Früher war alles irgendwie einfacher. Da gab es Vater, Mutter und Kinder, zwei Paar Großeltern und Schluss. Damals hieß man mit Nachnamen wie seine Eltern und man konnte eine klare Antwort darauf geben, wie viele Geschwister man genau hat. Damals konnte auch Weihnachten noch an einem Tag gefeiert werden, weil ein gewöhnliches Wohnzimmer genug Fassungsvermögen für die herkömmliche Familie hatte. Tja. So war das früher.
Heute stehen Mama und ich Anfang Dezember vor einer großen graphischen Wandskizze, um eine familiäre Weihnachtskrise zu vermeiden. Schon bei einer Art diplomatischen Konferenz im November wurde festgelegt, was jedes Jahr festgelegt wird: dass alle drei Tage Fressgelage bei Mama zu Hause stattfinden, weil sie die einzige ist, die kochen kann. Die Problemstellung ist allerdings: Wie kriegen wir es hin, dass jeder zu Weihnachten mindestens einmal mit der Familie gegessen hat und jeder jeden (den er sehen wollte) einmal sieht?
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Ich habe, je nachdem wie man zählt, entweder gar keine oder drei oder vier Brüder und Schwestern. Wir sind die Kinder von insgesamt sieben verschiedenen Elternteilen, die mittlerweile alle neue Lebensgefährten haben. Für meine Schwestern heißt das, dass sie am 24. Dezember zu zwei Weihnachtsessen müssen—erst bei ihrer Mutter, dann bei ihrem Vater, der nun mein Stiefvater ist.
Mein Bruder und ich müssen nicht zu unseren Vätern, können also gleich zu Mama. Allerdings müssen wir beide meist bis zum 24. Dezember arbeiten. Es kommen also alle spätabends komplett abgekämpft und erledigt bei Mama an, kraulen den Hund und schlafen sofort auf dem Sofa ein. Parallel feiern die Mutter meiner Schwestern und deren neuer Mann mit dessen Tochter aus erster Ehe weiter und auch mein Vater mit seiner Lebensgefährtin und deren Sohn, sowie der Vater meines Bruders mit seiner anderen Tochter und deren Mutter und deren Sohn aus zweiter Ehe und so weiter.
Weckt Mama uns dann zum Essen, kommt meistens noch der „Fraunz”, der eigentlich von niemandem von uns Vater und Stiefvater ist, aber der erste Freund meiner Mutter war, der immer mal wieder bei uns gewohnt hat, wenn es im Leben nicht so lief und bei jedem unserer Umzüge hilft und überhaupt immer da ist. Auch er feiert vorher erst mit seinen Kindern und dann mit seiner neuen Lebensgefährtin und deren Kindern und kommt dann spätabends zu uns, weil er halt dazugehört. Als Mama und ich einmal vor Weihnachten einkaufen gingen, sagte sie gedankenverloren zu mir: „Wir brauchen noch mehr Feta”, woraufhin ich ermattet fragte: „Findest du nicht, wir haben schon genug Väter?”
Das war dann aber nur die Generalprobe für den 25. Dezember, wenn die gesamte Familie meiner Mutter anrückt. Onkel Georg kommt mit seiner Lebensgefährtin und deren Eltern, weil die extra aus Ungarn kommen und auch irgendwohin müssen. Die sitzen dann meist schweigend da, weil sie den weinschwangeren Dialekt der restlichen Familie nicht verstehen. Onkel Bert kommt mit seiner Frau und den Kindern. Die Frau ist aus Norddeutschland, kann aber schon ganz gut Wein-Wienerisch. Nur die Kinder sagen noch „Papas Glas” statt „in Papa sei Glasl”.
Es gilt tunlichst, die Themen Geld, Arbeit und Politik zu vermeiden, ja großräumig zu umschiffen, damit der Weihnachtsfriede nicht zwischen den Fraktionen zerrieben wird. Früher gab es noch den Erschwernis-Faktor Opa, der 160 Kilo wog, von zwei Personen vom Klositz hochgehievt werden musste und eigentlich schon um 11 zu Mittag essen wollte, damit er danach die Sportzeitung lesend wiederum am Sofa einschlafen konnte. Dieses Jahr macht er das im Himmel. Am Ende des Tages packt die Tante die raunzenden und von oben bis unten mit Hundehaaren panierten Kinder ein und alle fahren wieder ab. Dann kommt der Fraunz und isst die Reste.
Am 26. kommt schließlich die Familie meines Stiefvaters, wieder mit meinen Schwestern und deren Lebensgefährten, die den Tag davor nutzten, um mit ihren anderen Familien zu feiern. Dazu die Mutter des Stiefvaters, sein Bruder und dessen Frau, seine Nichte und deren Mann und das neue Baby.
Das Backrohr ist nicht groß genug für zwei Braten. Ein Braten ist aber nicht genug für vierzehn Leute. Einer ist Vegetarier, einer Veganer, eine Tante ist allergisch auf Salz.
Der Onkel redet bei Tisch am liebsten über Tierdokumentationen, in denen Löwen irgendwelche Antilopen-Gedärme rausreißen, die Oma erzählt von der Freundin der Schwester ihrer Nachbarin und was die beim Friseur erlebt hat und möchte unbedingt jedem etwas schenken. Da wir sie aber nur einmal im Jahr sehen, bekommen wir meist interessante Tombola-Gewinne, die wir uns dann jahrelang nicht wegzuwerfen trauen.
Wir reden nicht über Politik, nicht über Ausländer, nicht über Geld. Das resultiert dann meistens darin, dass ich mich stundenlang verteidigen muss, weil ich „noch immer nicht” bei der Kronen Zeitung arbeite und mein Bruder zum tausendsten Mal erklären muss, warum er kein Fleisch isst. Während alle auf dem Sofa eindösen, lässt sich der Fraunz mit seinem Zweitschlüssel rein und bedient sich an den Resten.
Kompliziert ist auch das Menü. Das Backrohr ist nicht groß genug für zwei Braten. Ein Braten ist aber nicht genug für vierzehn Leute. Einer ist Vegetarier, einer Veganer, eine Tante ist allergisch auf Salz, meine Schwester will keine Schwammerl und Paradeiser. Der syrische Freund feiert zwar mit, obwohl er Moslem ist, isst aber natürlich kein Schwein. OK, also dann eher Geflügel, und zwar glückliches, bitte.
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Andernfalls würden wir eine Wiederholung der Bio-Gütesiegel-Debatte riskieren, die 2010 eskalierte, weil der eine Onkel Bio-Tester fürs Ministerium ist und der andere das alles für Humbug hält. Damit keine Katastrophen passieren, schreibt meine Mutter jedes Jahr Ende November den Menüplan für die gesamten drei Tage und mailt ihn an die ganze Familie, um etwaige Vetos einzuholen. Unmittelbar danach beschwert sich mein Onkel, dass er das Menü nicht wissen wollte, weil er doch davon überrascht werden will.
An dieser Stelle sind wir endlich fertig und nur meine Schwestern müssen noch einen Tag 4 anhängen, an dem die philippinische Großfamilie ihrer Mutter in einem Restaurant feiert, weil es niemandem mehr zugemutet werden kann, diese Menschenmenge zu sich einladen zu müssen.
Ich verdächtige meine Mutter, vor Jahren von einem radioaktiven Tier gebissen worden zu sein und seitdem über Superkräfte zu verfügen. Ich werde ihr demnächst einen Schrein bauen, denn ich verstehe weder, wieso sie sich diesen Wahnsinn jedes Jahr aufs Neue antut, noch, wie sie das alles auf die Reihe bekommt. Nur einmal vor einigen Jahren scheint sie sich diese Frage auch gestellt zu haben. Seitdem haben wir neue Teller.