Wir haben mit einem impfkritischen Arzt gesprochen, der nur ein bisschen wahnsinnig ist

Nicht Dr. Reinhard Mitter. Foto: The Library Congress | Flickr | Kein bekanntes Urheberrecht

Impfkritische Eltern sind zwar immer noch eine kleine Minderheit, dennoch scheint es aktuell schwer im Trend zu liegen, seine Kinder nur widerwillig oder gar nicht impfen zu lassen. In Kalifornien, einer Hochburg der Impfverweigerer, wurde deswegen am 30. Juni 2015 ein striktes Impfgesetz verabschiedet, das ab Juli 2016 in Kraft treten wird. Ab diesen Zeitpunkt müssen Kinder vor dem Schuleintritt gegen Keuchhusten, Masern und andere Krankheiten geimpft sein. Ist das aus religiösen oder persönlichen Gründen der Eltern nicht der Fall, ist ein Schulbesuch nicht möglich.

Derartige Entwicklungen gießen natürlich Öl ins Feuer all jener, die ohnehin hinter dem Thema eine weltumspannende Verschwörung von Big-Pharma wittern. Passend zu der an sich schon ziemlich seltsamen Diskussion ist der prominenteste Impfkritiker-Vertreter der Comedy-Schauspieler Jim Carrey. In seinen jüngsten Tweets (die mittlerweile als Schwachsinn entlarvt wurden) schimpft Carrey über den in Impfstoffen vorhandenen Stoff Thiomersal und die kalifornische Impfpflicht, die er kurzerhand als „faschistisch” bezeichnet.

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Aber auch unter der Ärzteschaft ist ein Bruch zu beobachten, der in hochemotionalen TV-Diskussionen immer wieder zum Ausdruck kommt. Es scheint, als gäbe es bei diesem Thema nur zwei sehr konträre und unvereinbare Ideologien.

Ich habe mich gefragt, ob es nicht auch so etwas Mittelweg geben kann—mit einer gesunden Portion Skepsis und einer nur geringfügigen Portion Wahnsinn—und bin bei meinen Recherchen auf Dr. Reinhard Mitter, einem Kinderarzt aus Wien, gestoßen. Dr. Mitter bezeichnet sich selbst als „Impfkritiker” und behandelt in seiner Praxis mit Homöopathie. Er sieht das Thema aber etwas differenzierter, als der „Schulmedizin ist böse”-Mob und hat das Vertrauen in wissenschaftliche Studien nicht aufgegeben. Soweit ich es beurteilen kann, gibt er sich auch nicht einfach nur abstrusen Verschwörungstheorien hin.

Ganz ohne Widersprüche lief das Gespräch trotzdem nicht ab—denn wenn jemand Krankheiten an sich als etwas Positives sieht und Impfungen bei Kindern kritisiert, obwohl er gleichzeitig Herdenimmunität für etwas Gutes hält, verdient das zumindest genauso viel Skepsis wie Impfkritiker umgekehrt der Pharmaindustrie entgegenbringen. Dennoch ist Dr. Mitter sicherlich alles andere als ein Hardliner—was uns an sich schon zu denken geben sollte.

MOTHERBOARD: Kalifornien ist kurz davor, ein Schulverbot für Impfgegner-Kinder einzuführen

VICE: Würden Sie sich selbst als impfkritisch bezeichnen?
Reinhard Mitter: Ja. Wobei ich mich eher als Gesundheitsapostel definieren würde. Ich finde eine bewusste Gesundheitsvorsorge wichtiger als sich—wie in der Schulmedizin—auf das Bekämpfen von Krankheiten durch Impfen oder Antibiotika zu fokussieren.

Meiner Ansicht nach sollte man sich auf das Stärken der Abwehrkräfte fokussieren, denn Krankheiten selbst sind nicht gefährlich, eher die Komplikationen, die bei einem geschwächten Immunsystem auftreten können.

Beim Impfen geht es ja eigentlich auch nur um das Vermeiden von Komplikationen und nicht um die Krankheiten selbst. Wenn man ausreichend gestärkt ist, lösen Krankheiten in der Regel auch keine Komplikationen aus.

Also Impfen ist Ihrer Meinung nach dann sinnvoll, wenn die Gesundheitsstandards nicht so hoch sind?
In Entwicklungsländern ist der positive Effekt durch Impfungen natürlich viel höher als in unseren Breiten, wo die Menschen de facto eh gesund sind.

Geht es nicht eher um die Herdenimmunität und nicht so sehr um den individuellen Schutz?
Die Herdenimmunität wird durch einen Verzicht auf Impfungen natürlich durchlöchert. Wobei ich der Grundhypothese dahinter nicht ganz zustimmen kann: Ich verstehe den Sinn der Herdenimmunität, aber die Frage ist, ob es langfristig wirklich sinnvoll ist, Krankheiten ausrotten zu wollen. Diese Frage sollte ganz ohne Ideologie gestellt werden.

Weil?
Weil alle Krankheiten prinzipiell sinnvoll sind. Es geht wie gesagt beim Impfen darum, dass man Schäden, die als Nebenerscheinung von Krankheiten auftreten, vermeidet. Das ist ein geringes, aber vorhandes Risiko. Und beim Impfen soll dieses Restrisiko auch beseitigt werden.

Bei Masern ist ein Ausbruch meines Wissens echt gefährlich—vor allem wenn man schon älter ist.
Eben, genau das ist ein Argument, dass man nicht impft. Als Kind Masern zu bekommen, ist wesentlich sicherer und sinnvoller, als sie später zu bekommen. Man müsste die Impfungen aller Menschen ab einem Alter von 40 Jahren auffrischen. Es kommt aber keiner auf die Idee das zu tun.

Und eigentlich würde eine Impfung bei älteren Menschen sogar mehr Sinn machen als bei Kindern, weil zum Beispiel Masern und Feuchtblattern weitaus heftiger und gefährlicher sind.

Kinderkrankheiten heißen ja Kinderkrankheiten weil sie das viel besser verdauen als Erwachsene. Kinder sollten die Krankheiten meiner Ansicht nach kriegen, um später wirklich immun zu sein. Wir wissen zum Beispiel, dass nach einer Zweifach-Masern-Mumps-Impfung die Kinder trotzdem an etwas schwächeren Varianten der Krankheiten erkranken können und die Menschen dann nicht so stark immunisiert sind.

Der Nestschutz beim Baby von einer geimpften Frau ist zudem auch nicht so gut wie bei einer Frau, die die Krankheiten hatte.

In Kalifornien ist seit kurzem eine strikte Impfpflicht in Kraft. Was halten sie davon?
Eine Impfpflicht würde den Grundgesetzen in Österreich widersprechen, weil ich als Arzt hier eine durch den Staat verordnete Körperverletzung an einem Kind vornehme. Eine Impfpflicht macht beispielsweise bei einer Ebola-Epidemie in Afrika Sinn, aber ansonsten nicht.

Wie erklären Sie sich den Rückgang der Kindersterblichkeit durch die Einführung von Impfungen?
Das muss man sich genau ansehen. Die Sterblichkeit ist zeitgleich mit Beginn von Flächendeckender Impfungen sicherlich niedriger geworden. Das heißt aber nicht, dass es nur mit dem Impfen zusammenhängt.

Es stellt sich die Frage, wie es wäre, wenn wir statt dem Impfen die Kinder im Krankheitsfall optimal versorgen würden. Es könnte sein, dass die Kindersterblichkeit genau so zurückgegangen wäre.

Krankheiten ausbrechen und wüten zu lassen, widerspricht dem, was in der Schulmedizin gelehrt und praktiziert wird.
Krankheiten sind unter anderem ein Indikator dafür, dass wir überlastet sind und auf uns aufpassen sollen. In unserer stressigen Gesellschaft ist dafür aber keine Zeit mehr.

Die Schulmedizin arbeitet gegen die Heilkräfte und ersetzt diese durch Antibiotika und fiebersenkende Medikamente. Bei vielen Menschen kann sich das Immunsystem durch ständige Medikamenteneinnahme gar nicht mehr richtig aufbauen, weshalb man auch öfter krank wird.

Wie würde es Ihrer Meinung nach besser gehen?
Na ja, anstatt Milliarden für Impfungen und Medikamente auszugeben, könnte man mit weniger Geld versuchen, die Gesundheitsvorsorge zu stärken. Wir haben aktuell ein Krankheitssystem, das auf das Behandeln von Krankheiten spezialisiert ist. In China ist das System genau das Gegenteil, hier liegt der Fokus auf Gesundheit und nicht auf den Krankheiten. Der Arzt ist der dort eher ein Gesundheitsberater, aber dafür fehlt natürlich auch oft die Zeit.

Haben Sie Ihre eigenen Kinder impfen lassen?
Meine ersten beiden Kinder sind geimpft, mein jüngstes Kind nicht. Je nachdem, wo ich gerade gestanden bin.

Also waren Sie früher weniger kritisch als heute?
Ja natürlich. Ich habe mir früher als Arzt keine Gedanken darüber gemacht.

Im Internet wird vor allem Aluminium in Impfstoffen kritisiert oder es kursiert das Gerücht, dass dadurch Autismus ausgelöst werden kann.
Alle diese Dinge stehen in den Beipackzetteln von Impfstoffen. Von den meisten Ärzten und Ärztinnen wird das aber unhinterfragt akzeptiert, vor allem auch, weil es einen gewissen Meinungsdruck gibt. Ich kann nur sagen, dass es Nebenwirkungen gibt, mitunter auch massive.

Das mit dem Autismus müsste untersucht werden. Spekulationen ohne wissenschaftlichen Background halte ich für unseriös. Das müsste man untersuchen. Derartige Behauptungen kann man nicht einfach aufstellen. Außerdem dürfte es sehr schwierig sein, etwas derartiges nachzuweisen, weil viele Faktoren eine Rolle spielen.

Haben Sie Impf-Nebenwirkungen in ihrer Praxis selbst schon gesehen?
Ja, zwar selten, aber es kommt vor. Zum Beispiel Veränderungen im Wesen von Säuglingen, Hautveränderungen, Ausschläge oder Schreiphasen. Zum Glück ist es meist nach kurzer Zeit wieder vorbei, aber immerhin.

Kann man diese Dinge wirklich hundertprozentig auf Impfungen zurückführen?
Hautausschläge oder Schreiphasen treten unmittelbar nach der Impfung auf. Also zumindest diese Dinge ja.

Die Komplikationen, die durch Impfungen auftreten, sind meines Wissens aber weniger schlimm als jene, die durch Krankheiten ausgelöst werden.
Das ist sicher ein Argument für Impfungen. Statistisch sieht es sicher so aus. Aber gleichzeitig fehlt dabei, welche Grundvoraussetzung die Kinder haben. Sind die Kinder gut ernährt? Haben sie andere Krankheiten? Ist das Immunsystem generell schwächer? Das alles wird bei Massen-Impfungen ausgeblendet.

Impfungen machen für dich also mehr Sinn, wenn die Gesundheitsversorgung nicht ideal ist?
Genau. Aus unserer Sicht müssen wir uns überlegen, ob es langfristig sinnvoll ist, Krankheiten ausradieren zu wollen.

Ihre Kritik bezieht sich also nicht nur auf Impfen sondern auch auf die Schulmedizin.
Ja, die Schulmedizin besitzt Hightech-Instrumente und ist auf kurzfristige Heilung spezialisiert. Individualität und langfristige Gesundheit ist nicht wirklich relevant.

Wenn Eltern zu Ihnen kommen, informiert werden und alle Impfungen machen wollen, machen Sie das dann?
Ja genau, mache ich. Ich habe erst vor kurzem ein Kind durchgeimpft, obwohl ich die Eltern über die Risiken kritisch aufgeklärt habe.

Raphael auf Twitter: @raphschoen