Teile Tier

Foto: Simon Lehner

Aus der Fiction Issue 2015. Diese Szene aus Cornelia Travniceks kommendem Roman handelt von einer Figur, die aus dem Buch gestrichen wurde.

„Liebe deine Nahrung wie dich selbst”, pflegte Margarethes Großvater zu sagen, wenn er mit seinen Händen Kartoffeln liebkoste, mit seiner rissig trockenen Haut den Schmutz davon abrieb. Wurden die Kartoffeln danach gekocht gegessen, mit Butter und Salz, Gott erhalt’s, dachte Margarethe mit jedem Bissen an diese Hände, Schaufeln gleich—der Großvater ein monströser Maulwurf, der wühlend der Ackererde Nahrung abrang.

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Nun, in der Fleischerei sieht Margarethe, wohl bewusst, dass das nicht geht, sich selbst von außen zu, als wären die Szenen ihrer täglichen Arbeit eine Nahtoderfahrung:

Wie sie dort steht, in ihrem fein rot-weiß liniertem Kostüm, dem Nadelstreif der Fleischwarenfachverkäuferinnen, darüber die weiße Schürze; wie sie mit Messern hantiert und wieder und wieder die ohnehin auffallend kurzen Finger gefährlich nahe an der rotierenden Klinge der Wurstschneidemaschine vorbeizieht; wie sie mit diesen Fingern, so viele wie es geht so weit wie möglich abgespreizt, die Wurstrollen anfasst, die Schinkenblöcke, das offen herumliegende Fleisch, das einem so schwer und glänzend in den Händen hängt; wie die älteren Damen, die hier schon eingekauft hatten, als die an ihren Armen zerrenden Kinder noch die eigenen waren und nicht die Enkel, geduldig vor der Theke warten; wie die Damen ihre Einkaufstaschen seit Neuestem an einer Hand auf Rollen hinter sich herziehen, eine jede wie abflugbereit; wie die Kinder an diesen Damen hängen und weniger von eigener Kraft aufrecht stehen bleiben können als die Einkaufstrolleys, ihre Hintern wie magnetisch vom Fußboden der Fleischerei angezogen, oder ihre Köpfe von den Oberschenkeln der ihnen angehörigen Dame; und sie, Margarethe, wie sie mit den Fingerspitzen nach den frisch aufgeschnittenen Wursträdern greift, ein einzelnes vom Stapel ablöst und einem der Kinder über die Glastheke reicht;

Sie selbst war ein seltsames Kind gewesen. Sommerbesprosst, aber irgendwie zu wenig. Engelshaar, jedoch widerspenstiges. Große farblose Augen, wie aus Wasser, wie ganz Glaskörper ohne Hülle, die Flüssigkeit rein durch Willenskraft zusammengehalten. Margarethes Lachen schien von Anfang an zu allem bestimmt, nur nicht, um echte Erheiterung auszudrücken. Sie lachte verhalten an beinahe jedem Ende eines Satzes, lachte als Antwort auf ihr unangenehme Fragen, begleitete damit nervöse Bemerkungen und unterlegte unsichere Kommentare. Und wurde einmal in der Gruppe gelacht, so war ihre Heiterkeitsbekundung die letzte, die überblieb, einsam, ein wenig zu leise und fast als hätte sie vergessen, dass sie auch noch dabei war.

Wenn das Kind Margarethe um ihren Großvater herumgesprungen war, der sich auf dem Weg zum Stall befand, rief dieser der Großmutter Margarethes zu, dass das Kind schon wieder den Sautanz tanze, dabei werde doch heute gar nicht abgestochen.

Margarethe liebte die Ferkel und die jungen Schweine, die sich als Gruppe wie eine Welle fortbewegten, vor und zurück, Neugierde und Angst in ständigem Widerstreit. Jedes Schwein bekam einen Namen, mit dem es zärtlich gerufen wurde. In anderen Familien begutachteten die Mütter seufzend die sich füllenden Hasenverschläge, aus denen nur mit äußerster Vorsicht während der Abwesenheit des Kindes und unter Vorbereitung geeigneter Ausreden etwas entfernt werden durfte. Sobald ein Klopfer oder Schnüffelnach einem angeblich erfolgreichen Ausbruchsversuch nicht wiederkam, gab es Backhuhn, bei dem die Kinder keine Flügel bekommen konnten, weil „dieses Huhn eben einfach keine Flügel hat, darum, verdammt nochmal”.In dem Haushalt, in dem Margarethe aufwuchs, hatte die Regel, dass nichts gegessen wird, was einen Namen hat, keine Gültigkeit. Selbst der Weihnachtskarpfen, der seinen Fischteichgeschmack in der Badewanne ausschwimmen durfte, kam in den Genuss von Streicheleinheiten und eines Rufnamens.

In der der vierten Klasse Gymnasium, als es einmal darum ging, ein Stimmungsbild zu schreiben, eine einprägsame, nachfühlbare Szene, betonte die Lehrerin, Gerüche wären von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, Duft und Gestank könnten die Seele einer Erzählung bilden—besonders die mit der eigenen Kindheit verbunden olfaktorischen Erinnerungen.

„Wonach riecht eure Kindheit?”, wollte die Lehrerin von ihrer Klasse wissen, und hatte auf Margarethe gezeigt, die wegen ihrer leichten Kurzsichtigkeit, bei der sich das Tragen einer Brille nicht richtig bezahlt gemacht hätte, jedes Jahr in der ersten Reihe sitzen musste.

„Nach Blut”, hatte Margarethe geantwortet, ohne es zu wissen in einer Tonlage, die in diversen Abenteuerromanen gerne als Grabesstimme bezeichnet wird, was zur Folge hatte, dass die Bewegungen der Lehrerin einen Moment lang einfroren. Doch diese erholte sich gleich wieder davon, die Seltsamkeit des Augenblicks ging im Geschrei der Klasse unter, die nun wiederholt zur Ordnung gerufen werden musste, wodurch die gegebene Antwort schnell vergessen werden konnte.

Nachdem ihreEltern bei einem Arbeitsunfall am Hof ums Leben gekommen waren und die Großeltern wieder die Wirtschaft und die Fleischerei übernehmen mussten, rann ein dermaßen konstanter Strom an Tränen aus Margarethes Augen, dass jeden, der sie kannte und das sah, heimlich die Angst befiel, sie könnte sich als erster Mensch tatsächlich die Augen ausweinen, es könnte passieren und ihr die Kraft abhandenkommen, die das alles zusammenhielt und sie stünde auf einmal mit leeren Augenhöhlen da.

Und als sie kurz danach ihren Freunden erzählte, dass sie von nun an nicht mehr in die gleiche Schule gehen würden, weil sie in Zukunft die Fleischerei übernehmen und die dafür notwendige Lehre absolvieren würde, lachte sie dabei, wie es eben ihre Art war, trocken und traurig.Genau sieben Jahre war das nun her.

Margarethe sieht weiter, wie das Kind noch schwerer wird an der Hand seiner Großmutter und diese die andere vom Griff des Trolleys lösen muss, um selbst das Wurstrad in Empfang zu nehmen, damit dem unentschlossen auf und ab wippendem Kind vor der Nase herum zu wedeln, als wolle sie es auffordern ein Kunststück vorzuführen; wie das Kind, so angelockt, die Wurst doch selbst in die Hand nimmt, die Scheibe dabei zusammenknüllt, sich die Wurst halb in den Mund stopft, so dass der heraushängende Teil das Gesicht poliert, gleich wie die Speckschwarte ein Osterei; und wie das Kind die Wurst gleich darauf wieder ganz hervorholt, einen dicken Faden aus Speichel ziehend, einmal über sein Gesicht wischt, das Fett und die Spucke ineinander verreibt, um alles zusammen letztendlich auf Befehl der Dame zurück in den Mund zu schieben … wie das Kind kaut, die Lippen geöffnet, für alle gut sichtbar—und wie sie, Margarethe, der es kühl an der Halsschlagader entlang läuft, deren Blick trotzdem die dargebotene Szene abtastet, das erbetene Gulaschfleisch in ihren Gummihandschuhflächen wiegt, einen Blick durch die sich über die ganze Front erstreckenden Fenster nach draußen schweifen lässt, über die Straße, bis an die Fassade des Supermarktes, wo sie, von ihrem Standpunkt aus versteckt hinter Obstregalen, die Käseabteilung der Feinkosttheke weiß;wie das Kind in der Zwischenzeit den Wurstbrei beim Kauen zur Hälfte auf den Boden hat fallen lassen, in der Art, wie einer Mischmaschine der Mörtel über den Rand läuft, auf die schwärzlich polierten Steinfließen, die Wurst dort mit dem Schuh verteilt; wie, wenn Margarethe aus ihrem üblichen Traum von käsigen Delikatessen erwacht, Großmutter und Enkel die Fleischerei längst verlassen haben, abgegangen sind von der Bühne, zugunsten einer neuen Besetzung; und wie sich am Boden eine Trolleyspur durch den Wurstschleim zieht, bis hin zur gläsernen Tür.

Als sie alleine ist, lässt sie noch einmal ihr Werkzeug auf ein Teil Tier niederfallen, aber der Ehrgeiz ist schon lange aus ihrem Hackbeilschwung gewichen, so wie die Eleganz aus ihren Bewegungen an der Wurstschneidemaschine,und wie die Hingabe aus ihren Bemühungen beim Dekorieren der Ware mit Petersiliensträußchen. Der Ekel vor den in der Kühlvitrine drapierten Stücken kriecht Margarethe kalt und kälter die Blutbahnen entlang, machte sie langsam, nahezu bewegungsunfähig.