your Mind” an, einen Song über sexuelle Lustlosigkeit – verursacht, durch die Tabletten, die er gerade zu schlucken vergessen hat, wie er den Zuhörerinnen und Zuhörern erklärt. In der Studioversion klingt der Track tatsächlich wie ein vertontes Gemälde mit unerwarteten Farben, das mit einem Synth über Gitarren-Geschrammel erst als Ganzes Sinn ergibt.

In Zeiten von toxischer Maskulinität und übersteigertem Machismo ist es subversiv provokant, wenn ein Mann über seinen zeitweise fehlenden Sexualtrieb singt. Bill will sich trotzdem nicht als Gegenpol zu gesellschaftlichen Trends sehen. Toxisch ist Maskulinität für ihn dann, wenn man aus Angst vor Schwäche über gewisse Dinge einfach nicht spricht. Außerdem hätten weiße Mittelklasse-Männer die Pflicht zu erkennen, dass sie es in der Welt leichter haben. Maskulinität sei schon in Ordnung, “solange man eine anständige Person ist.”

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Foto: Benjamin Stolz

Indie ist am Leben und es geht ihm ziemlich gut

Während des Gigs entschuldigt Bill seine Band scherzhaft wegen des Brexits. Was wieder für einen Lacher sorgt, bereitet Musikerinnen und Musikern aus Großbritannien künftig Schwierigkeiten. Backstage wirft Bill seine Zigarette ins Klo. “Diese alten Trottel in meinem Land, die in 20 Jahren tot sind, haben alles vermasselt. Der Brexit wird meine Karriere um einiges schwieriger machen, falls wir gehen.” Bill glaubt nicht, dass Großbritannien die EU verlassen wird.

Zu Hause in England besitzt er ein Studio, das den Namen seines aktuellen Albums trägt – Yawn. Seine beiden vorherigen Soloalben hat er im Haus seiner Mutter aufgenommen. Mittlerweile ist Bill Ryder-Jones auch ein gefragter Produzent. Herausragende Bands wie Hooton Tennis Club oder Our Girl nehmen bei ihm auf. Begonnen hat seine Produzenten-Karriere aber mit dem Aushelfen für einen Freund. Heute ist es das, was ihm am meisten Spaß macht. Die Musik aus seinem Studio hat DIY-Vibes, etwas, das es im sogenannten Alternative-Bereich so gut wie nicht mehr gibt.

Diese Vibes sind es, die früher Indie-Bands charakterisiert haben, eine musikalische Spezies, die Musikjournalistinnen und -journalisten regelmäßig für tot erklären. “Ist Indie eigentlich nicht längst tot?”, frage ich den Gitarristen einer der bekanntesten Bands der späten UK-Indie-Welle in den 2000ern. “Sagen Leute, dass Indie tot ist?” Bill wirkt etwas mokiert. “Ich weiß nicht mal, was das bedeuten soll.” “Wie würdest du Indie definieren?”, hake ich nach. “Solange es Independent-Labels gibt, ist Indie nicht tot. Ich bin auf einem Independent-Label, die Arctic Monkeys auch. Ich würde sagen, Indie ist am Leben und es geht ihm ziemlich gut”, belehrt er mich mit einem trockenen Lachen.

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Foto: Benjamin Stolz

Der Dichter, der keiner sein will

Der Support-Gig im Ampere neigt sich dem Ende zu. Mittlerweile stehen die Leute in einem Halbkreis vor der Bühne. Es herrscht die Atmosphäre einer Dichterlesung, und das, obwohl sich Bill Ryder-Jones nicht als Poet sehen will. “Meistens versuche ich, nur Dinge zu sagen, die die Melodien nicht ruinieren.” Diese Behauptung nehme ich ihm nicht ab. Zu ausgefeilt sind seine Wortspielereien, die sich perfekt in seine Riffs fügen.

Den letzten Song widmet er mir, da ich laut ihm als einziger seine anderen Alben kenne. “Seabirds” heißt die Nummer, die zugleich beklemmend und berührend wirkt. Neben mir am Boden sitzt Gruff Rhys, Britpop-Star und Hauptact des Abends. Er hält sich mit einer Hand die Augen zu und lauscht Bills Stimme. “Alle Menschen sind ein Produkt aus ihren Erfahrungen”, hat mir Bill vorhin im Gespräch erzählt. Das faszinierende an seiner Musik ist nicht die Poetisierung eines Schicksals, es ist die Schönheit, die sich offenbaren kann, wenn sich jemand traut, sich zu öffnen und, nach dem Motto seines Albums, zu gähnen – ohne Hände vor dem Mund.

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