Menschen

Wie ich mal mit meinem todkranken Vater Currywurst essen war

Illustration: Die Autorin isst mit ihrem schwerkranken Vater eine Currywurst

Mein Vater hat auf Zimmer 69 der Aidsstation gelegen und gesagt, na wenigstens das. Von seinem Bett aus konnte er ein Stück vom Himmel sehen, was mich seltsam beruhigt hat.

Im Bett neben ihm schlief ein Mann namens Awolowo, der im Koma lag, und ich weiß nicht mal, ob man dann überhaupt schlafen sagen darf. Es war bestimmt nicht schön für meinen Vater, Herrn Awolowo beim Sterben zuzusehen. Und auch deshalb brauchte er das Gras.

Videos by VICE

Das Gras hatte ich bei Römer gekauft, er behauptete, zu einem guten Kurs, doch jeder Dealer behauptet das. Römer versorgte in der Zeit unsere ganze Oberstufe und hatte deshalb einen tiefergelegten BMW mit Lachgaseinspritzung bar bezahlt. Da hatte er noch nicht mal einen Führerschein. Als ich bei ihm kaufte, war er kurz irritiert und sagte:

– “Marlene, du rauchst doch nie mit, wofür brauchst du das Dope?”

Und ich habe gelacht und etwas gemurmelt, das natürlich eine Lüge war.

Die Einzigen, die von meinem Vater wussten, waren Oleg und die Psychologin. Und natürlich meine Mutter und mein Opa. An manchen Tagen fragte ich mich, warum Dad nicht seine Freunde um Gras bat, aber ich traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Immerhin hatte ich als Tochter jetzt endlich eine Aufgabe. Ich kramte also die Blättchen, Filter und den Fünfziger Gras aus meinem Rucksack und sah Dad dabei zu, wie er sich einen Joint drehte, Inside-Out.


Auch bei VICE: Die Currywurst als Berliner Institution


An diesem Tag trug mein Vater ein weißes Hemd und einen Brillanten im Ohr, und er sah nicht aus wie jemand, der bald sterben würde, aber ich wusste da schon, dass es so einfach nicht war. Natürlich fragte er mich nicht, wie viel Geld ich von ihm bekomme, aber das war jetzt auch schon egal. Wir waren schon so lange in einer Schieflage, dass ich keine komplette Umkehr mehr erwartete.

Er erzählte, dass der Alte gestern da gewesen sei und wieder nur rumgeschrien habe. Er machte Opa Dudu nach, seinen Befehlston und den Stechschritt, und wir lachten lange. Der Laden laufe schlecht, sagte mein Vater. Vielleicht gehe der Alte pleite. Es klang nicht sonderlich traurig. Um Geld hatte sich mein Vater nie geschert, aber das ist auch einfacher, wenn man mit welchem aufwächst.

Die Psychologin sagte immer, ich solle versuchen, allen Herausforderungen des Lebens irgendetwas Positives abzugewinnen, und ich bemühte mich zwischen diesen zwei Betten, dem Fenster zum Himmel, meinem Vater und Herrn Awolowo etwas zu finden, an das man glauben konnte. Und es gab auch was: Das Beste an Zimmer 69 war, dass mein Vater nicht mehr davonlaufen konnte. Er war kurz vor seinem Tod endlich immer da, wo man ihn erwartete. In diesem Zimmer.

Mein Vater war ein Fluchtwesen. Im Zweifel rannte er davon. Am Tag meiner Taufe sagte er allen, sie sollten schon mal vorgehen, er hätte noch was vergessen. Er war in sein Auto gestiegen und zum Flughafen gefahren, um nach Pakistan zu kommen. Vorher hatte er noch unser Familienkonto leergeräumt. Als meine Mutter ihn einen Monat später fragte, was das war, antwortete er, wir sollten froh sein, dass er überhaupt noch lebe. Als sie fragte, warum, erzählte er eine wirre Geschichte, an deren Eckpunkten er mehrmals nur knapp dem Tod entkam. Zu meiner Einschulung war mein Vater spät dran und musste das letzte Stück trampen, weil er sich mit seinem Rückflug vertan hatte. Als er in die Schule rannte, trug er auf dem Rücken einen Seesack, dazu eine kurze Hose und Flip-Flops. In der Hand hielt er eine matschige Mango, die er stolz meiner Mutter überreichte, warum, verstand niemand. Mir selbst hatte er eine kleine Pfeife mitgebracht. Es gab Jahre, in denen verloren wir uns ganz. Nur manchmal schrieb er eine seiner hastigen Karten auf dünnem Papier.

Dad stellte sich ans Fenster, um den Feuermelder auszutricksen. Die Beatmungsmaschine von Herrn Awolowo brummte, und er selbst gab die schlimmsten Geräusche von sich, die ich je gehört habe. Es waren Sterbensgeräusche, letzte Laute. Mein Vater winkte ab. Er tat immer so, als gehöre er nicht zu den anderen Patienten. So, als wäre er nur durch eine Verwechslung hier gelandet oder durch einen unglücklichen Zufall.

Dann nahm er den ersten Zug. Ich hatte MTV eingeschaltet, damit man die Gurgelgeräusche von Herrn Awolowo nicht mehr so deutlich hörte. Und auch, weil MTV etwas war, worauf man sich Anfang der nuller Jahre noch verlassen konnte. Über den Bildschirm tanzten Destiny’s Child an einem Strand und sangen I’m a survivor.

Bin ich auch, sagte mein Vater da. Ein Survivor. Ich sah erst ihn an und dann die junge Beyoncé, und ich nickte, dabei konnte ich zwischen den beiden beim besten Willen kaum Gemeinsamkeiten feststellen.

Tagsüber, erzählte mein Vater, komme immer eine große afrikanische Familie in bunten Gewändern, stelle sich um das Bett von Herrn Awolowo und singe. Mein Vater konnte nicht verstehen, was sie sangen, aber es hörte sich schön an. Vielleicht, vermutete er, ist Herr Awolowo ein Häuptling. Es gab ja mal einen Kfz-Meister aus Afrika, der in Ludwigshafen Autos repariert hat, aber in Wirklichkeit ein ghanaischer Häuptling war. Und natürlich war auch das eine dieser Geschichten, die mein Vater liebte. Einmal schaute er auf Herrn Awolowo und sagte: Afrika, Marlene, das muss ich auch unbedingt noch machen. Dann hat er wieder von Indien erzählt und einem Mann, der über Scherben laufen konnte, ohne dabei das Gesicht zu verziehen. Und von einem Bettler ohne Beine, den zwei Affen durch die Straße getragen haben. Und ich habe ihm beim Rauchen und Reden zugesehen, wie ich ihm eben immer nur zugesehen habe.

Außer ihm und dem Afrikaner waren nur Junkies auf der Station und ein homosexueller Künstler, und das ist kein Klischee, sondern wahr. Und deshalb wollte er auch nie mit mir in die Stations-Cafeteria, weil er der Meinung war, der Kaffee dort sei zu dünn und der Kuchen schmecke nach Verwesung.

Weißt du, Marlene, was ich gerne machen würde? Ich würde jetzt gerne mit dir in die Stadt gehen und eine Currywurst essen! Ich zeigte auf den Morphiumtropf, er zuckte mit den Achseln und sagte: Den kann man schließlich schieben.

Zwei Hände drehen einen Joint

Wir sind dann mit dem Tropf vorbei an Herrn Awolowo, raus auf den Flur, der nach Klorix und menschlichem Muff roch, rein in einen dieser riesigen metallenen Fahrstühle und bis nach unten ins Foyer, durch die Schiebetür, und draußen schien tatsächlich die Sonne, und er hat einen Moment gewartet und den Kopf in den Nacken gelegt, sein Sonnenritual. Dann sind wir zügig weiter, bloß weg von diesem kranken Klotz. Ich konnte ihn ja verstehen.

Als ich gefragt habe, ob er eigentlich einfach so raus darf, antwortete er: Aber sicher! Dürfen darf man alles.

Wir sind dann in die Innenstadt, die Räder seines Tropfes ratterten über den Asphalt, und das machte Krach wie fünf billige Rollkoffer.

An der Currywurstbude gab es noch Platz für genau zwei, ein kleiner Tisch ganz am Rand in der Sonne, und das hat gut gepasst. Dad hat ein großes Bier und eine Currywurst extrascharf bestellt und ich eine Currywurst normal, und mir fiel mal wieder auf, wie schnell man sich neben meinem Vater durchschnittlich fühlen konnte.

Das ist das Leben, hat er gesagt und auf den Brunnen gegenüber geguckt, in dem kleine Kinder standen und gespielt haben, und ich habe wieder genickt, weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Und vielleicht auch, weil ich es mir anders vorgestellt hatte, das Leben. Nicht wie eine Innenstadtpassage in Dortmund, mit Blick auf einen dreckigen Brunnen, in den kleine Kinder pissen.

Wir haben ziemlich lange in der Sonne gesessen und uns diesen Brunnen und die vorbeiziehenden Passanten angeschaut und uns über eine Frau gewundert, die eine Katze an der Leine mit sich führte. Dann hat er noch ein großes Bier getrunken und geraucht, und ich wollte nicht, dass er ein weiteres Bier bestellt, weil er dazu noch einen Joint aufgedreht hat, Inside-Out, deshalb habe ich gesagt: Komm, wir gehen zurück.

Ich habe bezahlt, und wir sind in eine kleine Gasse abgebogen. In der Gasse standen Menschen vor einer verglasten Ladenfront in Grüppchen herum, und wir sind beinahe an ihnen vorbeigerattert.

Da können wir ja auch eben noch mal rein, hat mein Vater gesagt und sich den Joint angezündet. Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, aber er hat sich einfach durch die Menschen geschoben, rein in den Laden, der eine Galerie war, die gerade eröffnet wurde. Ein Kellner reichte uns Sekt, den ich im Gegensatz zu meinem Vater ablehnte. Um uns schlich ein Fotograf herum, und offenbar waren eine Heranwachsende mit Augenringen und einem tiefhängenden Eastpak-Rucksack und ein Mann am Morphiumtropf, der einen Joint raucht, zusammen auf einer Kunstausstellung ausnahmsweise mal keine Opfer. Der Fotograf hat uns prüfend von der Seite angesehen und dann gefragt, ob sich mein Vater mit seinem Tropf vor eines der Bilder schieben könnte. Mich positionierte er daneben und sagte, ich solle gelangweilt gucken. Lachende Menschen könne er nicht gebrauchen, denn Lachen, das passe nicht zu seiner Fotokunst. Auf dem Bild hinter uns explodierte ein Penis. Das Bild hieß Freudsche Versprecher in prähistorischen Zwischenwelten. Es hat dreimal geblitzt, dann ist der Fotograf weitergehuscht. Der Kunstmarkt erschien mir in diesem Moment noch kranker als mein Vater. Ist doch ganz gut hier, Marlene, sagte der. Schau mal, die Bilder, da fällt dir doch der Kitt aus der Backe. Ich mein, Marlene, ich weiß, wo es Zeug gibt, wenn du das nimmst, dann malst du auch so ein Bild. Dann wirst du auch Millionärin. Dann fliegen wir in die USA, die haben eine Scheißpolitik, aber ganz gute Aidsmedikamente. Guck mal, da vorn gibt es Austern!

Dann rollte er davon, und die Morphiuminfusion schaukelte am Tropf wie eine gehisste Flagge. Ich blieb stehen und atmete tief. Die Menschen schubsten mich im Vorbeigehen, sie rochen nach teurem Parfum. Sie sahen nicht, dass hier zwei Menschen am Ertrinken waren, und auch nicht, dass ich keine Austern essen wollte. Das Einzige, was ich wirklich wollte, war, dass mein Idiotenvater nicht starb. Ich brauchte den Idiotenvater nämlich noch, aber das konnte ich ihm nicht sagen, weil mein Vater gerade mit einer Auster in der Hand und einem Joint im Mundwinkel und mitsamt seinem Tropf und den Schläuchen und dem silbernen Gestell nach hinten kippte. Ich fing an zu rennen, bevor es schepperte, eine Frau mit rotem Kleid schrie auf. Mein Vater selbst bekam den Aufprall gar nicht mehr mit.

Wir fuhren mit dem Rettungswagen und Blaulicht zurück ins Krankenhaus, und als er aufwachte, meinte er: Ist doch gut, dann müssen wir nicht laufen. Der Notarzt gab ihm Spritzen und sagte, er bräuchte auf dem Zimmer einen neuen Tropf. Zu mir sagte der Notarzt:

– “Für einen Schwerkranken riecht Ihr Vater aber ziemlich stark nach Alkohol, Zigaretten und …”

“Austern”, ergänzte ich.

– “Gibt es denn niemanden, der auf ihn aufpasst?” “Nein”, sagte ich.

– “Aha”, sagte der Notarzt.

Am Eingang der Notaufnahme kam uns eine Krankenschwester entgegen und schnaubte, als sie meinen Vater in einen Rollstuhl setzte und mich bat, ihn wieder auf sein Zimmer zu schieben.

– “Sie haben keinen Ausgang”, sagte die Krankenschwester. “Und Sie haben schon wieder im Zimmer geraucht!”

Mein Vater verdrehte die Augen und murmelte Wörter, von denen ich vermeiden wollte, dass die Krankenschwester sie zu hören bekam. Auch deshalb schob ich den Rollstuhl schneller, einfach, um der Krankenschwester zu entkommen. Ich lief mit meinem Vater vor ihr davon, und ich erinnere mich bis heute gerne an das Rollstuhlrennen zurück, weil es einer der wenigen Momente war, in denen ich mit meinem Vater im selben Team spielte. Die Krankenschwester verfolgte uns bis vor Zimmer 69 mit ihren Vorwürfen. Wahrscheinlich hatte sie recht mit allem, aber ganz ehrlich, wen interessierte das hier noch, es war doch eh schon alles vorbei. Also fast.

Ich blieb vor der Zimmertür stehen, drehte mich um und sah in ihr Gesicht. Es war ein Gesicht, dem man die Schichtdienste der letzten Jahrzehnte ablesen konnte. Die körperliche Arbeit, die Anstrengung. Ich hätte gerne gewusst, was die Krankenschwester in meinem Gesicht sah.

In diesem Moment hörten wir ihn. Diesen elendig langen Ton, den man sonst nur aus Filmen kennt.

– “Herr Awolowo”, schrie die Krankenschwester und stürzte an uns vorbei in den Raum. Aber es war zu spät.

Nora Gantenbrinks Roman Dad erscheint am 18. Februar bei Rowohlt.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.