Ich habe mal Psychologie studiert. In einer Vorlesung hörte ich von Wachtherapie. Dabei machen Patienten mit Depressionen eine oder mehrere Nächte durch, um eine – meist kurzfristige – Verbesserung ihrer Symptome erzielen. Ich beschloss: Sollte ich einmal betroffen sein, werde ich das probieren. Das bringt mich zu diesem Artikel.Seit einigen Wochen fiel ich immer wieder in mehr oder weniger dunkle Stimmungslöcher. Sie hielten meist nicht lange an, ein paar Tage oder vielleicht mal eine Woche. Von einer richtigen Depression war ich bestimmt noch etwas entfernt. Aber so wie in dieser Phase kannte ich mich nicht. Etwas hatte sich verändert und ich wusste nicht, was. Es war Zeit, etwas zu tun und so fiel mir die Wachtherapie wieder ein.
Zur Vorbereitung für meinen Selbstversuch sprach ich mit Professor Christoph Nissen, Chefarzt an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern. Er setzt Wachtherapie in seiner Arbeit ein und ist Leiter einer Forschungsgruppe zum Thema Schlaf in der Psychiatrie.Nissen erklärte mir, es sei noch nicht vollständig geklärt, wie die Wachtherapie funktioniere, aber es gäbe Theorien, die mit der synaptischen Plastizität (der Art, wie sich Nervenzellen neu verknüpfen) und der Modulation des Tag- und Nachtrhythmus zu tun hätten. Personen mit Depressionen haben oft Probleme, ein- und durchzuschlafen, fühlen sich am Morgen dann besonders niedergeschlagen. Es gäbe Indikationen dafür, dass Schlaf in den Morgenstunden förderlich für Depressionen sei, ein Phänomen, dem mit Wachtherapie gegengesteuert werden könnte.Auch wenn die Wirkungsweise noch nicht ganz geklärt ist, scheinen die Ergebnisse für diese Therapieform zu sprechen: Etwa 60% der Patientinnen sollen auf Wachtherapie ansprechen und bereits während der Nacht Verbesserungen spüren. Betroffene seien wie ausgetauscht und berichten, dass sie "die Vögel wieder singen hören" oder "plötzlich alles weiß angestrichen ist, was vorher schwarz war". Das wollte ich auch.Professor Nissen warnte mich aber, dass die Wachtherapie kein Wundermittel sei und nicht bei allen Menschen gleich wirken würde. Sie sei nur für Menschen mit diagnostizierten Depressionen unter ärztlicher Aufsicht gedacht. Bei gesunden Menschen könne sie zu Müdigkeit, Konzentrationsverlust und Unruhe kommen – oder anderen unerwarteten Nebenwirkungen. Außerdem sei die Wachtherapie nur ein zusätzlicher Ansatz zu bestehenden Behandlungen – ein Ansatz, der versucht, schneller Besserung für Betroffene zu erzielen. Nach dem Schlafentzug könne es auch dazu kommen, dass sich Symptome wieder verschlechtern. In der Klinik stehen Patientinnen um 7 Uhr morgens auf, bleiben etwa 34 Stunden wach und gehen am nächsten Tag um 17 Uhr schlafen – allerdings nur bis Mitternacht. Langsam wird dann der Schlaf-Wach-Rhythmus auf eine normale Tageszeit eingestellt.Außerdem riet mir Nissen davon ab, schwere Depressionen selbst zu behandeln. Es wäre dringend geboten, eine Psychotherapeutin oder Psychiaterin anzusprechen. Daher hier auch eine Warnung: Dieses Experiment habe ich auf eigene Verantwortung durchgeführt, es ist nicht zum Nachahmen gedacht. Schon gar nicht im Alleingang ohne Bezugspersonen.
Die Wachtherapie ist kein Wundermittel
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Vor dem Versuch
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2 Uhr morgens (11 Stunden wach)
3 Uhr morgens (12 Stunden wach)
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In diesem Moment fühlt sich an meiner Heimat alles falsch an. Und trotzdem bin ich realistisch genug, um zu wissen, dass ein Umzug meine Probleme wahrscheinlich auch nicht lösen würde. Wenn ich nach ausreichender Vorbereitungszeit bereit wäre, ein neues Leben zu starten, wäre es vielleicht zu spät. Das Leben würde mir neue Hindernisse stellen. Es kommt mir gerade unglaublich schwer vor, mein eigenes Schicksal zu steuern.Vorhin hatte ich mich für einen kurzen Moment auf eine Dating-App begeben, um zu sehen, ob jemand wach war, den ich kannte. Ein Freund war vor Kurzem tatsächlich online, doch meine Nachricht, ob er auch nicht schlafen könne und Lust auf einen Nachtspaziergang hatte, erreichte ihn wohl zu spät. Dafür hat mir whiteboy geschrieben und "bb?" vorgeschlagen. bb steht, nebenbei bemerkt, für bareback, also Analsex ohne Kondom. Ich habe gepasst. Langsam wird es schwierig, wach zu bleiben. Um 4:20 zünde ich mir einen symbolischen Joint an, aber nur mit CBD-Gras. Sonst würde ich vielleicht paranoid werden oder müde, das Risiko will ich nicht eingehen.Irgendwann gegen halb 7 beschließe ich, doch alleine spazieren zu gehen. Es ist ein komisches Gefühl, früh am Morgen ohne Grund durch die Stadt zu streifen. Normalerweise habe ich ein Ziel, wenn ich unterwegs bin. Jetzt übe ich mich in Achtsamkeit (was auch immer das genau sein mag) und versuche, negative Gedanken abzustellen. Das gelingt mir am besten, wenn ich die wundersame Spezies der Frühaufsteher sehe. Was sie antreibt, am Morgen schon Dinge zu erledigen, konnte ich nie nachvollziehen. Aber irgendwie war ich auch immer ein bisschen neidisch auf die Disziplin, die sie zu haben scheinen. Viele wirken aber nicht sonderlich glücklich darüber, in Jogginganzug mit dem Hund spazieren zu gehen.Ich führe mich selber weiter Gassi und gehe im Uhrzeigersinn ein paar Runden um die buddhistische Stupa im Volksgarten – das soll angeblich Glück bringen. Näher komme ich an Religion und Spiritualität in meinem Alltag nicht ran. Am Kinderspielplatz schaukle ich für ein paar Minuten, beobachte Tauben und versuche, ein Foto von ihnen zu machen. Irgendwann bin ich so langsam und unaufregend, dass sie mich in ihrem Rudel akzeptieren. Danach gehe ich zu einem Wochenmarkt, rede mit einer Verkäuferin und kaufe mir drei Sonnenblumen. Völlig grundlos, einfach weil ich sie mag. Ich bin begeistert, wie leicht mir der Tag bisher vorkommt und bin stolz auf mich, dass ich einfach so und nur für mich etwas gemacht habe. Und wenn es nur ein kurzer Spaziergang ist.
4 Uhr morgens (13 Stunden wach)
6 Uhr morgens (15 Stunden wach)
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9 Uhr morgens (18 Stunden wach)
14 Uhr nachmittags (23 Stunden wach)
17 Uhr nachmittags (26 Stunden wach)
20 Uhr abends (29 Stunden wach)
Mitternacht (33 Stunden wach)
Fazit
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