“Babe, kannst du etwas ~Stuff besorgen?”, fragt eine Freundin in unserem Gruppenchat, den wir “Raveteam” getauft haben. Ich scrolle durch meinen Nachrichtenverlauf mit den ganzen Dealern. Viel zu viele Optionen. Ich wähle KetaBro und lese mir noch einmal sein Menü durch. Eigentlich weiß ich schon längst, was ich will. “Hey, kann ich 2k und 1c haben?” Ein paar Stunden später sitze ich mit meinen Raveteam-Freundinnen am Küchentisch und überlege, wo es heute hingeht. Bevor wir das Haus verlassen, habe ich schon die erste Line gezogen.
So sah ein typischer Freitag für mich aus. Jahrelang. Am Wochenende Drogen zu nehmen, war für mich normal. Die Leute um mich herum machten es ja genauso, und nicht gerade wenig. Aber es war nur am Wochenende. Ich fragte mich also nie, ob ich süchtig bin.
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Ich fühlte mich unter der Woche immer häufiger ausgelaugt und fertig, aber mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Comedowns. Das ging lange so, bis ich mir eines Tages mal anschaute, was ich jedes Wochenende wegzog, und mich fragte: Machen wir uns nur was vor, wenn wir uns sagen, dass jedes Wochenende ballern kein Problem ist? Wo ist die Grenze zwischen Freizeitspaß und Drogenproblem?
“Das ist eine schwierige Frage”, sagt die Präventionsexpertin Eva Kalis und seufzt. Kalis arbeitet für Jellinek, die in den Niederlanden mehrere Einrichtungen zur Suchtbehandlung betreiben. “Ich kann dir direkt sagen, dass es darauf keine konkrete Antwort gibt.”
Drogenkonsum lasse sich in verschiedene Phasen einteilen. Am Anfang ist der erste Kontakt: “Zum Beispiel, wenn du zum ersten Mal den Geruch von Gras wahrnimmst oder jemanden auf einer Party siehst, der total drüber ist”, sagt Kalis. Die zweite Stufe ist dann, wenn du die Droge ein-zweimal ausprobierst.
“Wenn deine Erfahrung damit gut ist, gehst du vielleicht in den Freizeitkonsum über und konsumierst die Droge kontrolliert in Gesellschaft”, sagt sie. “Freizeitkonsum bedeutet, dass sich der Konsum nicht auf deinen Alltag auswirkt. Du hast die Kontrolle.” Darunter fallen laut Kalis zum Beispiel Menschen, die hin und wieder auf Festivals Ecstasy nehmen. “Aber wenn du fast jedes Wochenende Drogen nimmst, lässt sich das nur noch schwer als Freizeitkonsum bezeichnen. Dann sprechen wir von Gewohnheitskonsum.”
Laut Kalis ist auch der Gewohnheitskonsum nicht per se problematisch. Aber es gebe ein paar Anzeichen dafür, dass sich die Gewohnheit langsam zu einer Sucht entwickelt. “Einfach gesagt: Jemand, der nur an Wochenenden Drogen nimmt und sonst keinerlei Probleme hat, fällt nicht direkt in die schwerste Kategorie der Abhängigkeit”, sagt sie. “Aber kannst du immer noch auf einer Party Spaß haben, ohne eine Line zu ziehen oder eine Pille zu schlucken? Je öfter du konsumierst, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass du eine Toleranz aufbaust. Du musst dann mehr nehmen, um dieselbe Wirkung zu erlangen.”
Wenn du deinen Konsum aber im Anschluss bereust, weil du dir eigentlich vorgenommen hattest, nichts zu nehmen, oder körperliche Entzugserscheinungen spürst, ist das ein Anzeichen dafür, dass deine Gewohnheit vielleicht außer Kontrolle gerät. Wenn du bereits unter der Woche an die erste Line am Freitagabend denkst, könnte das für eine psychische Abhängigkeit sprechen. Falls du Drogen konsumierst, um deine Gefühle zu unterdrücken, oder sie brauchst, um dich besser zu fühlen, befindest du dich wahrscheinlich schon in der problematischen Phase. “Das sind alles Signale, die du sehr ernst nehmen solltest”, sagt Kalis.
Mir wurde klar, dass ich etwas ändern muss.
Aber was ist, wenn du nicht findest, dass Drogen deinen Alltag beeinflussen, du andererseits aber schon deine Comedowns in deinen Alltag einplanst, wie ich das tat? Für mich war es normal, Verabredungen abzusagen, kaum aus dem Bett zu kommen und bei der Arbeit unkonzentriert zu sein. Mir war klar, dass das vom Konsum kam, aber es war halt so. Ich hatte mein Leben noch im Griff, wenn man das so nennen will. Von außen betrachtet schien alles OK zu sein. Rückblickend hatte ich eindeutig irgendwann die Schwelle zur problematischen Phase überschritten.
Jahrelang war alles ein großer Spaß gewesen. Als DJ in der Amsterdamer Clubszene hatte sich für mich eine ganz neue Welt aufgetan: Gästelistenplätze, kostenlose Getränke und viel Aufmerksamkeit. Mit 20 begann ich, wöchentlich Koks und Keta zu ziehen. Bei Partys sah ich im Backstage viele Menschen, die offen Drogen nahmen. So machte man sich halt lustige Abende noch lustiger.
Aber der Lockdown änderte alles. Jedes Wochenende hockte ich in demselben Wohnzimmer mit Menschen, die ich eigentlich nicht leiden konnte. Trotzdem kam ich immer wieder und war immer die Letzte, die ging. Nur, weil es da Drogen gab. “Ich will einfach verschwinden”: Die kleine Stimme in mir und der Drang, mich zu betäuben, wurden schließlich auch unter der Woche immer lauter. Mir wurde klar, dass ich etwas ändern muss.
Die Menschen um mich herum schienen kein Problem zu sehen. Aber nicht alle, die jede Woche Drogen nehmen, fallen in die Kategorie der “problematischen Konsumenten”, sagt Arne van den Bos, ein Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule Hanzehogeschool Groningen. Er beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Normalisierung von Drogen.
“Manche Menschen können besser mit dem Comedown umgehen als andere, weil sie es schaffen, die Emotionen von der Realität zu trennen und sie lediglich als chemische Reaktion wahrnehmen”, sagt van den Bos. Viele können das allerdings nicht. “Menschen mit einem hohen Neurotizismuswert, die also emotional instabiler sind, benutzen Drogen eher als Bewältigungsstrategie.” Weitere Gruppen, die anfälliger für einen problematischen Drogenkonsum sind, seine Menschen mit sozialen Ängsten, Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder schwacher Impulskontrolle.
Außerdem: “Die eigene Gruppe bestimmt, was akzeptabel ist und was zu weit geht”, sagt van den Bos. In meinen Kreisen war es zum Beispiel völlig normal, jedes Wochenende Koks, Speed oder Keta zu ziehen, aber bei G, also GHB, zogen wir die Grenze. “Hier wird dann zum Beispiel total ignoriert, dass jedes Wochenende gekokst wird”, sagt van den Bos.
Es ist heute viel leichter, an Drogen zu kommen, als noch vor zehn Jahren. Dealer posten auf Telegramm oder WhatsApp ihre Menüs und liefern einem die Drogen vor die Haustür. “Es ist außerdem sehr normal geworden. Für viele Leute ist es nicht mehr aufregend, sich mit einem Dealer zu treffen”, sagt van den Bos.
Tendenziell belügen wir uns selbst, wenn wir sagen, dass wir Drogen nur zum Spaß nehmen, sagt van den Bos
Dazu kommt die Enttabuisierung des Drogenkonsums in einigen Kreisen. “Vor zehn, zwanzig Jahren wurden Drogen nur von Nischengruppen wie der Clubszene konsumiert”, sagt van den Bos. “Jetzt beobachten wir das über verschiedene Gesellschaftsbereiche verteilt, zum Beispiel unter Studentinnen und Studenten.” Natürlich ist es gut, offen über Drogenkonsum zu sprechen, aber van den Bos merkt an, dass diese Offenheit durchaus begrenzt ist: Wir sprechen über Drogen nur in Kreisen, in denen das tendenziell akzeptabel oder sogar normal ist. Aber in Kreisen, in denen unser Verhalten stärker infrage gestellt werden könnte, tun wir das nicht.
Van den Bos sagt auch, dass wir uns tendenziell selbst belügen, wenn wir uns sagen, dass wir Drogen nur zum Spaß nehmen. Unterbewusst wüssten wir häufig, dass es sich um eine Bewältigungsstrategie handelt. “Wir rechtfertigen unser Verhalten gerne, weil das hilft, unser Selbstwertgefühl aufrechtzuhalten”, sagt er. “Aber in diesem Fall haben wir es mit einer kognitiven Dissonanz zu tun: Menschen sagen eine Sache, aber machen das Gegenteil.”
Die meisten experimentieren mit Drogen, wenn sie jung sind, und hören dann irgendwann von selbst wieder damit auf. Sie wachsen quasi aus der Phase raus. Das ist auch völlig normal. Aber es sei vor allem in jungen Jahren wichtig, sagt van den Bos, sich selbst in sozialen Situationen kennenzulernen, ohne Alkohol oder andere Drogen zur Hilfe zu nehmen. “Die Gefahr des Gewohnheitskonsums ist, dass du dich von dir selbst entfernst, weil du nicht mehr wirklich weißt, was von deinem Verhalten von dir kommt und was durch die chemischen Prozesse beeinflusst ist, die in deinem Körper vorgehen – auch noch Tage nach dem Konsum.”
Ich wusste tatsächlich nicht so richtig, wer ich ohne Alkohol oder andere Drogen überhaupt bin. Aber da arbeite ich jetzt dran. Seit fast einem Jahr befinde ich mich in einer Therapie bei Jellinek. Dabei ist mir klargeworden, dass ich Drogen genommen habe, um mit meinen Gedanken klarzukommen. Außerdem diagnostizierte man bei mir ADHS und Hochsensibilität. Das hat mir sehr die Augen geöffnet.
Wir legten einen Tag fest, nachdem ich mit den Drogen aufhören würde: den 30. Oktober 2022. In den Wochen vor der Deadline, konsumierte ich mehr denn je, weil ich wusste, dass es dann vorbei sein würde. Es war nicht leicht, aber seitdem habe ich keine Drogen mehr konsumiert, auch keinen Alkohol. Der Weg ist lang, aber momentan ist es für mich einfach das Beste. Die Girls vom Raveteam werden noch eine Weile ohne mich auskommen müssen.
Du hast ein Suchtproblem oder machst dir Sorgen um betroffene Freunde und Verwandte? Hilfe bei Drogenabhängigkeiten findest du in Deutschland über das Suchthilfeverzeichnis oder unter 01805 31 30 31. In der Schweiz bietet Safezone anonyme Online-Suchtberatung, lokale Suchtberatungsstellen findet man bei Infoset. In Österreich findest du Beratung über den Suchthilfekompass.
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